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Es ist kein Geheimnis, dass sich ein bestimmter Typ Mensch oder ein Mensch in einer bestimmten Stimmung genau von dem Menschen oder dem Ort angezogen fühlt, der ihm den größten Schmerz bereitet. Ein Alkoholiker wird die nächste Kneipe aufsuchen, ein Spieler wird das Sparbuch eines Freundes stehlen, ein verlassener Liebhaber wird zu dem Ort zurückkehren, an dem ihn seine Geliebte sitzengelassen hat. John Cardinal stand am Nachmittag des folgenden Tages reglos, umgeben vom Geruch nach Chemikalien, im dämmrigen Licht von Catherines Dunkelkammer.
Die Dunkelkammer war ihr und nur ihr Territorium gewesen, und Cardinal hatte nie ohne Aufforderung einen Fuß hineingesetzt.
Zwar hatte Catherine ihm manchmal von geplanten Projekten erzählt, aber über ihre Arbeit in der Dunkelkammer hatte sie nie gesprochen. Sie war wie ein Koch gewesen, der niemanden in seine Küche lässt und es vorzieht, eine fertig zubereitete Mahlzeit auf den Tisch zu bringen, als hätte er sie herbeigezaubert. Catherine war regelmäßig mit einer Handvoll frischer Abzüge aus dem Keller gekommen und hatte sie auf dem Tisch ausgebreitet, damit Cardinal sie einen nach dem anderen begutachten konnte.
Wenn Cardinal zu lange gebraucht hatte, seine Meinung zum Ausdruck zu bringen, hatte sie die Bilder über seine Schulter hinweg selbst kommentiert.
»Auf diesem Bild gefällt mir die Feuerleiter besonders gut. Die Diagonale bringt Spannung in die Komposition.« Oder: »Sieh dir den Radfahrer im Hintergrund an, wie er in die entgegengesetzte Richtung fährt. Ich liebe solche Zufälle.« Meistens hatte Cardinal feststellen müssen, dass er die falschen Details bewunderte: das süße kleine Mädchen am Bildrand, den glitzernden Schnee. Aber das hatte Catherine anscheinend nie gestört.
An der Leine über den Becken, die Cardinal vor Jahren angebracht hatte, hingen mehrere Abzüge von ein und demselben Foto.
Es waren Schwarz-Weiß-Bilder. Im Vordergrund war eine Backsteinmauer zu sehen und im Hintergrund ein Mann, der die Straße herunterkam. Der Mann und die Mauer waren beide gestochen scharf, und Cardinal wusste aus seiner eigenen begrenzten Erfahrung, dass so etwas sehr schwierig hinzubekommen war. Es ließ das Bild befremdlich erscheinen, so als wäre der Mann ebenso gegenständlich wie die Mauer. Der Mann hielt den Kopf gesenkt, sein Gesicht war von einem Hut verborgen, wie ihn kaum noch jemand trug. Ein rätselhaftes Bild … oder vielleicht wirkte es auch nur im Rückblick so.
»Was machst du denn hier unten?« Kelly lehnte im Türrahmen, ausnehmend hübsch in Jeans und weißer Bluse. Catherine vor zwanzig Jahren.
Cardinal zeigte auf die Regale, die eine ganze Wand einnahmen, auf den hohen Schrank für Kameras und Objektive, die breiten Regalbretter für die Aufbewahrung von großen Abzügen. Die Kästen für Rahmen.
»Das hab ich ihr alles gebaut«, sagte er.
»Ich weiß.«
»Natürlich hat Catherine es entworfen. Schließlich war es ihr Arbeitsplatz.«
»Hier war sie glücklich.« Kellys Worte versetzten Cardinal einen Stich.
