40

 

Delorme schob die Akte auf dem Tisch zu Cardinal hinüber. Ihre braunen Augen, diese ernsten, braunen Augen, verrieten nichts.

Cardinal schlug die Akte auf. »O Gott, nein«, stieß er hervor.

»Es wird schlimmer«, sagte Delorme.

Falls Chouinard versuchte, Cardinal von seinem Kummer abzulenken, indem er ihn Delorme zuteilte, hätte er dafür keinen geeigneteren Fall aussuchen können. Cardinal hatte während seiner langjährigen Arbeit als Polizist schon schreckliche Dinge erlebt – widerliche, brutale Dinge –, aber er hatte noch nie etwas zu Gesicht bekommen, was ihn so schockiert hatte wie die Bilder, die jetzt vor ihm auf dem Tisch lagen.

Er schüttelte den Kopf, als könnte er damit den Schmutz abschütteln. »Auf einigen dieser Aufnahmen ist sie höchstens sieben.«

»Ich weiß«, sagte Delorme, während sie gedankenverloren ihren Daumennagel betrachtete, so als hätte sie tagtäglich mit dieser Art von männlicher Abartigkeit zu tun. »Und es geht über Jahre hinweg so weiter. Mindestens bis sie dreizehn ist.«

Auf den späteren Bildern waren keine Tränen mehr zu sehen. Meist war das Gesicht des Mädchens so ausdruckslos wie bei einem Schaf, das gerade geschoren wird. Vielleicht schaltete sie innerlich ab, versuchte, im Kopf Rechenaufgaben zu lösen, sich an die Namen von Flüssen zu erinnern, an irgendetwas zu denken, was sie von dem ablenkte, was dieser Mann – zweifellos ihr Vater oder Stiefvater – ihr antat und nie wieder würde gutmachen können.

»Ich weiß ja nicht, wie das bei dir ist«, sagte Delorme, »aber für mich war mein erster Kuss einer der schönsten Augenblicke in meinem Leben. Donny Leroux. Wir waren so jung, nicht mal Teenager. Ich glaube, ich war zwölf, vielleicht auch erst elf, und er war im selben Alter. Wir waren im Gästehaus seiner Familie. Die Leroux’ wohnten in Trout Lake auf der Water Road, und sie hatten ein winziges Gästehaus am Ufer. Eigentlich war es nur eine kleine Hütte mit zwei Etagenbetten.

Ich war mit meiner Freundin Michelle Godin da, wer der andere Junge war, weiß ich gar nicht mehr. Irgendwann hat jemand eine Flasche geholt, und wir haben angefangen, Flaschendrehen zu spielen. Ich hatte schon mal davon gehört, aber ich hatte es noch nie gespielt. Und das Komische war, ich hatte mir noch nie vorgestellt, wie es sein würde, geküsst zu werden, nicht so richtig, meine ich. Es war nichts, wonach ich mich sehnte oder worüber ich mir den Kopf zerbrochen hätte. Wahrscheinlich war ich erst elf, denn später habe ich viel darüber nachgedacht.

Jedenfalls hat Donny mich dann geküsst. Mit geschlossenen Lippen und nur eine Sekunde lang, aber ich werde es nie vergessen. Das ist jetzt ungefähr fünfundzwanzig Jahre her, und ich erinnere mich noch genau, wie es sich angefühlt hat. Es war, als würde mein ganzer Körper elektrisiert bis in die Zehen und Fingerspitzen. Als würde ich gekitzelt, nur von innen, irgendwie.«

»Klingt wie echte Liebe«, sagte Cardinal.

»O nein. Ich hab nachher ganz oft daran gedacht, aber mehr wollte ich nicht mit Donny zu tun haben. Ich hatte noch keine Vorstellung davon, mit einem Jungen zu gehen, aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich daran interessiert gewesen wäre, Donny besser kennenzulernen oder mehr Zeit mit ihm zu verbringen. Es war, wie wenn man zum ersten Mal das Nordlicht sieht. Man erinnert sich daran, man vergisst es nie wieder, aber man richtet sein Leben nicht nach dem Erlebnis aus.«

»Vielleicht hat der Junge ja etwas ganz anderes empfunden.«

Delorme zuckte die Achseln. »Wer weiß, ob es für ihn auch das erste Mal war? Aber was ich sagen wollte, war, dass unser geheimnisvolles Mädchen diese Erfahrung niemals machen wird. Der Mann auf den Fotos hat sie darum betrogen. Wenn sie zum ersten Mal einen Jungen in ihrem Alter küsst, wird es etwas ganz anderes für sie sein.«

Und das ist wahrscheinlich noch das geringste Problem, dachte Cardinal, während er die restlichen Aufnahmen durchging.

