18
Frederick Bell schob sich den letzten Bissen seines Stücks Erdbeertorte in den Mund und kratzte mit der Gabel die Sahnereste auf seinem Teller zusammen.
»Bist du sicher, dass das Zeug fettarm ist?«, fragte er seine Frau Dorothy, die gerade dabei war, den Kühlschrank aufzuräumen.
»Ich hab das Rezept aus einem Diät-Backbuch«, sagte sie in den Kühlschrank. »Es ist garantiert kalorienarm.«
»Aber das gilt nur dann, wenn man nicht mehr als ein Stück isst. Was ist, wenn man plötzlich Lust auf ein zweites bekommt?«
»Du kriegst kein zweites.« Dorothy war mit einem gesunden Menschenverstand gesegnet, der ihr sehr zugute gekommen war, als sie noch als Krankenschwester gearbeitet hatte, und der ihr ebenfalls in ihrer Eigenschaft als Ehefrau eines Psychiaters zugute kam. »Wenn du noch ein Stück verdrückst, führst du den ganzen Aufwand mit der kalorienarmen Ernährung ad absurdum.«
»Dinge ad absurdum zu führen ist schon immer mein Lebenszweck gewesen, warum sollte ich also jetzt eine Ausnahme machen?« Bell trank seinen Tee aus, der mittlerweile kalt war, aber er hatte nichts gegen kalten Tee. Tee war immer gut. Manche britischen Gewohnheiten waren einfach schwer abzulegen.
»Ich hab übrigens ein nettes kleines Häuschen in der Nähe von Nottingham gefunden«, sagte Dorothy. »Ich hab dir ein Bild davon auf den Schreibtisch gelegt. Wahrscheinlich bist du noch gar nicht dazu gekommen, einen Blick darauf zu werfen.«
»Ach je, hab ich dich schon wieder enttäuscht.«
»Frederick, was ist so schwer daran, sich ein Bild anzusehen?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube, ich kann mich immer noch nicht mit der Idee anfreunden, mich in England zur Ruhe zu setzen.«
»Wir haben doch darüber gesprochen. Ich dachte, wir wären uns einig gewesen, dass es uns dort beiden gefallen würde. Es ist ein hübscher kleiner Ort, in Fußnähe zur Küste. Und der Trent River fließt ganz in der Nähe. Du hast immer gesagt, du wolltest in der Nähe von Wasser leben, wenn du in den Ruhestand gehst.«
»Helden gehen nicht in den Ruhestand. Das liegt nicht in unserer Natur.«
»Irgendwann wird dir nichts anderes übrig bleiben, und ich habe keine Lust, mit anzusehen, wie du in den endlos langen kanadischen Wintern die ganze Zeit im Haus rumschleichst.«
»England ist zu teuer, verdammt. Das Pfund steht so hoch wie lange nicht.«
»Es ist wieder gefallen, Frederick. Wir können uns dieses Häuschen leisten. Es ist so romantisch.«
Was dieses Thema anging, hatte Dorothy ihr gesunder Menschenverstand verlassen, fand Bell. Das Haus, das sie hier in Kanada besaßen, war riesig, fast eine Villa. Aber in England kosteten selbst die kleinsten Hütten eine halbe Million Pfund. Dorothy schien eine völlig falsche Vorstellung davon zu haben, was ein Psychiater in Kanada verdiente. Sie lebten schließlich nicht in den Staaten. Na ja, es machte ihr halt Freude, die Immobilienprospekte mit den bunten Bildern von hübschen Häusern und romantischen Gärten zu studieren, und ein bisschen zu träumen konnte ihr nicht schaden.
Bell stellte seine Tasse auf der Anrichte ab und zwickte seine Frau in den Hintern.
