27

 

Dr. Bell trocknete sich die Hände ab und trat aus der Toilette. Da er kein Chirurg war, brauchte er sich nicht zu desinfizieren, aber das Händewaschen vor jedem Patientenkontakt war noch eine Angewohnheit aus der Zeit seines Medizinstudiums. Zu diesem Zweck benutzte er eine äußerst milde Glyzerinseife von Caswell-Massey, die leicht nach Mandeln duftete.

Es war ein Ritual, das ihm ein Gefühl der Macht verlieh, und das brauchte er jetzt, denn in letzter Zeit schien er nicht mehr ganz Herr seiner selbst zu sein. Seinen Gleichmut zu bewahren fiel ihm zunehmend schwerer, und immer wieder schlichen sich unerwünschte Gedanken in seinen Kopf. Manchmal ballte er unwillkürlich die Fäuste und verspürte große Lust, einige seiner Patienten so lange zu verprügeln, bis sie taten, was er wollte.

Er rief nach Dorothy, doch dann fiel ihm ein, dass sie ihm gesagt hatte, sie würde am Nachmittag weggehen, auch wenn er sich beim besten Willen nicht mehr erinnern konnte, wohin. Es musste das Alter sein, das begann, ihm zu schaffen zu machen.

Er öffnete die Tür zum »öffentlichen« Teil seines Hauses. Melanie saß auf ihrem üblichen Platz, allerdings nicht in ihrer üblichen Haltung. Sie las in einer Ausgabe von Toronto Life, die sie sich mitgebracht haben musste. Bell abonnierte den New Yorker für seine Praxis, um ihr einen intellektuellen Anstrich zu geben.

Melanie war so sehr in ihre Lektüre vertieft, dass sie nicht sofort aufblickte. Anscheinend war sie in vergleichsweise guter Verfassung, dachte Bell. Das Interesse an der Außenwelt war stets ein Anzeichen dafür, dass die Depression nachließ.

»Hallo, Melanie«, sagte er.

»Oh, hallo.« Sie stopfte die Zeitschrift in ihren Rucksack und folgte ihm ins Sprechzimmer.

»Ist es in Ordnung, wenn ich mich heute zur Abwechslung mal dorthin setze?« Sie zeigte auf einen Sessel neben dem Sofa.

»Selbstverständlich.«

Melanie ließ sich in den Sessel fallen. »Der Anblick des Sofas hat mich plötzlich total deprimiert, und da hab ich mir gesagt, vielleicht setze ich mich einfach mal woanders hin – irgendwo, wo man sitzt, wenn man nicht deprimiert ist.«

»Verstehe.«

»Ich meine, manchmal gehe ich mir schon selbst auf die Nerven. Dieses ewige Gestöhne und Gejammere. Und ich glaube, das liegt zum Teil daran, dass ich mir allmählich vorkomme wie ein hoffnungsloser Fall – eine kranke Frau, die sich andauernd bei ihrem Seelenklempner auf der Couch ausheult –, und ich dachte mir, vielleicht mach ich mal was ganz anderes.«

»Eine neue Perspektive, sozusagen.«

»Genau. Ich fühle mich gut heute. Besser jedenfalls.«

»Haben Sie deswegen um die Extrasitzung gebeten?«

»Mhm. Ich muss Ihnen was Wichtiges berichten, aber zuerst gehen wir den normalen Kram durch.«

»Aber gern. Bringen Sie mich auf den neuesten Stand, Melanie.«

Ihr ganzes Verhalten drückte eine Verbesserung ihres Zustandes aus. Große Schauspieler verstehen instinktiv die Physiognomie der Gefühle. Auf diesem Gebiet war Bell teilweise aufgrund seiner Veranlagung und teilweise aufgrund seiner langjährigen Erfahrung Experte. Die junge Melanie war im Moment fast eine Karikatur – nicht des Glücks, das traf ihren Zustand nicht ganz – nein, einer Mischung aus Erleichterung und Erregung. Man sah es deutlich an ihren ungewohnt animierten Gesichtszügen, den Brauen, die sich über ihrer Brille wölbten, anstatt sich zusammengezogen dahinter zu verkriechen. Man merkte es an ihren raumgreifenderen Gesten, an ihren Händen, die durch die Luft tanzten, während sie ihm erzählte, was sie im Lauf der vergangenen Woche erlebt hatte. Es zeigte sich in der entspannten Art, wie sie die Beine übereinandergeschlagen hatte, Knöchel auf Schenkel, anstatt wie üblich ihre Beine zusammenzupressen. Beim Sprechen wippte sie mit dem Knie. Bell unterdrückte das Gefühl extremer Frustration, das das alles in ihm auslöste.