»Die Kollegen aus Toronto haben gute Arbeit geleistet.« Delorme zeigte auf eins der Fotos, das, wie die einfache Symmetrie des Betts mit den beiden Nachtschränkchen nahelegte, in einem Hotelzimmer aufgenommen worden war. »Sie haben rausgefunden, dass diese Aufnahme in dem Motel Traveller’s Rest gemacht wurde, das unmittelbar nördlich von Toronto liegt.«

»Das kenn ich nicht«, sagte Cardinal.

»Ich auch nicht. Aber wer kleine Kinder hat, wird es kennen. Es ist das dem Freizeitpark WonderWorld am nächsten gelegene preiswerte Motel.«

»Wie reizend«, sagte Cardinal. »Er macht mit ihr einen tollen Ausflug, und dann missbraucht er sie. Und wie haben die Kollegen die Verbindung zu Algonquin Bay hergestellt? Über das Flugzeug?«

»Ja. Ich habe mit dem Besitzer des Flugzeugs gesprochen, einem Mann namens Frank Rowley. Kommt mir nicht vor wie unser Kinderschänder. Erstens hat er eine Glatze. Er ist verheiratet und hat eine Tochter, und er ist nicht nur Hobbyflieger, sondern auch Hobbygitarrist. Er hat mir eine Menge über die Leute am Jachthafen erzählt, aber er hat dort noch nie was Verdächtiges beobachtet.«

Die Tür ging auf, und Mary Flower erschien mit einem wattierten Umschlag.

»Sie wollten unverzüglich informiert werden, falls etwas für Sie abgegeben wird?«, sagte sie zu Cardinal. »Das ist soeben eingetroffen.«

»Noch mehr Material aus Toronto«, sagte Delorme. »Die Jungs arbeiten hart an diesem Fall. Die würden was darum geben, wenn es uns gelänge, den Kerl zu schnappen.«

Delorme öffnete den Umschlag und nahm die Fotos heraus. »Diesmal kein Hotel. Und auch kein Boot.«

»Sieht so aus, als wären sie alle im selben Haus aufgenommen«, meinte Cardinal. »Wohnzimmer, Küche, Schlafzimmer …«

»Ja. Leider passt nichts davon zu den Häusern, in denen ich gewesen bin. Da, wo es möglich war, hab ich einen kurzen Blick in andere Zimmer geworfen, aber nirgendwo sah es so aus wie auf den Bildern. Zum Beispiel gab es in keiner Küche blaue Fliesen.«

»Was ist mit den Vorhängen?« Cardinal zog ein Foto aus dem Stapel, das eine Szene in einem Wohnzimmer zeigte. Das kleine Mädchen auf dem Sofa. Hinter ihr ein Stück von einem blauen Vorhang mit eingewebtem Goldmuster.

»Die waren auf den früheren Bildern nicht zu sehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es in keinem der Häuser solche Vorhänge gab. Aber Vorhänge lassen sich natürlich jederzeit auswechseln.«

Cardinal betrachtete die restlichen Fotos. Der Anblick dieser Bilder legte sich wie eine zusätzliche Schicht Schwermut über seinen persönlichen Kummer. Das arme Mädchen. Er zweifelte nicht daran, dass es sich bei dem Mann auf den Fotos um den Vater oder Stiefvater der Kleinen handelte – auf den Aufnahmen, bei denen es nicht um Sex ging, lag in ihrem Gesicht so viel Freude, so viel Vertrauen. Wie sollte ein Mensch, der so misshandelt wurde, jemals wieder Vertrauen entwickeln können?

