Klepto-Philatelie
Daß die gesellschaftlichen Barrieren allmählich niedergerissen werden, zeitigt auch bei uns in Israel ermutigende Resultate. Nachdem die Menschen der Steinzeit Beute und Frauen miteinander geteilt hatten und die Kibbuz-Menschen ihre wirtschaftliche Arbeit und deren Ertrag, hat sich in Tel Aviv das radikalste aller Teilungsverfahren entwickelt. Es betrifft den Posteinlauf.
Vor etwa einer Woche begann mir aufzufallen, daß ich keine Briefe mehr bekam. Ich glaubte zuerst, daß ein Postnovize die Briefe nach einem neuen, geheimnisvollen Schlüssel zustellte. Gestern entdeckte ich durch Zufall die wahre Ursache. Als ich zu ungewohnter Stunde das Haus verließ, sah ich einen minderjährigen Angler, den Sohn der im Nebenhaus lebenden Familie Ziegler, wie er mit zwei zarten Fingern in den Schlitz meines Briefkastens fuhr und gleich auf den ersten Griff drei oder vier Briefe hervorzog. Bei meinem Anblick ergriff er die Flucht.
Ich begab mich ebenso schnurstracks wie wutschnaubend zu Herrn Ziegler, der bereits an der Schwelle seines Hauses stand.
»Was los?« fragte er.
»Herr!« schleuderte ich ihm entgegen, »Ihr Sohn stiehlt meine Briefe!«
»Er stiehlt keine Briefe. Er sammelt Briefmarken.«
»Wie bitte?«
»Hören Sie«, holte Herr Ziegler aus. »Ich lebe mit Gottes Hilfe seit dreiunddreißig Jahren in diesem Land und habe einiges geleistet, wovon nur sehr wenige Menschen wissen, darunter ein paar Minister. Ich spreche aus Erfahrung. Und ich sage Ihnen: heutzutage ist es nicht mehr der Mühe wert, Briefe zu bekommen.«
»Und wenn einmal ein wichtiger Brief dabei ist?«
»Wichtig? Was ist schon wichtig? Ist die Steuervorschreibung wichtig? Ist eine Gerichtsvorladung wichtig? Ist es wichtig, was Ihre amerikanischen Verwandten Ihnen schreiben? Glauben Sie mir: es gibt keine wichtigen Briefe.«
»Entschuldigen Sie, aber –«
»Mein Bruder war Karate-Trainer in der Armee und bekam plötzlich einen Brief mit der Nachricht, daß er als Gesandter nach Sansibar zu gehen hätte. Er gab ein Vermögen für eine neue Garderobe aus und las eine Menge Bücher, um sich über seinen neuen Wirkungsbereich zu informieren. Nach einer Woche stellte sich heraus, daß es sich um einen Irrtum handelte, und jetzt arbeitet er als Rausschmeißer in der ›Sansi-Bar‹. Nur damit Sie wissen, was ein wichtiger Brief ist, Herr.«
»Wichtig oder nicht – ich möchte die an mich gerichteten Briefe ganz gerne lesen. Okay?«
»Okay. Ich werde meinen Sohn zu überreden trachten, daß er nur die Marken behält und Ihnen die wichtigen Briefe zurückgibt.«
»Vielen herzlichen Dank. Darf ich Ihrem Herrn Sohn einen Schlüssel zu meinem Postkasten überreichen?«
»Wozu? Der Bub soll nur schön lernen, wie man Marken sammelt.«
Damit war der philatelistische Privatdienst zwischen mir und Ziegler junior offiziell eröffnet.
Hiermit ersuche ich meine sämtlichen Korrespondenzpartner, vor allem die ausländischen, ihre Briefe mit besonders schönen Marken zu frankieren; sie haben dann eine größere Chance, mich zu erreichen.