21

 

Delorme hatte bis sechs Uhr gewartet. Als sie sich ziemlich sicher sein konnte, dass Matt Morton zu Hause sein würde, war sie zur Warren Street gefahren, einer Sackgasse im Osten der Stadt, wo sie höchstens ein- oder zweimal in ihrem Leben gewesen war.

Die Mortons wohnten in einem niedrigen Bungalow aus Holz, der ihr ziemlich beengt vorkam für ein Ehepaar, erst recht für ein Paar mit zwei Kindern, und die Fahrzeuge, die in der Einfahrt standen – ein Toyota Land Cruiser, ein Chrysler Pacifica und ein Ford Taurus (das einzige Auto von normaler Größe) – ließen das Haus noch winziger erscheinen. Neben der Garage standen zwei leuchtend rote Schneemobile unter einem Vordach.

Die Krönung des Ensembles war das Boot, ein riesiges Chris-Craft – nicht dass Delorme ein Chris-Craft von einem U-Boot hätte unterscheiden können, aber der Markenname prangte in glänzenden Chrombuchstaben auf dem Rumpf. Delorme kam das Boot ziemlich hässlich vor, zu lange Schnauze und irgendwie platt, aber zweifellos war es auf Geschwindigkeit ausgelegt und weniger auf Ästhetik – und vielleicht sah es ja im Wasser schon ganz anders aus. Delorme hatte keine Ahnung, wie viel PS der Motor hatte, aber die Schraube wirkte durchaus leistungsfähig.

Warum kaufte sich jemand all diese überdimensionalen Fahrzeuge und wohnte dann in so einer mickrigen Hütte? Delorme hatte sich schon oft über Leute gewundert – bei der Polizeiarbeit traf man häufig auf diese Sorte –, die ihr ganzes Geld für irgendwelche Hobbys ausgaben, aber keins für die Verschönerung ihrer Wohnung. In den letzten armseligen Löchern standen mitunter Fernsehbildschirme von der Größe einer Schultafel.

Das Haus der Mortons allerdings mochte zwar klein sein, aber es war in gutem Zustand.

Von Matt Morton ließ sich dasselbe nicht behaupten. Falls er tatsächlich einmal ein Footballspieler gewesen war, wie Frank Rowley behauptete, dann war davon nicht mehr viel zu sehen. Alles, was er einmal an Muskelmasse besessen haben mochte, hatte sich längst in schwabbeliges Fett verwandelt. Er hatte eine Figur wie eine auf dem Kopf stehende Birne, so als hätte ihn jemand an den Knöcheln gepackt und sein ganzes Fett in Hals und Schultern gepresst. Sein Haar hatte dasselbe Braun wie das des Kinderschänders auf den Fotos, aber er trug einen ordentlichen Fassonschnitt.

Delorme stellte sich vor und zeigte ihren Dienstausweis.

»Kommen Sie rein«, sagte Morton. »Aber ich hab nicht viel Zeit. Wir wollen gleich zu Abend essen.«

»Kein Problem. Ich brauche nicht lange.« Das Wohnzimmer enthielt nichts, was sie auf den Fotos gesehen hatte. Die Küche lag am Ende des Flurs, zu weit weg, um mehr zu erkennen als ein paar hölzerne Schranktüren. Delorme hörte Kinder laut herumtollen und eine Frau, die sie ermahnte, leise zu sein. Den Stimmen nach zu urteilen, handelte es sich um einen Jungen und ein Mädchen.

»Ich habe Ihre Fahrzeuge draußen bewundert«, sagte Delorme. »Vor allem das Boot.«

»Ja, das ist mein ganzer Stolz. Hat mich eine ordentliche Stange Geld gekostet. Die Raten zahle ich immer noch ab.«

»Mr. Morton, ich untersuche mehrere Straftaten, die am Jachthafen begangen wurden, und in dem Zusammenhang möchte ich einen Blick auf Ihr Boot werfen, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Was denn für Straftaten?«

»Körperverletzung unter anderem.«

»Körperverletzung. Damit hab ich nichts zu tun, das kann ich Ihnen gleich sagen.«

»Bisher suchen wir nur nach Zeugen.«

»Also, ich hab nichts beobachtet, was nach Körperverletzung ausgesehen hätte. Und gehört hab ich auch nichts davon. Was hat mein Boot also damit zu tun?«

»Vielleicht hat es gar nichts damit zu tun. Wenn ich nur einen kurzen Blick hineinwerfen könnte, wäre das eine große Hilfe.«

»Tun Sie sich keinen Zwang an.«

»Danke.«

Morton zog sich eine Windjacke über und begleitete sie zu seinem Boot. Er hatte den vorsichtigen, tastenden Gang der Übergewichtigen. Aber im Lauf von mehreren Jahren konnte jemand stark zunehmen, und Delorme hatte ihn noch nicht von der Liste der Verdächtigen gestrichen.