Dorothy wirbelte herum und schlug ihm auf die Finger. »Komm mir jetzt bloß nicht damit. Mitten am helllichten Tag, Herrgott noch mal.«
»Nichts könnte mir ferner liegen. Ich habe in fünf Minuten eine Patientin. Ich muss mich auf meine Würde konzentrieren.«
»Sehr richtig. Vergiss bloß nicht deine Würde. Wo kämen wir denn da hin?«
In den ersten Jahren ihrer Beziehung, als sie noch in London gelebt hatten, waren Bell und seine Frau ständig übereinander hergefallen. Aber mit den Jahren war ihre Leidenschaft einer gewissen Gewohnheit gewichen, was Bell völlig in Ordnung fand. Sie liebten einander, und sie gingen fürsorglich miteinander um, das war ihm das Wichtigste. Natürlich war Dorothy ihm intellektuell unterlegen, aber es war angenehm, mit ihr zusammen zu sein. Sie sah immer noch gut aus, obwohl sie schon Mitte fünfzig war. Sie hatte ein schmales Gesicht und die schlanke Figur einer wesentlich jüngeren Frau.
Bell wusch sich im Bad im Erdgeschoss die Hände. Er ließ seine Schultern kreisen, dann öffnete er die Tür, die die Küche von der Diele und seinem Sprechzimmer trennte. Eine junge Frau mit blonden Haaren, die dringend einer Wäsche bedurften, saß auf der Bank in der Diele. Andere Patienten hätten vielleicht im New Yorker geblättert oder mit einem iPod herumhantiert, aber diese junge Frau hatte nicht einmal ihre Jacke abgelegt und lümmelte sich mit vor der Brust verschränkten Armen auf der Bank. Das war Melanie, achtzehn Jahre alt, ein Bild des Elends.
»Hallo, Melanie«, sagte Bell.
»Hallo.«
Selbst in diesem einzelnen Wort lag eine Trägheit, die zeigte, welche Mühe es sie kostete, diese beiden Silben auszusprechen. Augenblicklich war die Depression mit im Raum, eine dritte Wesenheit. Bell stellte sie sich wie eine schweigende, für den Patienten unsichtbare Gestalt mit Umhang und Maske vor. Manchmal kam Bell sich vor wie der alte Priester in dem Film Der Exorzist, vom Schicksal dazu bestimmt, immer wieder im Kampf gegen die unsterbliche Nemesis anzutreten. Die Wesenheit.
Melanie folgte ihm ins Sprechzimmer, setzte sich auf die Couch, knöpfte ihre Jacke auf und ließ ihre Umhängetasche zu Boden gleiten. Dann lehnte sie sich zurück und betrachtete ihre Füße. Dr. Bell nahm in einem der kleinen Sessel ihr gegenüber Platz, legte sich seinen großen Notizblock auf die Knie und schaute sie ernst und abwartend an. Es war wichtig, dass der Patient nach der Begrüßung als Erster etwas sagte, denn die ersten Worte enthüllten so vieles. Aber manchmal, wie zum Beispiel jetzt, war es schwer zu warten, bis der Patient überwunden hatte, was auch immer ihn am Sprechen hinderte, und die Sitzung beginnen konnte. Die Minuten vergingen.
Melanie wirkte wesentlich älter als achtzehn. Sie war dürr und schmalbrüstig und erinnerte Bell irgendwie an eine ertrunkene Ratte. Sie hatte eine lange, flache Nase und langes, strähniges Haar, das ihr ins Gesicht fiel. Das Sweatshirt mit dem Schriftzug der Northern University trug auch nicht dazu bei, den Gesamteindruck zu verbessern. Den Blick immer noch auf ihre Füße geheftet, fing sie endlich an zu sprechen.
»Ich konnte mich kaum dazu aufraffen herzukommen«, sagte sie.