»Ich hab es tatsächlich geschafft, innerhalb von ein paar Tagen einen kompletten Roman zu lesen«, sagte Melanie. »Wissen Sie, ich war total im Rückstand mit meinem Lesepensum für die Uni, aber auf einmal ist mir das Lesen ganz leicht gefallen. Es war dieser Roman von E. M. Forster, ich fand ihn plötzlich so spannend, dass ich mir wünschte, er würde nie aufhören. Die Charaktere haben mich fasziniert, die Art, wie Forster Dinge beschreibt, und ich war richtig froh, mal über was anderes nachzudenken als immer nur über mich selbst.«

»Sie haben sich nicht mit sich selbst, sondern mit anderen Dingen beschäftigt.«

»Genau. Und am meisten hat mich gewundert, dass es so einfach war.«

Sie rutschte auf dem Sessel nach vorn und warf ihre langen Haare nach hinten. Bell fiel auf, dass ihre Haare frisch gewaschen waren. Mit ihrem erwartungsvollen Gesicht erinnerte sie ihn nicht im Entferntesten mehr an eine ertrunkene Ratte.

»Es war absolut irre – ich musste das Buch lesen und hatte es immer und immer wieder vor mir hergeschoben, weil ich fürchtete, ich könnte mich nicht bis zum Ende darauf konzentrieren, und dass mich das dann noch mehr deprimieren würde –, aber es war wirklich verrückt, denn das Buch zu lesen war einfacher, als es nicht zu lesen. Verstehen Sie, was ich meine? Ich war fix und fertig, weil ich mit meinem Lesepensum im Rückstand war und weil ich mich einfach nicht aufraffen konnte, mit dem Lesen anzufangen. Ich war total deprimiert und hatte Schuldgefühle ohne Ende. Aber nachdem ich einmal mit dem Lesen angefangen hatte, lief alles bestens.«

»Das ist sehr erfreulich«, sagte Dr. Bell. »Können Sie sich erklären, was die Veränderung bewirkt hat?«

»Das ist ja das Komische. Mir ist nämlich was passiert, was mich eigentlich hätte total umhauen müssen, aber das hat es nicht getan. Ich meine, es hat mich schon umgehauen, aber nicht so, dass es mich deprimiert hätte. Ich hab noch keinem davon erzählt und …«

Bell wartete.

Melanie atmete tief aus und ließ die Schultern hängen. »Ich hab’s meiner Mutter nicht erzählt, ich hab’s Rachel nicht erzählt …«

Rachel war ihre ehemalige beste Freundin und derzeitige Hausgenossin. Melanie hatte Bell schon vieles anvertraut, worüber sie weder mit Rachel noch mit ihrer Mutter hatte sprechen können, und sie würde ihm auch diesmal alles erzählen.

»Ich hab den Dreckskerl gesehen«, sagte sie.

»Wirklich? Sie haben Ihren Stiefvater gesehen?«

»Meinen ehemaligen Stiefvater. Ich nenne ihn nur noch Dreckskerl, weil er genau das ist.«

»Nennen Sie ihn, wie Sie wollen. Aber ich dachte, er wäre in eine andere Stadt gezogen.«

»Ist er auch – aber nicht weit weg. Nach Sudbury.«

»Wo haben Sie ihn denn gesehen?«

»In der Algonquin Mall. Er kam gerade aus dem Radio Shack. Ich kam aus dem Shoppers Drug Mart, und er kam aus dem Radio Shack. Ich fasse es einfach nicht, dass er wieder hier ist.«

»Und trotzdem sagten Sie, es hätte Sie erleichtert.«

»Hab ich das gesagt?« Einen Moment lang sah sie ihn ausdruckslos an. »Kann sein.«

