15
Sergeant Mary Flower setzte sich auf Delormes Schreibtisch. Das tat sie immer, wenn sie wollte, dass jemand alles fallen ließ und ihr seine ganze Aufmerksamkeit schenkte. Nervig, aber effektiv.
Delorme telefonierte gerade mit der Sekretärin des Gerichtsmediziners und erkundigte sich nach dem Verbleib seines Berichts in einem Mordfall, der in zwei Wochen vor Gericht verhandelt werden sollte. Sie legte eine Hand über die Sprechmuschel und sah Flower fragend an.
»Eine Mrs. Dorn ist draußen, und sie ist fuchsteufelswild«, sagte Flower. »Sie will Sie sprechen, warum weiß ich nicht.«
»Ich kenne ihre Tochter.«
»Gut. Die ist auch hier. Schönes T-Shirt, übrigens. Ist das von Gap?«
»Benetton. Sagen Sie ihnen, ich komme gleich.«
Delorme traf die beiden Frauen im Warteraum an. Eine Frau von Mitte fünfzig stand unter der Uhr, die Arme vor der Brust verschränkt, und klopfte mit einem Fuß auf den Boden, als zählte sie die Sekunden, in denen die Gerechtigkeit auf sich warten ließ. Ihre Tochter Shelly saß hinter ihr auf einem Stuhl. Shelly war eine lustige, rothaarige junge Frau, die Delorme aus dem Fitnessstudio kannte. Sie gingen häufig nebeneinander auf den Stepper und plauderten beim Trainieren, um sich die Zeit zu vertreiben. Delorme mochte sie, aber Shelly war verheiratet und hatte zwei kleine Kinder, und es war das erste Mal, dass sie sich außerhalb des Fitnessstudios begegneten. Shelly stand auf, als Delorme erschien.
»Hallo, Lise. Ich weiß, wir hätten uns anmelden sollen.«
»Ist schon in Ordnung«, sagte Delorme. »Das mit deinem Bruder tut mir schrecklich leid. Er war noch so jung.«
»Ja, er war jung«, sagte die Mutter, und in ihrer Stimme lag tiefer Schmerz, der sich als Wut äußerte. »Er war noch fast ein Junge. Er war Student, und er war äußerst begabt. Die McGill University hat ihm ein Stipendium angeboten, und er hatte allen Grund, leben zu wollen. Er hätte nicht sterben müssen.«
»Lise, das ist meine Mutter, Beverly Dorn.«
»Mrs. Dorn, mein tiefes Beileid.«
»Werden Sie uns helfen? Das möchte ich nämlich wissen. Was werden Sie tun, um uns zu helfen, dieses Unrecht zu sühnen? Perry war ein intelligenter, sensibler junger Mann, und jetzt ist er tot, und das hätte nicht passieren müssen. Es müssen Ermittlungen durchgeführt werden. Wir haben es verdient, Antworten auf unsere Fragen zu bekommen.«
»Mom, Lise wird tun, was sie kann. So beruhige dich doch.«
»Kommen Sie mit«, sagte Delorme. Sie führte die beiden in einen Raum, der oft für Gespräche mit Angehörigen benutzt wurde, die Schlimmes erlebt hatten und betreut werden mussten. Im Gegensatz zu den anderen Vernehmungszimmern gab es dort Teppichboden und ein beinahe gemütliches Sofa. An einer Wand hing ein modernes Kunstwerk, das eine Mutter mit Kind darstellte, an einer anderen eine Tafel ohne Kreide. Delorme schloss die Tür.
»Nehmen Sie doch Platz«, sagte sie.
»Ich kann nicht sitzen«, erwiderte Mrs. Dorn. »Ich bin viel zu wütend.«
»Mom, du hast keinen Grund, auf Lise wütend zu sein.«
»Es war ein Polizist bei Perry in dem Waschsalon. Was ist mit ihm? Er war dabei, als es passiert ist. Er war da, bevor es passiert ist. Warum hat er dem Jungen nicht die Waffe abgenommen, können Sie mir das mal erzählen? Warum hat er nichts getan?«
Delorme zeigte noch einmal auf das Sofa und wartete, bis Mrs. Dorn sich neben ihre Tochter setzte. Die Augen der Frau waren wund und gerötet von der Art Weinen, das keine Erleichterung bringt, und sie war so überdreht wie jemand, der keinen Schlaf mehr findet.
Delorme setzte sich den beiden gegenüber und sagte ruhig: »Ja, es war ein Polizist in dem Waschsalon. Er hatte seinen freien Tag und saß in dem Café nebenan, als ein Mann am Nebentisch sah, wie Ihr Sohn den Waschsalon mit einer Schrotflinte betrat. Nachdem er Verstärkung angefordert hatte, ist der Polizist Ihrem Sohn in den Waschsalon gefolgt.«
»Warum hat er ihm die Waffe nicht abgenommen? Das möchte ich wirklich wissen. Warum hat er ihm die Waffe nicht einfach aus der Hand gerissen? Er hat tatenlos danebengestanden und es geschehen lassen!«
»Der Kollege musste sich zuallererst um die Sicherheit der anderen Kunden im Waschsalon kümmern. Es waren Leute dort. Er hat dafür gesorgt, dass sie so schnell wie möglich nach draußen gingen.«
»Perry ist noch nie eine Gefahr für andere gewesen, nur für sich selbst. Das merkt man doch gleich, wenn man ihn sieht. Er könnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Das stimmt übrigens buchstäblich. Selbst Spinnen trägt er vorsichtig aus dem Haus und passt auf, dass er ihnen nur ja kein Haar krümmt.«
»Der Kollege kannte Ihren Sohn nicht. Was er gesehen hat, war ein verzweifelter Mann mit einer Schusswaffe in einem Raum, in dem sich viele Menschen befanden. Er hat das Richtige getan und zuerst die anderen nach draußen geschafft.«
»Und dann hat er zugelassen, dass mein offensichtlich verzweifelter Sohn sich umbringt. Bravo. Der Mann hat einen Orden verdient.«
»Mom. Hör ihr zu.« Shelly legte eine Hand auf Mrs. Dorns Arm, den diese wegriss.