»Es ist Ihnen schwergefallen? Können Sie mir sagen, warum?«
»Ich weiß nicht …« Wieder versank sie in Schweigen, während ihr linker Fuß wie ein Metronom hin und her wackelte. »Ich find mich einfach so zum Kotzen. Es kotzt mich an, über mich nachzudenken. Über mich zu sprechen. Es gibt nichts, worüber es sich zu reden lohnt. Warum soll ich also herkommen? Warum soll ich das alles hundertmal wiederkäuen?«
»Meinen Sie, dass Sie es nicht wert sind, dass man über Sie spricht? Oder dass nichts, was Sie sagen, dazu beitragen kann, dass es Ihnen besser geht?«
Zum ersten Mal hob sie den Blick, Verzweiflung in den grünen Augen, dann senkte sie ihn wieder.
»Beides, glaub ich.«
Dr. Bell ließ das Schweigen eine Weile währen, ließ sie die Übertreibung ihrer Äußerungen spüren oder eher die Übertreibungen der Gestalt mit der Maske, die außerhalb ihres Blickfelds im Schatten lauerte. Die Wesenheit brachte ihre Opfer immer dazu, so zu reden. Dazu, dass sie sich einredeten, wertlos zu sein, um nur ja keine Anstrengung zu unternehmen, sich selbst zu retten.
»Ich möchte Sie etwas fragen«, sagte Bell. »Angenommen, jemand würde auf Sie zukommen – eine Freundin, eine Fremde, das spielt keine Rolle – und sagen: ›Am besten, du sprichst nicht mal mit mir. Ich bin so wertlos. Ich bin es nicht mal wert, dass man über mich nachdenkt.‹ Was würden Sie zu ihr sagen?«
»Ich würde ihr sagen, dass das Unsinn ist. Dass niemand wertlos ist.«
»Aber sich selbst gegenüber sind Sie nicht bereit, so großzügig zu sein.«
»Ich weiß nicht … Ich weiß nur, dass ich die ganze Zeit so unglücklich bin. Ich hab es satt, darüber zu reden. Reden hilft nicht. Nichts hilft. Ich will einfach nur, dass es aufhört. Ich hab sogar …«
»Sogar was?«
Melanie fing an zu weinen. Nach einer Weile nahm Bell die Kleenex-Schachtel vom Tisch und reichte sie ihr. Sie riss ein paar Papiertücher heraus, hielt sie jedoch nur in der Hand. Schluchzend verbarg sie ihr Gesicht mit der anderen Hand.
»Warum verstecken Sie sich?«, fragte Bell, doch das führte nur dazu, dass das Schluchzen noch heftiger wurde. Man konnte es an den zuckenden Schultern sehen, an dem lauten Wehklagen hören.
»O Gott«, stieß sie hervor, als sie keine Tränen mehr hatte.
»Das war offenbar nötig.«
»Ja, wahrscheinlich. Puh.« Sie wirkte erschöpft.
»Sie sagten: ›Ich will nur, dass es endlich aufhört. Ich hab sogar …‹«
»Ja.« Immer noch japsend und seufzend putzte Melanie sich die Nase. »Ja. Ich war neulich im Buchladen, und da gab es ein Buch über Freitod. Begleiteten Freitod, nehm ich an. Es hieß Ein würdiger Tod. Darin wird beschrieben, wie man es macht … wie man sich umbringt … ohne Schmerzen. Im Prinzip braucht man sich nur eine Plastiktüte über den Kopf zu stülpen.«
»Und?«
»Na ja, ich hab das Buch am Ende doch nicht gekauft. Aber ich bin ziemlich lange in dem Laden geblieben und hab darin gelesen.«
»Weil Sie schon darüber nachgedacht hatten, sich das Leben zu nehmen.«
»Ja.«
»Okay. Eine ganz direkte Frage, Melanie – ich muss das wissen: Haben Sie schon einmal versucht, sich das Leben zu nehmen?« Er war sich sicher, dass die Antwort negativ ausfallen würde.