»Wollen Sie wirklich da rauf?«

»Ja.«

»Auf diesem Boot ist niemandem ein Haar gekrümmt worden. Ich weiß nicht, was Sie sich davon versprechen.«

»Es wird mir helfen, das eine oder andere auszuschließen. Kann ich einfach auf den Anhänger klettern?«

»Es wäre mir lieber, wenn Sie eine Leiter benutzen würden.«

Delorme half ihm, eine zweieinhalb Meter lange Leiter aus der Garage zu holen. Nach der zweiminütigen Anstrengung war der ehemalige Footballspieler verschwitzt und außer Atem. Trotzdem stieg er als Erster die Leiter hoch. Delorme folgte ihm aufs Bootsdeck.

»Macht nicht viel her, im Moment«, sagte Morton. »Das ist, wie wenn man ein Rennpferd im Stall sieht. Man kriegt keinen richtigen Eindruck.«

»Ach, ich glaube, der Eindruck kommt ganz gut rüber«, erwiderte Delorme. »Es macht bestimmt großen Spaß, damit übers Wasser zu düsen.«

»Es gibt nichts Schöneres, das garantiere ich Ihnen. Die Luft, die Sonne. Kühles Bier. Und alle sind gut drauf. Die Kinder amüsieren sich, meine Frau ist im siebten Himmel, und ich bin so weit weg von meiner Arbeit wie nur irgend möglich.«

»Was machen Sie denn beruflich, Mr. Morton?«

»IT. Computernetzwerke. Früher konnte man damit mal gutes Geld verdienen. Aber die Zeiten sind vorbei. Jedenfalls hier in der Gegend. Wir wollten uns ein größeres Haus kaufen, aber das können wir jetzt vergessen.«

»Darf ich mal die Schutzbezüge hier von den Sitzen nehmen?« Delorme war sich bereits ziemlich sicher, dass dies nicht das Boot war, das sie suchte.

Das Steuerrad war weiß, das auf dem Foto dagegen aus Holz. Steuerräder ließen sich natürlich auswechseln, aber es war keinerlei hölzerne Verkleidung auf dem Boot zu entdecken, und sie bezweifelte, dass jemand so etwas austauschen würde.

Morton nahm die Schutzbezüge von den beiden Sitzen vor ihnen. Es handelte sich um drehbare, gepolsterte Sitze, zu denen kleine, fest stehende Tische gehörten. Die Sitze auf den Fotos waren rot gepolstert und mit den Rücken zueinander angeordnet gewesen. Und der gesamte hintere Teil des Bootes hatte anders ausgesehen.

»Wollen Sie auch die Kajüte sehen?«

»Nein, danke, Mr. Morton. Sie haben mir sehr geholfen.«

»Es würde nicht lange dauern. Jetzt, wo wir schon mal hier sind.«

»Also gut. Es kann nicht schaden, einen kurzen Blick hineinzuwerfen.«

Sie ließ sich von ihm herumführen, während er sie mit Stolz verschiedene Vorrichtungen bewundern ließ. Mehrmals sagte er: »Meine Frau würde mich umbringen, wenn sie wüsste, was mich das gekostet hat.«

»Das ist wahrscheinlich wie eine Art Zweitwohnung«, bemerkte Delorme. »Zumindest im Sommer.«

»Ganz genau.« Morton unterstrich seine Worte, indem er mit einem Wurstfinger auf sie zeigte. »Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen.«

Delorme hatte Booten nie viel abgewinnen können, aber das Innere der Kajüte hatte wirklich einen ganz besonderen Reiz. Jede Menge winzige Schränke und Behälter, alles im Miniaturformat und mit abgerundeten Kanten.

»Ihre Kinder sind bestimmt gern auf dem Boot«, bemerkte sie.

»Gott, mein Sohn würde ganz auf das Boot ziehen, wenn er könnte. Aber Brittney interessiert sich nicht die Bohne dafür. Sie ist dreizehn.«

Delorme hätte das Mädchen liebend gern gesehen, doch im Moment wusste sie einfach nicht, unter welchem Vorwand sie Morton bitten konnte, sie mit seiner Tochter sprechen zu lassen.