»Hör auf, mich zu bevormunden.«
»Niemand bevormundet dich, Mom. Du hast eine Frage gestellt, und Lise versucht, dir zu antworten. Lass sie ausreden.«
»Der Kollege hat versucht …«
»Der Kollege, der Kollege – hat der Mann keinen Namen? Keine Dienstnummer?«
»Selbstverständlich. Wir werden Ihnen diese Informationen keinesfalls vorenthalten, aber sie ändern dennoch nichts an den Tatsachen. Mein Kollege hat versucht, Ihren Sohn zu beruhigen. Er hat mit ihm gesprochen und ihn mehrmals gebeten, die Waffe auf den Boden zu legen. Ihr Sohn hat sich geweigert.«
»Er war noch ein Junge! Da war ein ausgebildeter Polizist, und der schafft es nicht, einen Jungen davon abzuhalten, dass er sich umbringt? Wieso hat er ihm die Waffe nicht einfach aus der Hand gerissen?«
Delorme ließ die Frage – oder besser den Vorwurf – einen Moment lang in der Luft hängen.
»Ich glaube, Sie kennen die Antwort auf diese Frage, Mrs. Dorn.«
Mrs. Dorn schüttelte den Kopf.
»Der Kollege wollte Perry nicht noch mehr in Panik versetzen, als er es schon war. Außerdem wollte er selbst nicht erschossen werden. Ich wiederhole, er war unbewaffnet.«
»Ein Polizist ist es gewöhnt, Risiken einzugehen, das gehört zu seinem Job. Er hätte in Ruhe auf ihn einreden und zusehen sollen, dass er nahe genug an ihn rankommt, um ihm die Waffe zu entreißen.«
»Das hätte er ganz bestimmt getan, wenn es möglich gewesen wäre. Er hat mit ihm gesprochen, versucht, ihn zu beruhigen, wie Sie sagen. Sie haben sich unterhalten, und dann hat Ihr Sohn ganz plötzlich die Waffe auf sich gerichtet und abgedrückt.«
»Und niemand hat ihn davon abgehalten.«
»Mrs. Dorn, von dem Zeitpunkt, als jemand gesehen hat, wie Ihr Sohn den Waschsalon betrat, bis zu dem Moment, als er abgedrückt hat, sind weniger als acht Minuten vergangen. Es hat drei oder vier Minuten gedauert, bis die anderen Leute draußen waren. Das hat dem Kollegen und Ihrem Sohn höchstens fünf Minuten Zeit gelassen, um miteinander ins Gespräch zu kommen.«
»Zeit genug, um sein Leben zu retten. Warum hat er ihn nicht aufgehalten? Mein Gott, warum hat er ihn nicht aufgehalten, er war doch noch ein Junge!«
»Er hat sein Bestes getan, Mrs. Dorn. Er hatte einfach nicht genug Zeit.«
»Könnte ich bitte mit dem Polizisten sprechen?«
»Mom …«
»Er ist heute nicht hier«, sagte Delorme. »Und zwar ist er deswegen nicht hier, weil er das, was vorgefallen ist, noch nicht verkraftet hat. Jeder Polizist, der in eine solche Situation gerät, wünscht sich, dass alles gut ausgeht. Glauben Sie mir, Mrs. Dorn, in diesem entscheidenden Augenblick im Waschsalon hat niemand verzweifelter gehofft, dass Ihr Sohn am Leben bleibt, als dieser Polizist. Wäre es ihm gelungen, Perry von seinem Vorhaben abzubringen, dann wäre er heute hier, dann wäre er heute ein Held. Aber er ist nicht hier, weil er sich elend fühlt.«
»Wahrscheinlich hat er Schuldgefühle. Vielleicht fühlt er sich deswegen elend. Vielleicht, weil er als Polizist versagt hat.«
»Ich hoffe, dass Sie das anders sehen werden, wenn Sie sich erst einmal beruhigt haben.«
Mrs. Dorn schniefte. Sie betrachtete das Bild an der Wand, dann schaute sie ihre Tochter an.
»Wir bestehen jedenfalls darauf, dass die Sache untersucht wird.«
»Hier bei uns gibt es keine Abteilung für Sonderermittlungen mehr, aber ich kann Ihnen die Nummer der Kollegen in Toronto geben. Wenn die der Meinung sind, dass Ihre Forderung begründet ist, werden sie eine Untersuchung einleiten.«