Wo steckt Tuwal?

 

 

Erfahrung lehrt, daß sich die meisten Dinge nach einer gewissen Zeit von selbst erledigen, sogar während einer Kabinettskrise. Echte Schwierigkeiten entstehen erst, wenn der Botenjunge ausbleibt. Anscheinend ist es leichter, Minister zu finden als einen Botenjungen. Sie müssen ja auch nicht radfahren können.

 

Gottes unerforschlicher Ratschluß hatte entschieden, daß unser Kühlschrank in Streik treten sollte. Mich beunruhigte das in keiner Weise, denn ich besaß einen Garantieschein und brauchte nichts weiter zu tun, als ihn ausgefüllt an die Fabrik zu schicken. Dann lehnte ich mich zurück und wartete.

Nach einigen Tagen begannen die im ehemaligen Kühlschrank aufbewahrten Nahrungsmittel zu gären. Ich rief die Fabrik an.

»Sie sind nicht der einzige, Herr«, teilte mir der Manager bedauernd mit. »Wir bekommen schon seit drei Tagen keine Post.«

»Was heißt das? Warum?«

»Unser Botenjunge ist nicht gekommen.«

Ich erfuhr, daß Tuwal, der vierzehnjährige Botenjunge des Unternehmens, der am Morgen immer die Post holte, seit Sonntag ausgeblieben war und dadurch den ganzen Betrieb zum Stocken gebracht hatte. Das Postamt ist ziemlich weit von der Fabrik entfernt, und Tuwal hatte ein Fahrrad.

»Wir wissen nicht, was mit ihm los ist«, fuhr der Manager fort. »Er hat uns noch nie sitzen lassen. Vielleicht ist er krank.«

Da unser Eisschrank weiter vor sich hingärte, rief ich zwei Tage später den Manager abermals an.

»Nichts Neues«, sagte er bereitwillig. »Bei uns geht’s drunter und drüber. Briefe, Rechnungen, Bestellscheine und alle möglichen Schriftstücke, die schon längst unterwegs sein sollten, häufen sich auf meinem Schreibtisch, und ich habe keinen Botenjungen, der sie befördern würde. Auch die innerbetrieblichen Verbindungswege sind unterbrochen. Versuchen Sie sich das Chaos vorzustellen. Wir sind bekanntlich Armeelieferanten.«

Mir kam ein rettender Gedanke:

»Könnten Sie sich nicht erkundigen, was mit Tuwal geschehen ist?

»Daran haben wir auch schon gedacht. Aber er wohnt weit außerhalb der Stadt und wir haben keinen Botenjungen…«

Um diese Zeit stank es aus unserem Kühlschrank schon so erbärmlich, daß man es nicht mehr riskieren konnte, ihn zu öffnen. Ich telefonierte dreimal täglich mit dem Manager, um mich nach Tuwal zu erkundigen. Er war immer noch nicht gekommen. Niemand wußte, was mit diesem sonst immer so verläßlichen Jungen los war. Eine typisch israelische Tragödie: wenn es feststünde, daß Tuwal nicht mehr zurückkäme, dann, so erläuterte mir der Manager, würde man die Fabrik vielleicht zusperren oder eine näher zum Postamt gelegene aufbauen. Aber so? Diese quälende Ungewißheit war entsetzlich. Das Direktorium hatte das Problem bereits dem Verteidigungsminister unterbreitet. Auf den Fließbändern herrschte die reinste Anarchie, denn es gab keinen Botenjungen, der die Anweisungen und Entwürfe ausgetragen hätte. Auch die Finanzgebarung stand vor einer Katastrophe, da Schecks weder ab- noch eingingen.

»Haben Sie«, erkundigte ich mich vorsichtig, »schon daran gedacht, einen anderen Botenjungen zu suchen?«

»Unmöglich. Diese jungen Bengel wollen ja nicht arbeiten. Sie lassen sich das Geld für zehn Busfahrten geben und verschwinden. Aber Tuwal hat ein Fahrrad. Wir müssen auf ihn warten…«

Auf der Börse fielen die Aktien der Gesellschaft um vier Punkte, als bekannt wurde, daß ihr Botenjunge sie verlassen hatte. Aus diesem Grund waren auch größere Unternehmen schon in Konkurs gegangen.

Wo steckte Tuwal? Warum kam er nicht?

Wir schoben den Kühlschrank, der nun schon ganz eindeutig ein Pestschrank geworden war, auf den Balkon hinaus und versperrten die Türe. In den Zeitungen lasen wir von neuen Spannungen an der syrischen Grenze. Sollten die Syrer beabsichtigen, Tuwals Erkrankung auszunützen?

Als ich gestern wieder den Manager anrief, meldete sich an seiner Stelle der Konkursverwalter, der zu retten versuchte, was noch zu retten war. Angeblich hat der Handelsminister einen genauen Bericht über den Hergang des Bankrotts angefordert. Der Bericht ist seit Tagen fertig, kann aber nicht zugestellt werden, weil kein Botenjunge da ist.

In seiner nächsten Sitzung wird sich der Ministerrat mit der Angelegenheit beschäftigen.