»Nein. Eigentlich nicht.«
»Wie meinen Sie das: eigentlich nicht?«
»Na ja, ich hab mir mal mit einer Rasierklinge am Handgelenk rumgekratzt, aber es hat richtig wehgetan. Wenn es um Schmerzen geht, bin ich ein echter Feigling. Ich konnte mir noch nicht mal tief genug in die Haut ritzen, dass es blutete.«
»Wann war das?«
»Ach, das ist schon lange her. Als ich zwölf war oder so.«
»Zwölf. Haben Sie damals einen Abschiedsbrief geschrieben?«
»Nein. War wohl kein ernst gemeinter Versuch. Ich war bloß so unglücklich.«
»Schlimmer als jetzt?«
»Nein, nein. Jetzt ist es viel schlimmer. Viel schlimmer.«
»Wie oft denken Sie heutzutage an Selbstmord?«
»Ich weiß nicht …«
»Ich denke doch, Melanie.«
Noch sanfter konnte er weiß Gott nicht mit ihr sprechen. Dr. Bell bemühte sich, alles an Wärme und Bestärkung in seine Worte zu legen – und vor allem bedingungslose Achtung. Hier bist du vollkommen in Sicherheit, wollte er Melanie zu verstehen geben, hier kannst du dich getrost deinen Dämonen stellen.
»Ich denke ziemlich oft an Selbstmord«, sagte Melanie. »Eigentlich jeden Tag. Meistens nachmittags. Spätnachmittags. Dann erscheint mir alles ganz besonders aussichtslos. Ein Tag ist fast vorbei, und mein Leben ist immer noch nichts wert. Ich bin nichts wert. Ich höre die anderen Studenten im Haus lachen und telefonieren und ausgehen und sich amüsieren, und die kommen mir vor, ich weiß nicht, als gehörten sie einer anderen Spezies an oder so. Ich glaub, so glücklich wie die war ich noch nie. Vier Uhr, fünf Uhr, wieder ein vergeudeter Tag. Wieder ein Tag, an dem ich versucht hab, einen völlig sinnlosen Aufsatz zu schreiben. Schon wieder ein Tag, an dem ich mir den Kopf zerbreche, wie ich die Studiengebühren fürs nächste Jahr auftreiben soll. In solchen Momenten kommen mir solche Gedanken.«
»All diese Gedanken an Selbstmord. Haben Sie schon mal einen Abschiedsbrief geschrieben?«
»Ich war schon oft drauf und dran, aber ich hab noch nie einen geschrieben.«
»Wenn Sie es täten, was würde darin stehen?« Sie will ihrer Mutter nicht wehtun, dachte Bell. Es ist schließlich nicht ihre Schuld. Sie leidet Höllenqualen und macht sich Sorgen um ihre Mutter.
»Ich glaub, ich würde schreiben … Ich weiß es eigentlich gar nicht so genau. Ich würde meiner Mutter sagen wollen, sie soll sich keine Vorwürfe machen, dass es nichts mit ihr zu tun hat. Dass sie ihr Bestes getan hat und alles. Ich meine, dass sie mich großgezogen hat. Mehr oder weniger allein.«
»Melanie, ich weiß, dass Sie sich in letzter Zeit von Ihrem Studium ziemlich überfordert fühlen, aber ich werde Ihnen diesmal eine Hausaufgabe aufgeben, ist das in Ordnung?«
Melanie zuckte die Achseln. Winzige Brüste bewegten sich unter ihrem Sweatshirt.
»Ich möchte, dass Sie diesen Abschiedsbrief schreiben«, fuhr Dr. Bell fort. »Schreiben Sie Ihre Gedanken auf. Ich glaube, das würde Ihnen guttun. Es könnte dazu beitragen, dass Sie sich über Ihre Gefühle klar werden. Meinen Sie, dass Sie das schaffen?«
»Glaub schon.«
»Machen Sie sich nicht zu viele Gedanken darüber. Es muss kein langer Brief sein. Schreiben Sie einfach auf, was Sie sagen würden, wenn Sie tatsächlich vorhätten, sich das Leben zu nehmen.«