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Cardinal saß am Esstisch und ging Rechnungen durch, während Kelly sich im Wohnzimmer eine Wiederholung von Emergency Room ansah. Genau wie Catherine hatte sie die Angewohnheit, beim Fernsehen Popcorn aus einer Schale auf ihrem Schoß zu knabbern und zwischendurch das Geschehen auf dem Bildschirm zu kommentieren mit Bemerkungen wie: »Also wirklich, kein vernünftiger Arzt würde so was tun.«

Cardinal hatte Schecks ausgeschrieben, um Catherines Kreditkartenrechnungen zu bezahlen, und versah jedes Anschreiben mit der Notiz: »Adressatin verstorben, Konto bitte auflösen.«

Seine Gedanken wanderten zu den beiden Personen, die er bisher ausfindig gemacht hatte: einer war schon tot gewesen, als Catherine umgebracht wurde, der andere noch nicht vom Verdacht ausgeschlossen. Er musste Codwalladers Alibi noch überprüfen, aber sein Gefühl sagte ihm, dass es wahrscheinlich wasserdicht war. Cardinal spürte, dass ihm irgendetwas Offensichtliches entging, dass er sich auf dem Holzweg befand. Bisher hatte er sich auf Motiv und Gelegenheit konzentriert: Wer hatte einen Grund, ihm Schaden zuzufügen, indem er seine Frau tötete? Wer war kürzlich aus dem Gefängnis entlassen worden?

Aber es gab noch andere grundlegende Dinge zu klären: Wer kannte seine Adresse? Wer wusste, dass Catherine seine Frau war? Wer konnte derartige Informationen so gezielt einsetzen? Jedenfalls kein Säufer wie Connor Plaskett (selbst wenn er noch gelebt hätte) und vielleicht auch kein egozentrischer Verlierer wie Codwallader.

Cardinals Adresse und Telefonnummer standen nicht im Telefonbuch, und auf dem Revier konnte man sie auch nicht erfragen.

Seit seiner Zeit beim Drogendezernat in Toronto hatte er sich angewöhnt, stets darauf zu achten, ob ihn jemand beobachtete oder ob ihm jemand folgte. Einem Polizisten, der nicht äußerst wachsam war, konnte es passieren, dass irgendein Krimineller ihm zu seinem Haus oder seiner Wohnung folgte und seiner Familie etwas zuleide tat. Wenn jemand ihn verfolgt hätte, würde Cardinal es wissen.

Er überflog die restlichen Rechnungen. Ein Großteil waren Beitragsrechnungen und Spendenaufrufe: von der Audubon Society, dem Sierra Club und von Amnesty International (für Catherine), vom Kinderkrankenhaus und von UNICEF (für Cardinal). Und es gab Rechnungen von Algonquin Bay Hydro, von den Wasserwerken, der Telefongesellschaft und von Desmonds Bestattungsinstitut.

Die meisten Umschläge waren bereits geöffnet und ein Teil der Rechnungen bereits bezahlt. Cardinal setzte seine Lesebrille auf und hielt jedes einzelne Schreiben unter die Lampe neben dem Telefon, um es genau zu überprüfen, doch keins wies denselben Druckerfehler auf wie die gehässigen Beileidskarten.

Also gut, das war vielleicht zu simpel. Bei den meisten Rechnungen handelte es sich sowieso um computererstellte Schreiben. Kein Mensch würde sie überhaupt zu sehen bekommen, ehe sie nicht mit einem beigelegten Scheck zurückkamen.

Er öffnete den Umschlag, der vom Bestattungsinstitut gekommen war.

Sehr geehrter Mr. Cardinal,
wir möchten Sie unseres tiefsten Mitgefühls versichern.
Außerdem möchten wir Ihnen dafür danken, dass Sie sich vertrauensvoll an uns gewendet haben. Wir hoffen, dass wir Ihnen mit unseren Diensten in den schwersten Stunden Ihres Lebens Trost spenden konnten.
Unsere Rechnung ist beigefügt.
Bitte überweisen Sie den angegebenen Betrag, sobald es Ihnen möglich ist. Falls wir Ihnen noch weiter behilflich sein können, lassen Sie es uns wissen, wir stehen Ihnen jederzeit zur Verfügung
.

