Des Fiedlers Fluch
Zwecks Verbesserung der israelischen Außenhandelsbilanz haben wir mit dem Export von Schauspielern begonnen. Sie sind auf der ganzen Welt sehr gefragt, nicht nur weil sie Talent haben, sondern – mehr noch – weil sie die betreffenden Theater allabendlich mit reisenden Israelis füllen.
Im Mittelpunkt Londons, genauer: im Mittelpunkt der Welt, erhebt sich »Her Majesty’s Theatre«. Dortselbst geht allabendlich, als wäre das etwas ganz Natürliches, das jüdische Musical ›Fiddler on the Roof‹ vor sich (das in deutschsprachigen Gegenden ›Anatevka‹ heißt). Die Hauptrolle spielt der berühmte israelische Schauspieler Chaim Topol, unterstützt vom einem größtenteils israelischen Ensemble. Topol hat einen Vertrag mit dem Theater, der ihn verpflichtet, jeden Abend persönlich aufzutreten. Das israelische Ensemble hingegen wechselt je nach Zahl und Zusammensetzung der israelischen Touristen, die sich gerade in London aufhalten. Die Bande zwischen dem Star und dem Ensemble wurden noch in Israel geknüpft, beispielsweise als das Ehepaar Billitzer aus Tel Aviv eine Reise nach London vorbereitete, wobei Frau Billitzer sich mit folgenden Worten an Herrn Billitzer wandte: »Und vergiß nicht die Eintrittskarten zu ›Fiddler on the Roof‹!«
Daraufhin schickte Herr Billitzer ein dringendes Telegramm an CHAIM TOPOL LONDON mit folgendem Text: »BRAUCHE ZWEI GUTE SITZE WOMÖGLICH MITTE FÜR 22. JULI BILLITZER.«
Sofort nach ihrer Ankunft begaben sich die Billitzers zum Theater. Eine enorme Schlange von Wartenden empfing sie. Die Schlange ringelte sich um zwei Häuserblocks, ungeachtet des Plakats vor dem Theatereingang, das in großen Lettern verkündete: »Bis 31. Dezember vollständig ausverkauft. Einige Karten für nächstes Jahr noch erhältlich.«
Unter solchen Umständen erhebt sich die Frage, warum trotzdem so viele Leute allabendlich Schlange stehen.
Die Antwort ist einfach. Sie stehen Schlange, um zu Chaim Topol vorzudringen und mit seiner Hilfe ins Theater zu gelangen. Der betagte Bühnenportier stemmt sich der Masseninvasion tapfer entgegen und fragt jeden einzelnen der Herandrängenden, ob er von Herrn Topol eingeladen sei. Auch Herrn Billitzer fragte er. Da kam er aber schön an:
»Was heißt ›eingeladen‹? Wozu brauche ich eine Einladung? Ich bin mit Herrn Topol befreundet!«
Mit diesen Worten stürmen Herr Billitzer, seine Gattin und seine zufällig in London anwesende Schwester die Garderobe des berühmten Schauspielers und teilen ihm mit, daß sie nicht, wie telegrafisch angefordert, zwei Billets brauchen, sondern drei, womöglich Mitte.
Topols Garderobe ist in zwei Flügel geteilt, wie es sich für einen internationalen Star gehört. Topol selbst führt soeben ein Ferngespräch.
»Sie kennen mich nicht persönlich«, brüllt die Stimme am andern Ende des Drahts. »Wir haben uns zwar einmal in Natania getroffen, aber daran werden Sie sich wahrscheinlich nicht mehr erinnern. Macht nichts. Ich habe zwei guten Freunden in London versprochen, daß ich ihnen für nächste Woche zwei Karten zum ›Fiddler‹ verschaffe. An irgendeinem Abend der nächsten Woche. Wir richten uns nach Ihnen.«
»Nächste Woche…«, antwortet Topol, während er in seinem Vormerkkalender blättert. »Nächste Woche wird es sehr schwer sein…«
»Wieso schwer? Für Sie als Star der Aufführung ist das doch eine Kleinigkeit! Deshalb wende ich mich ja direkt an Sie. Wir haben uns in Natania kennengelernt. Also wann?«
»Das kann ich Ihnen heute noch nicht sagen. Ich telegrafiere Ihnen, sobald ich es weiß.«
»Gut. Aber vergessen Sie nicht: vorne und Mitte.«
Topol legt den Hörer auf. Er hat sich, seit er in London gastiert, kaum verändert, nur sein Haar ist von silbrigen Fäden durchzogen. Auch kann er ein nervöses Augenzwinkern nicht immer unterdrücken. Im übrigen hört er geduldig zu, wie ihm jetzt Herr Avigdor, der Inhaber des Büffets in der Autobuszentrale von Tel-Aviv, die Sachlage erklärt.
