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Als Delorme wieder nach unten kam, betrat Szelagy gerade die Eingangshalle in Begleitung einer in Tränen aufgelösten, ganz in Schwarz gekleideten Frau.
»Sergeant Delorme«, sagte Szelagy, »das ist Eleanor Cathcart. Sie wohnt hier im Haus im neunten Stock, und sie kennt Catherine.«
»Ich kann es einfach nicht fassen«, sagte die Frau. Sie nahm ihren Hut ab und schob sich mit theatralischer Geste eine schwarze Haarsträhne aus der Stirn. Alles an ihr wirkte übertrieben: Sie hatte dunkle Augenbrauen, trug dunklen Lippenstift, und ihre Haut war so weiß wie Porzellan, obwohl an ihr nichts auch nur entfernt Zerbrechliches war. Die Art, wie sie bestimmte Wörter aussprach, ließ darauf schließen, dass sie sich Paris sehr verbunden fühlte. »Ich lasse sie ins Haus, und sie springt vom Dach? Das ist doch einfach macabre.«
»Woher kennen Sie Catherine Cardinal?«, fragte De lorme.
»Ich unterrichte am College. Theaterwissenschaften. Catherine unterrichtet dort Fotografie. Mon Dieu, ich kann es nicht fassen. Ich habe sie erst vor ein paar Stunden ins Gebäude gelassen.«
»Warum haben Sie sie hereingelassen?«
»Ach, ich hatte ihr immer so vorgeschwärmt von der schönen Aussicht aus meinem kleinen pied-à-terre. Sie hat mich gefragt, ob sie mal herkommen und fotografieren könnte. Das hier ist schließlich das einzige hohe Gebäude auf dieser Seite der Stadt. Sie hat schon seit Monaten davon gesprochen, aber wir sind erst kürzlich dazu gekommen, ein rendezvous auszumachen.«
»Waren Sie in Ihrer Wohnung verabredet?«
»Nein, sie wollte nur aufs Dach. Da oben gibt es eine Dachterrasse. Ich habe sie nach oben begleitet und ihr gezeigt, wie man die Tür offen halten kann – sie fällt nämlich sonst zu, und dann ist man ausgesperrt, wie ich aus eigener bitterer Erfahrung weiß. Ich habe mich nicht lange da oben aufgehalten. Sie war bei der Arbeit und wollte ungestört sein. Die Kunst verlangt ein großes Maß an Einsamkeit.«
»Sie sind sich also ziemlich sicher, dass sie allein war.«
»Ja, sie war allein.«
»Wo wollten Sie eigentlich hin?«
»Zu einer Theaterprobe im Capital Centre. Wir proben gerade Das Puppenhaus, und nächste Woche ist Premiere. Glauben Sie mir, einige in der Truppe sind längst noch nicht so weit. Unser Torvald liest seinen Text immer noch ab.«
»Wirkte Catherine in irgendeiner Weise aufgewühlt?«
»Überhaupt nicht. Na ja, Moment. Nein, sie war sehr konzentriert, sie konnte es kaum erwarten, aufs Dach zu gelangen, aber ich habe das als Begeisterung für ihre Arbeit interpretiert. Andererseits ist Catherine nicht immer leicht zu durchschauen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Sie bekommt regelmäßig solche Depressionen, dass sie in die Klinik muss, und davon hab ich auch nie etwas bemerkt. Aber wie die meisten Künstler neige ich dazu, sehr mit mir selbst beschäftigt zu sein.«
»Es würde Sie also letztlich nicht wundern, wenn sie Selbstmord begangen hätte?«
»Nun, es ist ein Schock. Ich meine, mon Dieu. Glauben Sie etwa, ich würde ihr einfach die Schlüssel zur Dachterrasse in die Hand drücken und sagen ›Tschüs, meine Liebe, angenehmen Selbstmord, ich bin mal eben zur Probe‹? Ich bitte Sie.«
Die Frau warf den Kopf in den Nacken und betrachtete die Decke. Dann schaute sie Delorme aus ihren dunklen Augen an. »Sehen Sie es so«, sagte sie. »Ich stehe hier wie vom Donner gerührt, aber gleichzeitig würde ich sagen, dass ich Catherine Cardinal von allen Leuten, die ich kenne – und ich kenne eine Menge Leute –, am ehesten einen Selbstmord zutrauen würde. In eine geschlossene Anstalt kommt man schließlich nicht wegen einer kleinen Enttäuschung oder einer Anwandlung von Weltschmerz, und Lithium bekommt man nicht wegen PMS verschrieben. Außerdem – haben Sie schon mal ihre Arbeiten gesehen?«
»Einige«, sagte Delorme. Sie erinnerte sich an eine Ausstellung in der Bibliothek vor ein paar Jahren: ein Foto von einem weinenden Kind auf den Stufen der Kathedrale, eine leere Parkbank, ein einzelner roter Regenschirm in einer verregneten Landschaft. Fotos, die Sehnsucht ausdrückten, Bilder, die Einsamkeit darstellten. Wie Catherine selbst. Schön, aber traurig.