»Das ist der Mann, der Sie wiederholt missbraucht hat. Der Sie jahrelang als sein Sexspielzeug benutzt hat. Können Sie sich erklären, warum es sie erleichtert hat, ihn zu sehen?«

»Ich hab mich falsch ausgedrückt. Es hat mich nicht erleichtert, ihn zu sehen. Im Gegenteil, zuerst war es, als hätte ich einen Schlag in die Magengrube gekriegt. Ich hab mich buchstäblich vor Schmerzen gekrümmt. Aber dann bin ich ihm gefolgt. Er hat mich nicht gesehen. Und vielleicht hätte er mich nicht mal erkannt, wenn er mich gesehen hätte. Aber ich bin ihm zum Parkplatz gefolgt und hab ihn beobachtet, wie er in seinen Wagen eingestiegen ist. Es war niemand anders in dem Auto. Ich hab mir sein Kennzeichen aufgeschrieben.«

»Warum?«

Eine Hand hörte auf zu gestikulieren. »Ach, ich weiß nicht. Eigentlich hab ich gar nicht darüber nachgedacht. Hab’s einfach getan. Ich hab meinen Stift aus der Tasche genommen und die Nummer auf meine Hand geschrieben. Ist das nicht seltsam?«

»Finden Sie es seltsam?«

»Na ja, vielleicht nicht seltsam. Es war irgendwie instinktiv. Und die ganze Zeit hat mein Herz wie verrückt geklopft.« Sie schlug sich mehrmals mit ihrer kleinen Faust aufs Brustbein. »Bumm, bumm, bumm. Ich konnte es tatsächlich hören. Und als er weggefahren ist, bin ich ihm wieder gefolgt. Ist das nicht irre?«

»Erzählen Sie weiter.«

»Ich bin ihm bis nach Hause gefolgt. Er wohnt in so einem Einfamilienhaus mit einer Riesengarage. Ich hab beobachtet, wie er in der Einfahrt geparkt hat. Ich hab ein bisschen weiter die Straße runter angehalten und so getan, als würde ich eine Adresse suchen oder so, aber ich hab gesehen, wie er ins Haus gegangen ist. Jetzt weiß ich also, wo er wohnt. Zuerst wollte ich meine Mutter anrufen und ihr das alles erzählen, aber dann hab ich’s mir anders überlegt. Sie würde sich viel zu sehr aufregen. Sie kann es nicht mal ertragen, seinen Namen zu hören. Also hab ich meine Mutter nicht angerufen und bin ins Studentenheim gefahren, hab meine neue Radiohead-CD aufgelegt, mich aufs Bett gesetzt und mir die CD bis zum Ende angehört.«

»Woran haben Sie dabei gedacht?«

»An nichts. Ich glaub, ich hab an überhaupt nichts gedacht.«

»Wie haben Sie sich gefühlt?«

»Gut. Besser jedenfalls. So als wäre, ich weiß nicht, als wäre das große Gummiband, das mich die ganze Zeit fast erstickt hat, plötzlich gerissen. So als könnte ich wieder atmen.« Sie sah Bell fragend an. »Wie kann das sein?«

»Nun, einerseits mochten Sie ihn, erinnern Sie sich?«

»Ja, irgendwie schon.«

»Er hat Sie mit Engelszungen verführt, Sie dazu gebracht, dass Sie ihn mochten, ihm vertrauten. Er hat wundervolle Ausflüge mit Ihnen gemacht.«

»Stimmt. Er ist mit mir nach WonderWorld gefahren.«

»Und er hat Sie mit zum Musical Ride genommen, wie Sie mir erzählt haben. Er hat lauter Dinge mit Ihnen unternommen, die ein kleines Mädchen begeistern.«

»Aber das war es nicht, warum ich mich so gut gefühlt hab, nachdem ich ihn gesehen hatte.«

»Was dann? Können Sie mir das sagen?«

Natürlich wusste er, was es war. Ihren Stiefvater zu sehen, musste auf doppelte Weise positiv für sie gewesen sein. Erstens hatte es ihn auf normale Größe zurechtgestutzt, so dass er nicht länger das überlebensgroße Monster ihrer Phantasie war, sondern ein menschliches Wesen, ein Mann, der bei Radio Shack Batterien kaufte, der wie jeder andere auch auf dem Parkplatz in sein Auto stieg. Das war gut, damit konnte Bell arbeiten. Es war kein so großer Rückschlag, wie er befürchtet hatte. Aber es gab offenbar noch etwas, das sie ihm zu sagen versuchte.