»Mr. Morton, wie verstehen Sie sich mit den anderen Leuten im Hafen? Haben Sie viel mit ihnen zu tun?«

»Eigentlich nicht. Das sind fast alles Familien, wissen Sie. Die Leute sind alle so mit ihren Kindern beschäftigt, dass man gar nicht dazu kommt, einander kennenzulernen. Wir reden übers Wetter, mehr nicht.«

»Da draußen ist es doch ziemlich eng. Und das ist ein teures Boot. Gibt es jemals Probleme?«

»Mit dem Hafen?«

»Oder mit den Leuten, die ihre Liegeplätze neben Ihrem haben.«

Morton überlegte und fuhr sich mit der Hand über den Kopf.

»Na ja, es gibt einen bescheuerten Italiener, der dauernd laute Musik spielt. Er hat seinen Liegeplatz am anderen Ende des Docks, aber auf dem Wasser tragen Geräusche sehr weit. Den können Sie meinetwegen verhaften und sonst wohin ausweisen.«

»Da muss ich Sie leider enttäuschen. Was ist mit den Leuten gleich neben Ihnen?«

»Die Ferriers? Das sind nette Leute. Wir sind nicht befreundet, aber wir kommen gut miteinander aus. André und ich trinken ab und zu mal ein Bierchen zusammen und plaudern über Football. Damit hat sich’s auch schon.«

»Haben sie Kinder?«

»Zwei Mädchen: Alex und Sadie. Sadie ist acht oder so, und Alex ist in Brittneys Alter, eine frühreife Dreizehnjährige, Sie wissen ja, wie das heutzutage ist.«

Dreizehn. Delorme hätte gern mehr über die Mädchen erfahren, wollte aber vorerst noch nicht zu viel Aufmerksamkeit auf das Thema lenken. Es war nicht ausgeschlossen, dass Morton die Nachbarsmädchen befummelte. Um ihn abzulenken, fragte sie ihn nach Frank Rowley.

»Frank? Den kenne ich aus der Highschool. Über Frank kann ich Ihnen nichts Negatives sagen.« Plötzlich schnippte Morton mit den Fingern. »Da fällt mir was ein. Sie ermitteln in einem Fall von Körperverletzung?«

»Ja, richtig.«

»Ein Typ namens Fred Bell. Dem bin ich mal zu Hilfe geeilt, als irgend so ein Verrückter auf ihn losgegangen ist.«

»Frederick Bell?« Delorme war Dr. Bell nie begegnet, doch sie wusste, dass er Psychiater war.

»Genau. Ein Engländer. Aber das war nicht auf einem der Bootsstege, sondern vor dem Fischrestaurant.«

»Worum ging es denn bei dem Streit?«

»Keine Ahnung. Der Typ hat Bell angeschrien, weil der sein Kind falsch behandelt hatte oder so ähnlich. Ich halte ja nichts von diesen Seelenklempnern. Jedenfalls war der Typ fuchsteufelswild und hatte Bell am Kragen gepackt. Da bin ich halt dazwischengegangen und hab dem Typen gesagt, er soll sich verziehen. Aber das als Körperverletzung zu bezeichnen, wäre wohl übertrieben. Das war so vor einem oder anderthalb Jahren.«

»Können Sie mir sagen, wie der Mann heißt?«

»Ich kann mich nicht genau erinnern – Whiteside oder so ähnlich.«

»Eine letzte Frage, Mr. Morton. Haben Sie am Hafen mal irgendetwas gesehen oder gehört, das Sie beunruhigt hat? Vielleicht etwas, das Sie denken ließ, dass der Hafen kein guter Ort für Ihre Kinder wäre?«

»Wie meinen Sie das? Aus Gründen der Sicherheit?«

»Aus irgendeinem Grund.«

Morton schüttelte den Kopf. »Der Jachthafen ist wie eine Reihenhaussiedlung, wo jeder auf die Kinder des anderen aufpasst. Wo man sich gegenseitig mit einer Tasse Zucker aushilft und so, wissen Sie? Auch wenn man sich nicht besonders gut kennt, haben wir alle ein Gefühl von Kameradschaft, von gegenseitigem Vertrauen, wie man es nicht oft findet. Es ist der perfekte Zufluchtsort – für jeden, und ganz besonders für Kinder.«