»Ich möchte dich um einen Gefallen bitten, Kelly. Nicht jetzt gleich, aber vielleicht in ein paar Monaten.«
»Kein Problem. Was brauchst du denn?«
»Ich kenne mich mit Fotografie nicht aus. Und ehrlich gesagt, hat mir jedes Foto gefallen, das Catherine gemacht hat. Wenn sie etwas gesehen und für wert befunden hatte, es zu fotografieren, war es für mich kostbar. Aber du bist Künstlerin.«
»Ich bin eine erfolglose Malerin, Dad. Keine Fotografin.«
»Ja, aber du hast den Blick der Künstlerin. Ich hatte gehofft, du könntest irgendwann Catherines Fotos durchgehen, weißt du, und die besten aussuchen. Ich dachte, wir könnten – vielleicht nächstes Jahr – in der Uni oder in der Bibliothek eine Ausstellung mit ihren Bildern machen.«
»Klar, Dad. Mach ich. Aber ich finde, du solltest nicht hier runterkommen. Es ist alles noch zu frisch, meinst du nicht?«
»Ja. Du hast recht.«
»Komm«, sagte sie, nahm tatsächlich seine Hand und führte ihn aus der Dunkelkammer. Um ein Haar wäre er schon wieder in Tränen ausgebrochen.
Aber Kelly hatte recht. Im Erdgeschoss, das ihr gemeinsames Territorium gewesen war, fühlte er sich wesentlich wohler. Er ging ins Wohnzimmer und überflog die Titel auf den Buchrücken in den Regalen. Catherine hatte die meisten Bücher gekauft. Hauptsächlich Bücher über Fotografie, aber es gab auch welche über Yoga, über Buddhismus, die Romane von John Irving und auch einige Bücher über Depressionen und bipolare Störungen. Eins war von Frederick Bell und trug den Titel: Gegen Selbstmord. Cardinal nahm es vom Regal.
Im Klappentext waren weitere Bücher zum Thema erwähnt, alle mit sehr wissenschaftlich klingenden Titeln, aber dieses schien sich an ein breites Publikum zu wenden und war in einem beruhigenden Ton geschrieben. Außerdem gab Bell auf erstaunlich offene Weise Einblick in sein eigenes Leben. Auf den ersten Seiten berichtete er darüber, wie er als Achtjähriger den Selbstmord seines Vaters hatte verkraften müssen und wie seine Mutter sich zehn Jahre später das Leben nahm, als er selber gerade mit dem Studium begonnen hatte. Kein Wunder, dass derartige Erfahrungen einen Menschen dazu brachten, wie Bell es in der Einleitung formulierte, »die Felder der Trauer und der Verzweiflung zu bearbeiten«.
Cardinal blätterte die Seiten durch. Das Buch war auf einer Reihe von Fallstudien aufgebaut, wobei jedes Kapitel mit der Beschreibung eines Selbstmordversuchs begann, in dessen Folge der Patient in Bells Praxis gelandet war. Dann gab es noch einen Teil, der sich den Partnern von Selbstmördern widmete, mit besonderem Augenmerk auf solche, die mehr als einen Ehepartner durch Suizid verloren hatten. »Manche Menschen, die selbst unterdrückte Selbstmordphantasien hegen«, schrieb Bell, »suchen die Nähe von Menschen, die in der Lage sind, sich das Leben zu nehmen. Weil sie selbst unfähig sind, sich in den Abgrund zu stürzen, brauchen sie jemanden, der an ihrer Stelle Selbstmord begeht.«
Cardinal kam zu dem Schluss, dass es wahrscheinlich keine gute Idee war, das Zeug jetzt zu lesen.
Er ging in die Küche, wo Kelly über ihren Skizzenblock gebeugt saß. Er nahm sich die Post vor, die Kelly auf der Anrichte abgelegt hatte. Das meiste war für Catherine: eine Fachzeitschrift für Fotografie, Benachrichtigungen von der Art Gallery von Ontario und dem Royal Ontario Museum über bevorstehende Ausstellungen, eine Rechnung von ihrer MasterCard und verschiedene Rundschreiben von der Northern University. Einige Umschläge waren an ihn adressiert. Weitere Kondolenzkarten.
Er suchte gerade nach dem Brieföffner, als das Telefon klingelte.