»Hat Ihr Stiefvater Sie gesehen?«, fragte Bell. »Sie sagten, Sie sind ihm auf den Parkplatz gefolgt. Hat er Sie gesehen?«

»Nein.« Sie sagte es mit Nachdruck. Ohne jede Spur von Zweifel.

»Sie haben ihn gesehen, aber er Sie nicht. Wie haben Sie sich dabei gefühlt?«

»Überlegen.«

Bell nickte. Sollte sie das ruhig glauben. Sollte sie dieser Spur in den dunklen Tunnel folgen.

»Es war, als würde ich einen Vogel beobachten oder so. Ich meine, ich hatte Angst. Ich hatte tierisches Herzklopfen. Aber gleichzeitig hatte ich überhaupt keine Angst. Gleichzeitig hab ich mich richtig gut gefühlt.«

»Als wäre er ein Vogel«, sagte Bell, »und Sie …«

»Eine Katze.«

»Eine Jägerin.«

»Genau. Zur Abwechslung mal nicht die Gejagte.«

Sie lehnte sich zufrieden mit sich selbst im Sessel zurück, die Hände offen, entspannt. Sollte sie ihren kleinen Triumph ruhig auskosten. Am Ende würde sie womöglich sogar auf die Idee kommen, einen Angriff zu planen. Vollkommen uncharakteristisch. Aber das würde am Ergebnis nichts ändern. Die Kunst der Therapie bestand darin, den Patienten klarzumachen, welche Optionen sie hatten, und ihnen zu helfen, die richtige zu wählen. Aber nur ein mutiger Therapeut, nur ein ehrlicher Therapeut war in der Lage zu erkennen, dass Selbstmord die beste Option war.

Bell würde sie vorsichtig an den Rand des Abgrunds führen, wo sie das einsehen würde: Ja, nur ein Schritt, und alles Elend hätte ein Ende. Um das zu erreichen, musste er die Ruhe bewahren, doch die Wut und die Ungeduld führten schon wieder dazu, dass sein Herz flatterte, dass sein Atem flach und schnell ging. Am liebsten hätte er Melanie ins Gesicht geschlagen, er stellte sich den leuchtend roten Abdruck seiner Hand auf ihrer Wange vor. Aber er holte tief Luft und unterdrückte den Impuls.

»Haben Sie die Phantasie, Ihrem Stiefvater aufzulauern, um ihn zu bestrafen?«

»Also, wo wir jetzt so darüber reden, merke ich, dass ich total wütend auf ihn bin. Ich fände es in Ordnung, wenn er sich bei mir entschuldigen würde. Wenn er irgendwie anerkennen würde, dass er mir was ganz Schlimmes angetan hat.«

Ziemlich schwach, wenn man bedachte, dass Melanie Dinge über ihren Stiefvater erzählt hatte, für die er glatt für Jahre ins Gefängnis wandern würde, wenn es herauskäme. Wenn sie sich entschloss, zur Jägerin zu werden, konnte sie ihre Entschuldigung bekommen und auch ihre Rache. Aber das würde ihre Schuldgefühle mindern und ihr teilweise ihre Depressionen nehmen, und das war keine Lösung. Sie würde sich zu einer Frau entwickeln, die ewig herumjammerte und eine Last für ihre Umwelt war. Er ließ sie noch ein bisschen erzählen von Briefen, die sie vielleicht schreiben, Anrufen, die sie vielleicht machen würde, aber er würde noch einmal ausführlicher mit ihr über die Ereignisse in ihrer Kindheit sprechen müssen.

»Unsere Zeit ist fast um für heute«, sagte Bell, als Melanie endlich einmal Luft holte.