»Plädoyer beendet«, sagte Ms. Cathcart.
Gerade in dem Moment, als Delormes innerer Richter die Frau wegen unverzeihlichen Mangels an Mitgefühl verurteilte, brach Ms. Cathcart in Tränen aus – und das waren keine Bühnentränen, sondern unkontrolliertes Schluchzen aus echtem, nicht geprobtem Schmerz.
Delorme begab sich zusammen mit Dr. Claybourne zum Krankenwagen, wo Cardinal immer noch auf der Rampe saß. Er sprach sie an, noch bevor sie ihn erreichten, die Stimme belegt und verhalten.
»Gibt es einen Abschiedsbrief?«
Claybourne hielt ihm den Brief hin, damit er ihn lesen konnte. »Können Sie uns sagen, ob das die Handschrift Ihrer Frau ist?«
Cardinal nickte. »Das ist ihre Schrift«, sagte er und wandte sich ab.
Delorme begleitete Claybourne zu seinem Wagen.
»Also, Sie können es bezeugen«, sagte der Gerichtsmediziner. »Er hat die Handschrift als die seiner Frau identifiziert.«
»Ja«, sagte Delorme. »Ich kann’s bezeugen.«
»Wir müssen selbstverständlich trotzdem eine Autopsie durchführen, aber meiner Meinung nach war es Selbstmord. Wir haben keine Anzeichen für einen Kampf gefunden, wir haben einen Abschiedsbrief, und wir wissen, dass sie depressiv war.«
»Haben Sie mit der Klinik telefoniert?«
»Ich habe ihren Psychiater zu Hause erreicht. Er war natürlich bestürzt – es ist immer schlimm, einen Patienten zu verlieren –, aber er war nicht überrascht.«
»Also gut. Danke, Doktor. Wir werden das Gebäude noch überprüfen, für alle Fälle. Lassen Sie es mich wissen, falls wir noch etwas für Sie tun können.«
»Mach ich«, sagte Claybourne und stieg in seinen Wagen. »Deprimierend, nicht? Selbstmord?«
»Gelinde gesagt«, erwiderte Delorme. Das war der dritte innerhalb weniger Monate, mit dem sie zu tun hatte.
Sie sah sich nach Cardinal um, der sich nicht mehr beim Krankenwagen befand, und entdeckte ihn am Steuer seines Wagens. Er machte nicht den Eindruck, als wollte er losfahren.
Delorme setzte sich auf den Beifahrersitz. »Sie werden eine Autopsie durchführen, aber der Gerichtsmediziner wird Selbstmord als Todesursache feststellen«, sagte sie.
»Soll das Gebäude gar nicht überprüft werden?«
»Doch, natürlich. Aber ich glaube nicht, dass wir etwas finden werden.«
Cardinal ließ den Kopf hängen. Delorme konnte sich nicht vorstellen, was in ihm vorging. Als er schließlich etwas sagte, war es nicht das, was sie erwartet hatte.
»Ich sitze hier und überlege, wie ich ihr Auto nach Hause schaffen soll. Wahrscheinlich gibt es eine ganz einfache Lösung, aber im Moment kommt es mir vor wie ein unlösbares Problem.«
»Ich fahre es zu dir«, sagte Delorme. »Wenn wir hier fertig sind. Kann ich irgendjemanden für dich anrufen? Jemanden, der kommen und bei dir bleiben kann? Du solltest jetzt nicht allein sein.«
»Ich rufe Kelly an. Sobald ich zu Hause bin.«
»Aber Kelly ist doch in New York, oder? Hast du denn niemanden hier in der Nähe?«
Cardinal ließ den Motor an. »Ich komme schon zurecht«, sagte er.
Aber er klang ganz und gar nicht danach.