»Am besten, wir versuchen, die Fotos anhand des Alters der Kleinen in eine chronologische Reihenfolge zu bringen«, schlug Delorme vor. »Du nimmst dir diese vor und ich die anderen.«

Cardinal legte die Fotos eins nach dem anderen vor sich auf den Tisch. Mit jedem Bild wurde ihm das Herz schwerer. Abgesehen davon, dass er sich nicht vorstellen konnte, wie ein Mann ein lüsternes Verlangen nach einem Kind haben konnte, das nicht einmal annähernd die Pubertät erreicht hatte, begriff er einfach nicht, wie jemand es fertigbrachte, in solche hoffnungsvollen Augen zu blicken und dann die Zukunft dieses Kindes brutal zu zerstören. Wie konnte man diese kleine Hand halten, wie konnte man so ein kleines Mädchen auf den Schoß nehmen und es dann missbrauchen? Es war ihm unmöglich nachzuvollziehen, was in einem Mann vorging, der fähig war, das Vertrauen eines Kindes zu verraten.

Nach allem, was Cardinal erkennen konnte, schien der Mann etwa um die dreißig zu sein, mit fast schulterlangem, dunklem Haar. Zwar waren die Fotos sehr detailreich, aber der Mann hatte stets darauf geachtet, dass auf keinem sein ganzes Gesicht zu sehen war. Eine Augenbraue hier, ein Ohr dort, ein Teil der Nase. Es waren nur Fragmente, dennoch gewann Cardinal den Eindruck, dass der Mann einigermaßen gut aussah und ein ganz normales Sexualleben hätte haben können. Warum also ein kleines Mädchen missbrauchen, das ihm zum Schutz anbefohlen war?

Delorme hatte die früheren Fotos geholt und fügte sie denen hinzu, die auf dem Tisch aufgereiht lagen.

»Tja, auf keinem Bild sieht sie älter aus als auf dem, das auf dem Boot aufgenommen wurde«, sagte sie. »Und wenn wir davon ausgehen, dass die Aufnahme vor fünf Jahren gemacht wurde, kann das Verschiedenes bedeuten. Womöglich hatte die Kleine irgendwann die Schnauze gestrichen voll davon, diesem Kerl als Sexualobjekt zur Verfügung stehen zu müssen, und hat ihn zum Teufel gejagt. Oder sie hat jemandem davon erzählt.«

»Das bezweifle ich«, sagte Cardinal. »Ich weiß selbst nicht genau warum – vielleicht, weil auf den normalen Fotos eindeutig zu erkennen ist, dass sie den Mann liebt – aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ihn angezeigt hat. Zumindest damals nicht.«

»Ich halte es durchaus für möglich. Und das würde bedeuten, dass der Typ bereits im Gefängnis sitzt.«

»Dein Wort in Gottes Ohr …«, murmelte Cardinal.

»Was ist? Woran denkst du?«

»Ich überlege gerade, welche Schlüsse wir daraus ziehen können, dass diese Bilder fünf Jahre alt sind. Ich hab irgendwo gelesen, dass die durchschnittliche Familie alle fünf Jahre umzieht.«

»Dann wäre es ziemlich unwahrscheinlich, dass es sich bei einem der Häuser, in denen ich gewesen bin, um den Tatort handelt.« Sie zeigte auf die Fotos. »Und nicht nur das, es würde ebenfalls nahelegen, dass die Familie auseinandergebrochen ist. Das würde ich sogar für ziemlich wahrscheinlich halten, angesichts der Probleme, die der Typ hat.«

»Und angesichts seiner Gier.« Cardinal schüttelte den Kopf. »Ein Typ mit so einer Veranlagung kann eine Menge Familien zerstören.«

Mit gesenkten Köpfen und verschränkten Armen standen sie vor den Fotos wie Kriegsstrategen über den Bildern von ausgebombten Städten und rauchenden Ruinen. Es waren inzwischen so viele Fotos, dass sie fast den gesamten Konferenztisch bedeckten.