»Ja, ich weiß. Es ist immer ein blödes Gefühl, wenn die Stunde fast vorbei ist.«

»Ich möchte, dass Sie sich bis zum nächsten Mal ein paar Gedanken über einige Dinge machen. Erstens haben Sie den Brief nicht geschrieben wie versprochen.«

»Ach, den Abschiedsbrief? Den hab ich ganz vergessen. Ich meine, nachdem ich meinen Stiefvater gesehen hatte, hab ich einfach nicht mehr dran gedacht.«

»Sie haben überlegt, was Sie ihm vielleicht sagen möchten.«

»Das überlege ich immer noch.«

»Darüber können wir uns unterhalten. Aber zuerst möchte ich, dass Sie diesen Abschiedsbrief schreiben. Wenn Sie Ihre Depressionen überwinden wollen, ist es wichtig, diese Gedanken zu formulieren. Man muss dem Monster einen Namen geben, sozusagen.«

»Ich mache es. Versprochen.«

»Zweitens. Im Moment fühlen Sie sich Ihrem Stiefvater so überlegen, dass Sie glauben, Sie könnten ihn vielleicht dazu bringen, sich bei Ihnen zu entschuldigen. Das wäre tatsächlich eine gute Sache. Ich könnte Ihnen ein Dutzend Lehrbücher nennen, die genau das empfehlen. Aber wir wollen lieber nichts überstürzen.«

»Warum denn nicht? Meinen Sie nicht, er sollte sich für das entschuldigen, was er mir angetan hat? Sehen Sie mich an. Ich bin achtzehn Jahre alt, und an den meisten Tagen komme ich morgens kaum aus dem Bett. Und die halbe Zeit denke ich, es würde mir besser gehen, wenn ich tot wäre.«

»Wenn ich ein Chirurg wäre, würden Sie dann wollen, dass ich Sie überstürzt operiere?«

»Nein.«

»Wenn Sie einen Tumor hätten, würden Sie wollen, dass ich Ihre Chemotherapie abkürze? Selbst wenn die Behandlung Ihnen Übelkeit verursachen würde?«

»Nein, aber ich weiß nicht, ob man das vergleichen kann …«

»Nun, die Entscheidung liegt bei Ihnen, Melanie. Sie sind der Chirurg, nicht ich. Aber ich bin der Meinung, dass wir uns zunächst noch einmal ganz genau ansehen sollten, was Ihr Stiefvater Ihnen angetan hat. In allen Einzelheiten.«

»Ich soll Ihnen in allen Einzelheiten beschreiben, was er getan hat? O Gott, mir wird ja schon bei dem Gedanken ganz schlecht.«

»Solange Sie die Dinge nicht klar zum Ausdruck bringen, behalten sie ihre Macht über Sie. Außerdem könnte es sein, dass Ihnen nicht ganz klar ist, für was genau Ihr Stiefvater sich entschuldigen soll, wessen genau er sich schuldig gemacht hat. Ich finde, über diese Dinge sollten Sie sich absolut im Klaren sein.«

»Ich weiß ja, dass Sie recht haben. Es leuchtet mir wirklich ein, aber …«

»Aber?«

»Es ging mir so gut, als ich hergekommen bin. Und jetzt geht es mir so beschissen.«

»Man braucht Mut, um sich selbst in die Augen zu sehen, um die Dinge zu untersuchen, die einem Angst machen. Aber Sie sind eine starke junge Frau.«

»Das glaube ich nicht. Im Moment fühle ich mich total elend.«

»Also.« Bell erhob sich. »Nächstes Mal werden wir eine Menge zu bereden haben. Dann haben wir Ihren Abschiedsbrief und eine detaillierte Beschreibung all dessen, was Ihr Stiefvater mit Ihnen gemacht hat. Das können Sie auch alles schriftlich festhalten, wenn Sie wollen. Vielleicht fällt Ihnen das leichter, als es mir gegenüber offen auszusprechen. Aber wir werden natürlich darüber reden müssen.«

»Ich glaube, über manche Sachen, die er mit mir gemacht hat, kann ich einfach nicht sprechen.«

»Es besteht kein Grund zur Eile«, sagte Bell. »Wir gehen in dem Tempo vor, das Sie bestimmen, und kein bisschen schneller.«

Melanie nahm ihren Rucksack und stand auf. Alle Energie war aus ihr gewichen, und sie sah wieder aus wie eine ertrunkene Ratte.

»Also gut«, sagte sie. »Dann bis zum nächsten Mal.«

»Auf Wiedersehen, Melanie.«