»Sie haben einen großen Erfolg«, erklärt Herr Avigdor, »und den müssen Sie ausnützen. Glauben Sie mir. Ich weiß, wovon ich spreche. Sie dürfen sich nicht zu billig verkaufen. Sie müssen Geld machen, solange Sie noch berühmt sind. Wenn Sie wünschen, nehme ich das selbst in die Hand…«
»Nach der Vorstellung, bitte«, fleht Topol ihn an. »Jetzt muß ich mich für meinen Auftritt fertigmachen.«
Er wendet sich ab und versucht ein paar Worte mit Danny Kaye zu wechseln, der in eine Ecke des andern Garderobenflügels geflüchtet ist und angstvoll die Szenerie beobachtet. Gerade als Topol sich zu ihm durchgeschlagen hat, wird die Türe aufgestoßen und eine Gruppe von Touristen, die von einem Reisebüro in Tel-Aviv betreut werden, ergießt sich in den Raum. Sie schwingen Prospekte, in denen ganz deutlich steht: »Donnerstag: Spaziergang durch den Hyde Park, Besuch im Parlament und in der Garderobe von Chaim Topol, gemütliches Beisammensein mit dem Schauspieler nach Schluß der Vorstellung, gemeinsames Abendessen.« Der Fotograf, der die Gruppe begleitet, schickt sich an, die denkwürdige Begegnung im Bild festzuhalten. Während er Topol auffordert, einem der ihn Umringenden mit freundlichem Lächeln die Hand zu schütteln, ertönt das zweite Klingelsignal, welches anzeigt, daß der Vorhang in zehn Minuten aufgehen wird.
»DOPPELZIMMER MIT BAD UND ZWEI TICKETS FÜR 27.JULI
GRUSS DR FRIEDMANN«,
lautet der Text des Telegramms aus Haifa, das dem Schauspieler soeben eingehändigt wird.
Gleich darauf erscheint der Garderobier, der von einem Schwarzhändler vor dem Theater die dritte Karte für Billitzers Schwester erworben hat. Topol zahlt, da Billitzer sich in der fremden Währung nicht auskennt. Billitzer verspricht, den Betrag morgen zu retournieren, oder, noch besser, ihn aus Tel-Aviv zu überweisen. Unterdessen bestellt Topol das von Dr. Friedmann gewünschte Doppelzimmer mit Bad und versucht gleichzeitig, der hartnäckig an seiner Seite verbleibenden Frau Wexler etwas klarzumachen:
»Es geht nicht, Madame. Wirklich nicht. Alle Schauspieler sind für die Laufzeit des Stückes fix engagiert. Die Theaterleitung kann Ihretwegen nicht kontraktbrüchig werden…«
Die Sache ist die, daß Frau Wexler die Rolle der Heiratsvermittlerin übernehmen möchte. Sie hat in Polen große schauspielerische Erfahrung gesammelt, von der sie leider in Israel bisher noch keinen Gebrauch machen konnte, da sie nicht Hebräisch spricht. Sie spricht auch nicht Englisch, aber das kann man ja lernen, was zahlen die hier?
Topol verteilt Autogramme an einen Trupp englischer Pfadfinder und lehnt mit der andern Hand das Angebot einer jüdischen Delegation aus Birmingham ab, die ihn zum Gemeindevorsteher ernennen will, vorausgesetzt, daß er den führenden Tanz- und Gesangspart in ihrer Weihnachtspantomime übernimmt. Gestern haben sie einen ähnlichen Vorschlag dem Bischof von Liverpool gemacht, der jedoch wegen Arbeitsüberlastung ablehnen mußte. Also darf Topol sie jetzt unter gar keinen Umständen enttäuschen.