Mit Dank und tiefem Mitgefühl.

 

Das Schreiben war von David Desmond unterzeichnet. Keiner der Großbuchstaben wies die geringste Spur eines Druckerfehlers auf.

»Die Frau hat doch einen Sprung in der Schüssel«, sagte Kelly zum Fernseher. »Möchte wissen, wie die es geschafft hat, Krankenschwester zu werden.«

Während der Werbepause kam sie auf dem Weg in die Küche zu Cardinal an den Tisch. »Willst du dich nicht ein bisschen zu mir vor den Fernseher setzen, Dad?«

»Gleich.«

»Es tut einfach gut zu sehen, wie Leute ihr Leben noch viel weniger im Griff haben als man selbst. Aber das erlebst du wahrscheinlich jeden Tag bei der Arbeit.«

»Allerdings.«

»Ich hole mir eine Cola light. Willst du auch eine?«

»Gern.«

Cardinal betrachtete gerade die Rechnung, die zusammen mit dem Brief vom Bestattungsinstitut gekommen war. Ein Posten war ihm besonders aufgefallen, und es war nicht der Preis, über den er sich wunderte.

Sarg – Walnuss, natur – $ 2.500.

Eine deutlich zu erkennende weiße Linie zog sich durch die zweite Zeile.

Und weiter unten: Als Vorauszahlung erhalten – $ 3.400.

Dieselbe Linie im A und im V.

»Der Film geht weiter«, rief Kelly aus dem Wohnzimmer. »Und deine Cola steht hier auf dem Tisch.«

Cardinal nahm die drei Beileidskarten aus seiner Aktentasche. Lieber wollte sie sterben … Eine Linie im L. Wie sehr muss sie dich gehasst haben. Dieselbe Linie im W. Er nahm sich eine Lupe und untersuchte die Großbuchstaben genauer. Es passte zusammen.

Konnte es sein, dass ein Bestattungsunternehmer es satt hatte, für all den Schmerz und das Leid, das er Tag für Tag mit ansehen musste, Mitgefühl zu empfinden? Konnten einem all die Tränen und Gebete zum Hals heraushängen? Das endlose Brüten über die Einzelheiten einer Bestattung, sich zum xten Mal anhören zu müssen, dass der oder die Verstorbene ein ganz besonderer Mensch gewesen war, ganz anders als die Leute, die man Tag für Tag beerdigte? Cardinal nahm an, dass man all das durchaus leid sein konnte, und ja, wahrscheinlich konnte man auch eines Tages durchdrehen und anfangen, gehässige Beileidskarten zu verschicken.

Aber das eigentliche Anschreiben wies keinerlei Druckerfehler auf.

Er rief David Desmond zu Hause an.

Desmond, durch und durch Profi, war auf der Stelle verbindlich. »Ah, Mr. Cardinal«, sagte er. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich habe mir gerade Ihre Rechnung angesehen.«

»Ach, das hat keine Eile, Sie haben ja bereits die Hälfte im Voraus bezahlt, und ich kann mir vorstellen, dass Sie im Moment andere Dinge im Kopf haben.«

»Ich wüsste gern, ob Sie die Rechnungen selbst erstellen.«

»Nun, wir stellen natürlich die Beträge zusammen, aber die eigentlichen Rechnungen werden von einer Abrechnungsfirma formuliert und gedruckt.«

»Diese Leute scheinen Ihnen gute Dienste zu leisten. Ich muss in diesem Jahr eine ziemlich komplizierte Steuererklärung machen und dachte, ich könnte vielleicht von Ihnen den Namen und die Adresse der Firma bekommen.«

»Selbstverständlich. Die Firma nennt sich Beckwith & Beaulne. Einen Augenblick bitte, ich habe die Visitenkarte hier irgendwo.«

»Bei wem sind Sie denn? Bei Beckwith oder bei Beaulne?«

»Weder noch. Unser Sachbearbeitet ist ein Mann namens Roger Felt.«

»Ich werd verrückt.«

»Ach? Sie kennen den Mann?«