Rote Haare sind Ansichtssache
Möge niemand auf den absurden Gedanken verfallen, daß wir gegen die Haarfarbe unseres kleinen Amir etwas einzuwenden hätten. Gehört es doch zu den Eigenheiten echtbürtiger Vorderorientalen, daß sie manchmal eine gewisse Neigung zur Rothaarigkeit aufweisen. Menschen mit roten Haaren sind ein schöner, farbenfroher Anblick. Meine kleine Frau und ich haben uns nichts sehnlicher gewünscht als ein rothaariges Kind. Leider haben wir drei.
Die wahre Sachlage ist mit der Bezeichnung »rot« nur unzulänglich charakterisiert. Amir ist nicht eigentlich rot –, er ist purpurhaarig. Als wäre in seinem Schädeldach Feuer ausgebrochen. Man findet dieses Rot gelegentlich auf den Bildern des frühen Chagall, dort, wo die fliegenden Hähne den Kamm haben. Mir persönlich macht das nichts aus. Das Phänomen der Rothaarigkeit hat, finde ich, auch seine guten Seiten. Wenn Amir uns beispielsweise in einem Gedränge abhanden kommt, können wir ihn binnem kurzem dank seiner Haarfarbe orten, selbst in der größten Menschenmenge. Schlimmstenfalls wird er also kein Stierkämpfer werden. Na wenn schon. Ist das ein Gesprächsthema?
Ich muß zugeben, daß auf dem ganzen, weit verzweigten Stammbaum meiner Familie kein einziger Rotkopf hockt, nicht einmal irgendein entfernter Urgroßonkel. Wieso gerade mein Sohn… Aber schließlich waren einige der bedeutendsten Männer der Weltgeschichte rothaarig, zum Beispiel fällt mir jetzt kein Name ein. Churchill, heißt es, kam sogar mit einer Glatze zur Welt.
»In meinen Augen«, pflegt die beste Ehefrau von allen zu sagen, »ist Amir das schönste Kind im ganzen Land.«
Amir selbst scheint der gleichen Ansicht zu sein. Noch bevor er richtig gehen konnte, nahm er jede Gelegenheit wahr, sich in einem Spiegel anzuschauen und verzückt auszurufen:
»Ich bin lothaalig, ich bin lothaalig!«
Er fühlte sich von Herzen froh und glücklich. Wir, seine klugen, erfahrenen Eltern, wußten freilich nur allzu gut, was ihm bevorstand. Schon im Kindergarten würde das kleine, grausame Pack ihn wegen seiner Haarfarbe necken und hänseln. Armer Rotkopf, wie wirst du das Leben ertragen.
Unsere Sorgen erwiesen sich als gerechtfertigt. Amir besuchte erst seit wenigen Wochen den Kindergarten, als er eines Tages traurig und niedergeschlagen nach Hause kam. Auf unsere Frage, ob ihm jemand etwas Böses getan hätte, begann er zu schluchzen:
»Ein Neuer… heute… er sagt… rot… rote Haare…«
»Er sagt, daß du rote Haare hast?«
»Nein… er sagt… seine Haare sind röter.«
Ein Kind, und vollends schluchzendes Kind, kann sich nicht immer verständlich ausdrücken. Deshalb riefen wir den Leiter des Kindergartens an, um die Sachlage zu klären. Er bestätigte, daß ein neu hinzugekommener Junge ebenfalls rothaarig sei und daß unser empfindsamer Sohn offenbar unter dem Verlust seiner Monopolstellung litt.
Amir hatte mittlerweile die ganze Geschichte vergessen und ging in den Garten, um sich vor der Katze zu fürchten.
»Jetzt ist er noch im seelischen Gleichgewicht«, erklärte mir seine Mutter. »Er hält rote Haare für schön und freut sich ihrer. Aber wie wird’s in der Schule weitergehen?«
Im Verlauf unseres Gesprächs gestand sie mir, daß sie in ihren Träumen von einer stereotypen Schreckensvision heimgesucht würde: Amirlein rennt auf seinen kleinen Beinchen eine Straße entlang, verfolgt von einer brüllenden Kohorte (meine Frau träumt immer so extravagante Ausdrücke), die mit dem Ausruf: »Karottenkopf, Karottenkopf!« hinter ihm herhetzt.
Und wirklich, ein knappes Vierteljahr später kam Amir atemlos nach Hause gerannt.
»Pappi, Pappi!« rief er schon von weitem. »Heute haben sie mich ›Karottenkopf‹ gerufen!«
»Hast du dich mit ihnen geprügelt?«
»Geprügelt? Warum?«
Es ist ihm immer noch nicht klar, dem Ärmsten, daß man ihn vorsätzlich kränken will. Wahrscheinlich stellt er sich unter einem Karottenkopf ein besonders schmackhaftes Gemüse vor. Manchmal stolziert er siegestrunken auf der Straße auf und ab, deutet auf seinen Kopf und jauchzt:
»Karottenkopf, Karottenkopf!«
Wie lange sollen wir ihn seinem seligen Irrtum belassen? Ist es nicht unsere Pflicht, ihn rechtzeitig aufzuklären, ihn auf die Erniedrigungen und Beleidigungen vorzubereiten, von denen seine kleine Kinderseele nichts ahnt und die dennoch unaufhaltsam auf ihn zukommen? Wird er gewappnet sein?