Topol enttäuscht sie und wird im gleichen Augenblick von einer blonden Flugzeug-Stewardess umarmt, die morgen mit sämtlichen Besatzungsmitgliedern den ›Fiddler‹ sehen will.
Neun Karten, womöglich Mitte.
Topol sitzt vor dem Spiegel und schmiert sich schwarze Tusche unter die Augen, um älter auszusehen. Eine überflüssige Maßnahme. Er schaut viel älter aus, als er ahnt. Der Buffetbesitzer Avigdor steht hinter ihm und zeigt ihm, wo noch etwas Schwarz hingehört.
Drittes Klingelzeichen. Zweites Kabel von Dr. Friedmann: »EILSENDET ZWEI ROUNDTRIP TICKETS TOURISTENKLASSE FÜR 27. JULI.«
Ein würdig aussehender Herr in Cut und Zylinder versucht an Topol heranzukommen, der ihm aber schon von weitem in hebräischer Sprache zuruft, daß es für heute wirklich keine Karten mehr gibt, Ehrenwort. Der würdig aussehende Herr wendet sich achselzuckend ab, weil er kein Wort verstanden hat. Er ist der Lord Mayor von London.
»Kommen Sie morgen zu mir ins Hotel«, ruft Topol hinter ihm her, immer noch hebräisch. Seine Stimme klingt heiser.
»Er sollte besser auf sich aufpassen«, flüstert Billitzer seiner Schwester ins Ohr und läßt eine Mentholtablette in Topols Mund gleiten. »Übrigens – wie hoch ist Ihre Gage? Angeblich 10 000 Dollar pro Abend. Stimmt das?«
Letztes Signal.
Bald darauf durchflutet Topols männlicher Baßbariton das Haus: »Tradition, Tradition…« Die Vorstellung hat begonnen. Das als kühl verschrieene englische Publikum tobt vor Begeisterung, applaudiert nach jeder Gesangsnummer Topols minutenlang und vergießt Tränenströme bei der Szene, in der sich Topol von seiner Tochter, die einen Christen heiraten will, lossagt. Tradition.
Die Israelis unter den Zuschauern informieren den jeweils zunächstsitzenden Engländer, daß sie aus Israel kommen und mit Topol persönlich befreundet sind.
Nach Schluß der Aufführung gibt es zahllose Vorhänge und Hervorrufe für Topol, der sich schließlich allein verbeugt. Einigermaßen befremdend wirkt, daß er bei seiner zweiten Verbeugung von Herrn Avigdor und Frau Wexler flankiert wird. Die übrigen Israelis erwarten ihn in der Garderobe.
»Ich habe geweint«, eröffnet ihm Herr Billitzer. »Geweint wie ein kleines Kind. Auch einige Engländer habe ich weinen sehen. Daß Gott uns so etwas erleben läßt! Sie haben wirklich einen Riesenerfolg, Topol. Aber ganz unter uns: Shmuel Rodensky ist besser…«
Einer der tiefbewegten israelischen Besucher weist darauf hin, daß es mit Topols Erfolg nicht gar so weit her sei, weil ja der größte Teil des Publikums aus Israelis bestanden hätte, und Landsleute applaudieren immer.
»Ich finde, daß er sehr gut war«, weist der Büffet-Avigdor die Kritiker zurecht und schlägt dem erschöpften Topol ein neues Geschäft vor: einen hebräischen Stadtplan von London zu drucken, für die Besucher aus Israel. Er, Avigdor, würde dem Unternehmen seinen Namen zur Verfügung stellen, Topol das Geld.
»Unsinn«, widerspricht Billitzer, der sich einen Platz an Topols Seite erkämpft hat. »Für ihn darf es jetzt nichts andres geben als den Film. Solange er noch berühmt ist, muß er das ausnützen. Mein Schwager kennt einen Filmproduzenten in Brasilien…«
Ein Team des britischen Fernsehens bemüht sich vergebens, die Kamera in Stellung zu bringen. Das britische Fernsehen möchte den »König des Musicals«, wie er von der Presse genannt wird, beim Abschminken in seiner Garderobe zeigen, kann aber infolge technischer Schwierigkeiten nicht bis zu ihm vordringen.