»Wenn Leute umziehen, nehmen sie ihre Möbel mit«, sagte Delorme. »Ich hoffe immer noch, irgendwann einen Stuhl, einen Tisch oder ein paar Bücher wiederzuerkennen. Irgendetwas

»Er hat ziemlich penibel darauf geachtet, nichts zu fotografieren, was sich identifizieren ließe.«

»Ja. Am liebsten macht er Nahaufnahmen.«

»Was ist mit dem Sofa auf diesem Bild hier?« Cardinal hielt ein Foto hoch, auf dem das Mädchen auf einem zweisitzigen Sofa schlief. Es war mit rotem Velours bezogen und hatte einen interessanten Holzrahmen.

»Nein. So ein Sofa hätte ich garantiert sofort wiedererkannt.«

»Und das hier?« Cardinal nahm ein Foto vom Tisch, auf dem ein Bein und eine Ecke eines Beistelltischs in modernem schwedischem Design abgebildet waren. »Dieser Tisch ist doch ziemlich markant.«

Delorme betrachtete das Foto und schüttelte den Kopf. »Die Ferriers hatten einen viel größeren Beistelltisch, und der war aus dunklerem Holz. Und bei den Rowleys war alles in einer Art Blockhüttenstil eingerichtet. Dieser Rowley ist so ein richtiger Müslityp.«

»Auf dem hier ist ein offener Kamin zu sehen«, sagte Cardinal und zeigte ihr ein weiteres Foto.

Delorme zuckte mit den Schultern. »Ich hab überhaupt keinen offenen Kamin gesehen. Und, wie du selber sagtest, wahrscheinlich sind die Leute längst umgezogen und wohnen jetzt in einem Haus ohne offenen Kamin.«

»Ja, aber vielleicht haben sie das Kaminbesteck noch. Den Schürhaken und die Schaufel aus Messing.«

»So was hab ich auch nirgendwo gesehen.«

»Ich wünschte, ich wäre mit dir in den Häusern gewesen. Vier Augen sehen mehr als zwei, und wir hätten uns aufteilen können – einer von uns hätte aufs Klo gehen können, während der andere sich in der Küche umsieht.«

Delorme reagierte nicht. Sie stand, das Kinn in die Hand gestützt, grübelnd vor dem Tisch. Sie nahm ein Foto auf, legte es wieder ab. Nahm es noch einmal. Cardinal und Delorme waren keine ständigen Partner – bei der Polizei in Algonquin Bay gab es kein Partnersystem, sondern jeder wurde je nach Bedarf einem Fall zugeordnet –, aber er hatte oft genug mit ihr zusammengearbeitet und wusste, wann hinter ihren ernsten braunen Augen eine Idee Gestalt anzunehmen begann. Dann wurde sie jedes Mal ganz still und nahm um sich herum nichts mehr wahr.

Schließlich hob sie ein zweites Foto auf und hielt die beiden Aufnahmen nebeneinander. »Sieh dir das an«, sagte sie.

Cardinal legte das Foto von dem Boot weg, das er gerade betrachtet hatte, und trat neben Delorme.

»Frank Rowley hat so einen Teppich«, sagte sie. »Irgendeinen Navajo-Webteppich oder so was.«

»Tja, ich bin kein Teppichexperte. Ich hab keine Ahnung, ob das ein teures Stück ist, von dem jemand sich nicht so leicht trennt.«

»Ich finde, er sieht ziemlich teuer aus. Überhaupt sind mir in seinem Haus die Farben aufgefallen. Kräftige Schwarz- und Blautöne. Alles in dem Haus ist aus Holz, und dieser Teppich kam wunderbar zur Geltung. Aber ich glaube nicht, dass es derselbe Teppich ist.«

»Warum denn nicht? Bloß weil dir der Typ sympathisch war?«

»Nein, sein Teppich hatte eine Flickstelle. Ich erinnere mich daran, weil ich darüber gestolpert bin. Es war eine Zickzacklinie, die sich wie eine Narbe durch das Muster zog.«

Cardinal ließ seinen Blick über die Fotos auf dem Tisch schweifen, in der Hoffnung, eines darunter zu finden, auf dem der Teppich zu sehen war. Dann entdeckte er eins. Die Vergewaltigungsszene auf dem Bild war so drastisch, dass man die Ecke des Teppichs leicht übersehen konnte. Er nahm das Foto vom Tisch.

»Eine Zickzacklinie wie diese hier?«