»Du bist der Vater«, entschied die beste Ehefrau von allen. »Sprich du mit ihm.«
Ich nahm Amir auf die Knie:
»Es ist keine Schande, rote Haare zu haben, mein Sohn«, begann ich. »Niemand kann sich die Farbe seiner Haare aussuchen, stimmt’s? König Davids Haar war flammend rot, und trotzdem hat er Goliath besiegt. Wenn also irgendein Idiot eine dumme Bemerkung über deine Haarfarbe macht, dann sage ihm geradeheraus: ›Jawohl, ich bin rothaarig, aber mein Pappi nicht!‹ Hast du verstanden?«
Amir hörte mir nicht besonders aufmerksam zu. Er wollte längst hinausgehen und den Hund unseres Nachbarn mit Steinen bewerfen. Ein wenig abwesend streichelte er mich und murmelte ein paar Worte, die ungefähr besagten, daß ich mir nichts daraus machen sollte, keine roten Haare zu haben. Dann ließ er mich sitzen.
Nun, jedenfalls war er das schönste rothaarige Kind im ganzen Kindergarten. Er bestand darauf, seine roten Haare als Auszeichnung zu empfinden. Rothaarige sind sehr eigensinnig. Man muß sich nicht selten über sie ärgern. Es ist kein Zufall, daß man rothaarige Menschen nicht mag. Ich persönlich verstehe das sehr gut.
Meine Frau und ich beschlossen, die Sache nicht weiter zu verfolgen, zumindest nicht mit Gewalt. Wir ließen das Schicksal an uns herankommen.
Als draußen vor dem Haus die Rauferei ausbrach, wußten wir, daß es soweit war.
Ich stürzte hinaus. Mein Sohn Amir saß auf einem Fahrrad und heulte herzzerreißend, während die anderen Kinder – sofern man diese wilde Meute als »Kinder« bezeichnen konnte – von allen Seiten auf ihn eindrangen. Ich brach durch den stählernen Ring und drückte meinen kleinen Liebling ans Herz.
»Wer hat dich einen Rotkopf geheißen?« brüllte ich. »Wer wagt es, meinen Sohn zu beschimpfen?«
Die minderjährigen Monster blinzelten in die Luft und zogen es vor, nicht zu antworten.
Es war Amir selbst, der die klärenden Worte fand:
»Was Rotkopf, wer Rotkopf?« fragte er. »Ich hab mir Gillis Fahrrad ausgeborgt und er will es zurückhaben. Aber ich kann viel besser radeln als er. Warum läßt er mich nicht?«
»Das ist mein Rad«, stotterte einer der Knaben, wahrscheinlich Gilli. »Und ich hab’s ihm nicht geborgt.«
»So, du hast es ihm nicht geborgt? Weil er rote Haare hat, nicht wahr?«
Und ohne mich mit der widerwärtigen Brut weiter abzugeben, trug ich Amir auf starken Armen ins Haus. Während ich ihm das Gesicht wusch, tröstete ich ihn mit all meiner väterlichen Liebe:
»Du bist kein Rotkopf, mein Herzblättchen. Deine Haare spielen ins Rötliche, aber sie sind nicht wirklich rot. Bei richtigen Rotköpfen ist die ganze Nase mit Sommersprossen bedeckt. Du hast höchstens vier, und auch die nur im Sommer. Kränk dich nicht. Es hat rothaarige Könige gegeben. Und die schönsten Tiere, die Gott geschaffen hat, sind rothaarig. Zum Beispiel der Fuchs. Oder der Wiedehopf, wenn er zufällig rote Federn hat. Du aber bist nicht rothaarig, Amir. Glaub ihnen nicht, wenn sie dich Rotkopf nennen. Sei nicht traurig. Hör ihnen gar nicht zu, mein kleiner Rotkopf…«
Es half nichts. Die Überzeugung, daß rote Haare etwas Schönes wären, hatte sich in Amir festgesetzt und ließ sich nicht verdrängen. Er meint, daß Rothaarige anders seien als die anderen.
Daran ist nur der Kindergarten schuld, wo man den Kleinen solchen Unsinn beibringt.
Gestern ertappte ich ihn dabei, wie er vor dem Spiegel stand und seine Sommersprossen zählte. Meine Frau behauptet, daß er sich heimlich kämmt und bürstet und alle möglichen Frisuren für seine Haare entwirft.
»Warum?« seufzte sie. »Warum läßt man ihn nicht in Ruhe? Warum reibt man ihm ununterbrochen unter die Nase, daß er rothaarig ist?«
Ich weiß auf diese Frage keine Antwort. Aber ich hege das tiefste Mitgefühl für alle rothaarigen Kinder, besonders für jene, deren Eltern nichts dazu tun, um sie von ihrem Rothaar-Komplex zu befreien.
Nun ja. Nicht jedes Kind hat das Glück, solche Eltern zu haben wie unser Amir.