»Ich habe Topols Vater gekannt, als Sie, Mister, noch gar nicht wußten, daß es einen Topol gibt.« Mit diesen Worten weist
Frau Wexler einen Kameramann zurück, der sie beiseiteschieben wollte. »Also seien Sie gefälligst etwas bescheidener und erzählen Sie mir nicht, wo ich stehen soll.«
Topol öffnet die inzwischen eingetroffenen Telegramme. »BESORGT BABYSITTER FÜR 27. JULI FRIEDMANN«, lautet das erste.
Topol reicht den Auftrag an seinen Garderobier weiter und macht einen unvermuteten Panthersatz in Richtung Badezimmer, wo er endlich ungestört ein paar Worte mit Danny Kaye wechseln kann. Einige Israelis fühlen sich durch sein Benehmen gekränkt und verlassen demonstrativ den Raum, um Verstärkung zu holen.
»Er ist wirklich nicht schlecht«, wendet sich Herr Billitzer an einen neben ihm stehenden Herrn. »Nur der Akzent stört ein bißchen.«
»Finden Sie?« erwidert kühl und abweisend der Herzog von Kent, der mit der Herzogin gekommen ist, um dem Star der Aufführung zu gratulieren. Billitzer – nachdem ihm klar geworden ist, mit wem er es zu tun hat – stellt sich vor und fragt das herzogliche Paar, ob man für ihn vielleicht eine Audienz bei der Königin arrangieren könnte, oder etwas Ähnliches.
Ein Anruf von der Israelischen Botschaft, dessen Inhalt der Garderobier durch die Badezimmertür an Topol weitergibt, kündigt für den 8. August eine Gruppe von vierzehn Parlamentariern aus Jerusalem an, und Herr Topol möchte so freundlich sein, die nötigen Vorkehrungen zu treffen, womöglich Mitte.
Avigdor berät sich mit einem Anwalt, den er aus Tel-Aviv kennt, und ist einverstanden, die Partnerschaft mit Topol auf eine neue Grundlage zu stellen: 45% für ihn und 55% für Topol, der aber unverzüglich das Investitionskapital flüssig machen muß.
Topol erscheint in der Badezimmertür. Siebzehn Fotografen lassen gleichzeitig ihre Blitzlichter aufflammen, die übrigen Anwesenden stürzen auf Topol zu und verlangen Autogramme in ihre Programmhefte, in ihre Notizbücher oder auf ein von Topol bereitzustellendes Blatt Papier.
Der Bürgermeister von London verabredet für Donnerstag ein Rendezvous mit Frau Wexler.
Der Herzog von Kent sucht vergebens nach seinem Theaterglas, das ihm im Gedränge entfallen ist.
Die von einem israelischen Reisebüro organisierte Gruppe macht sich zum Abendessen mit Topol bereit. Es ist eine in Großbritannien, Irland und dem gesamten Commonwealth wohlbekannte Tatsache, daß ein Teil des Publikums nach jeder Vorstellung auf Topols Kosten in einem der besseren Restaurants diniert. Tradition, Tradition. Sogar die Taxichauffeure wissen das und empfangen die aus der Bühnentür Hervorquellenden mit dem Ruf: »Topol-Tour! Topol-Tour!«
Topol schwingt sich in das erste Taxi, die Mitglieder der israelischen Dinnergesellschaft verteilen sich auf die nächsten neun Fahrzeuge und folgen dem ersten.
Der Konvoy schlägt die Richtung zum Viertel der teuersten Abendrestaurants ein. Topol sieht in seiner Brieftasche nach, ob er genug Bargeld bei sich hat, um für 40 Personen zu zahlen (36 Israelis und 4 Engländer, die sich der Gruppe auf gut Glück angeschlossen haben). Er zeigt leise Anzeichen von Müdigkeit, die sich niemand erklären kann.
»Na ja«, bemerkt Billitzer zu seiner Schwester. »Der Erfolg steigt ihm eben zu Kopf. Das ist nicht mehr der alte, freundliche Topol, wie wir ihn aus Tel-Aviv kennen. Schade.«