Es war Brian Overholt, ein Kollege von der Mordkommission in Toronto, den Cardinal schon seit Ewigkeiten kannte. Sie hatten vor mehr als zwanzig Jahren beim Drogendezernat zusammengearbeitet. Sie waren ein gutes Team gewesen, und Overholt war einer der wenigen Kollegen aus Toronto, die Cardinal manchmal vermisste. Cardinal hatte ihn wegen Connor Plaskett angerufen.
»John, ich hab was für dich. Plaskett ist tatsächlich tot. Ist vor ein paar Wochen hier im Kneipenviertel überfahren worden. Hat noch eine Weile auf der Intensivstation gelegen und ist am Samstag vor einer Woche gestorben.«
»War er bei euch in irgendwas verwickelt, über das ich Bescheid wissen müsste?«
»Uns ist nichts bekannt. Seine Kumpel haben das Weite gesucht, als er überfahren wurde, daraus kannst du deine eigenen Schlüsse ziehen. Die wollten auf keinen Fall der Polizei über den Weg laufen.«
»Habt ihr den Fahrer?«
»Nein, aber das ist nur eine Frage der Zeit. Kann ich sonst noch was für dich tun? Hallo? Bist du noch dran?«
Cardinal hatte während des Gesprächs einen der an ihn adressierten Umschläge geöffnet und starrte die Karte an, die er ihm entnommen hatte.
»Äh, ja. Vielen Dank, Brian. Vielleicht kann ich mich ja mal revanchieren.«
»Ganz bestimmt. Wenn ich das nächste Mal einen Eskimo suche, ruf ich dich an. Wie geht’s übrigens Catherine?«
»Ich muss los, Brian. Hab grade was reinbekommen.«
Dieser Umschlag war in Mattawa abgestempelt, genau wie der erste, wieder eine aufwendige Beileidskarte von Hallmark, wie man sie in jedem Schreibwarenladen und jedem größeren Supermarkt im Land kaufen konnte.
Der Absender hatte also mindestens drei davon gekauft. Vielleicht hatte er sie alle gleichzeitig in demselben Laden erworben. Einem Verkäufer würde jemand, der drei Beileidskarten auf einmal kaufte, womöglich auffallen.
Cardinal gab sich alle Mühe, als Polizist zu denken und sich von den Worten in der Karte nicht beeinflussen zu lassen.
Du musst ja ein großartiger Ehemann gewesen sein, stand da, genau wie bei den anderen Karten auf einen Zettel gedruckt, mit dem der Originaltext überklebt war. Sie wollte lieber sterben, als weiter mit dir zusammenzuleben. Denk mal drüber nach. Sie hat buchstäblich den Tod vorgezogen. Daran kannst du ablesen, was du wert bist.
Cardinal trat ans Fenster und hielt die Karte ins Licht. Ja, er konnte so gerade eine feine weiße Linie erkennen, die sich in der zweiten Zeile durch die Großbuchstaben zog. Der Text war also mit größter Wahrscheinlichkeit mit demselben Gerät ausgedruckt worden, und selbst wenn nicht, konnte er davon ausgehen, dass die Karte von demselben Absender stammte. Wer auch immer das war, Connor Plaskett konnte es nicht sein, denn der war vor Catherine gestorben.
Sie wollte lieber sterben, als weiter mit dir zusammenzuleben.
»Du kannst mich mal!« Cardinal schlug mit der Faust gegen die Kühlschranktür, so dass alle Magnete, Merkzettel und Fotos auf den Boden flogen.
»Dad, alles in Ordnung?«
Kelly war aufgesprungen und schaute ihn aus dunklen, besorgten Augen an.
»Alles in Ordnung.«
Sie fasste sich ans Herz. »Ich glaube, so hab ich dich noch nie fluchen hören.«
»Du wirst dich womöglich dran gewöhnen müssen«, sagte er, während er seine Jacke überzog.
Cardinal schnappte sich seine Wagenschlüssel.
»Du brauchst mit dem Abendessen nicht auf mich zu warten«, sagte er. »Ich weiß nicht, wie lange ich unterwegs sein werde.«