Das Geisterkommando

 

 

Die nächste Etappe in der schwindelerregenden Karriere von Jarden Podmanitzki war der Film. Natürlich ist er dem Theater deshalb nicht untreu geworden. In unserem kleinen Land muß jeder alles können, und die Gage ist dementsprechend gering. Damit steht es auch im Zusammenhang, daß die Drehbücher unserer Filme allmorgendlich vor Drehbeginn umgeschrieben werden.

 

Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle. Ich mache einen israelischen Abenteuerfilm, betitelt ›Wo sich die Adler paaren‹. Es ist eine der kühnsten Unternehmungen in der Geschichte der heimischen Filmindustrie, geschrieben und inszeniert von mir, finanziert von ausländischem Geld, nämlich durch eine Subvention der Regierung. Die Handlung beruht auf einer wahren Geschichte meiner Phantasie: Ein israelischer Kommandotrupp sprengt die Raketenbasis von Tanger und kehrt ohne Verluste ins Atelier zurück, was gar nicht so einfach ist, denn die Schauspieler müssen Ägypten, Libyen und Algerien zu Fuß durchqueren. Aber dafür zahle ich ihnen ja auch ein Vermögen.

Bei den ersten Szenen ging alles glatt ab. Der Kommandant des Kommandotrupps – Jarden Podmanitzki in der Rolle des grimmigen Grischka – rief seine Leute zusammen, führte sie durch die Sahara (für die drei Tage und drei Nächte lang der im Negev gelegene Kibbuz Ejn-Schachar als Double einsprang), kam am vierten Tag vor meiner Hütte an und trat ein und sagte:

»Morgen muß ich nach Tel-Aviv zurück.«

»Verrückt geworden? Morgen geraten Sie in einen feindlichen Hinterhalt, das wissen Sie doch.«

»Tut mir leid. Die Sekretärin der Theaterdirektion hat vorhin

eigens angerufen. Wir beginnen morgen mit den Proben zu ›Hamlet‹. Ich spiele den Geist des Vaters. Auf diese Rolle habe ich mein Lebtag gewartet.«

»Sie wollen also kontraktbrüchig werden?«

»Ich will nicht, ich muß. Ich bin Mitglied eines Kollektivs. Wenn ich kann, komme ich wieder. Alles Gute!«

Damit entfernte er sich in nördlicher Richtung.

Ich beschloß, die Dreharbeiten planmäßig weiterzuführen und nur in den Dialog einen Satz einzufügen, eine kurze Erklärung für das plötzliche Verschwinden des Truppenkommandanten infolge plötzlicher Hamlet-Proben. Der Dialog fand zwischen einem Sergeanten namens Trippoli und dem Funker statt.

Funker: »Wir nähern uns Tanger. Aber Grischka ist nirgends zu sehen. Wo steckt er?«

Trippoli (mit vielsagendem Lächeln): »Er wird rechtzeitig da sein, verlaß dich auf ihn…«

Leider konnte man sich nicht auf ihn verlassen. Noch in der Nacht rief Podmanitzki mich an: das Kollektiv hatte eine zusätzliche Rolle für ihn erarbeitet, und zwar den Geist des Großvaters, für den er den Text selbst schreiben sollte. Damit war sein Wochenende ausgelastet.

»Podmanitzki«, sagte ich, »Sie sind entlassen.«

Er wollte noch wissen, wieviel Pönale ich ihm zahlen würde, aber ich ließ mich auf keine Debatte ein und hängte ab.

Die Lage, in der ich mich befand, war selbst für israelische Begriffe schwierig. Laut Drehbuch sollte die ganze Einheit ohne Verluste zu ihrer Ausgangsstellung zurückkehren, aber als ich das schrieb, hatte ich nicht mit Hamlet-Proben gerechnet.

Es gab nur eine einzige Lösung: Grischka mußte sterben. Um seinen Tod künstlerisch zu verbrämen, forderte ich von der Produktionsleitung einen jungen Aasgeier an, der schaurig krächzend in den Lüften kreisen und bei Gelegenheit herabstoßen sollte.

Podmanitzkis Tod wurde vom Sergeanten Trippoli in einer neuen Dialogwendung gemeldet:

»Sie haben Grischka getötet… das werden sie teuer bezahlen!« Und dazu hob er wie zum Schwur seine nervige Rechte.

Dann setzte der Kommandotrupp den im Drehbuch vorgezeichneten Weg durch die Wüste fort, geführt von der Tochter des Beduinenscheichs, Zipi Weinstein, die sich ursprünglich in Grischka und unter den jetzt gegebenen Umständen in Trippoli verliebt hatte. Der Trupp durchquerte die Sahara und war – erschöpft, aber mit unvermindertem Kampfesmut – soeben im Kibbuz angekommen, als auf dem Kamm eines nahegelegenen Sandhügels Grischka erschien und uns schon von weitem zurief:

»Das Ganze halt! Der Regisseur hat Grippe! Ich bin bis Dienstag beurlaubt!«

»Ihr Pech, Podmanitzki!« brüllte ich zurück. »Sie sind gestern gefallen. Der Aasgeier ist schon bestellt!«

Indessen überlegte ich, daß Podmanitzki für seine Mitwirkung an diesem Film eine enorme Gage bekam und daß es pure Geldverschwendung wäre, ihn nicht voll auszunützen. Da die Nachricht von seinem Tod bereits abgedreht war, würde er, so entschied ich, auch für uns einen Geist spielen, würde als solcher das Lagerfeuer seiner einstigen Kameraden umschweben und ihnen den richtigen Weg durch die Sahara weisen. Im übrigen hatte sich Podmanitzki genau im richtigen Augenblick eingefunden, denn Trippoli war noch nicht aus Ejlat zurückgekommen. Dieser überaus gesuchte Schauspieler wirkt immer gleichzeitig an mindestens drei Filmen mit. Im vorliegenden Fall begann er seine Tätigkeit kurz vor Mitternacht in Galiläa, traf in der Morgendämmerung bei uns ein, drehte bis Mittag und wurde dann vom Jeep eines amerikanischen

Fernsehteams nach Ejlat abgeholt, wo er bis Mitternacht vor der Kamera stand. Heute war er auf dem Weg von Galiläa zu uns in Verlust geraten, vielleicht eingeschlafen oder von Beduinen entführt worden, wer konnte das wissen. Jedenfalls mußten wir ohne ihn weitermachen.

Ein Mitglied der Kommando-Einheit – im Hauptberuf Kuhhirt und vom Kibbuz zur Verfügung gestellt – übernahm die dialogische Aufklärung:

»Leute«, sagte er mit gepreßter Stimme in Großaufnahme, »Trippoli ist gefallen.«

»Er hat unsern Rückzug gedeckt«, setzte gleichfalls in Großaufnahme ein anderer hinzu. »Er ganz allein. Er hat bis zur letzten Kugel gekämpft.«

Erst jetzt fiel mir auf, daß ich nach Grischkas und Trippolis letalem Abgang keinen einzigen namhaften Schauspieler in meinem Kommando hatte. Aber dagegen ließ sich nichts mehr machen.

Die nächste Szene erwies sich als sehr wirkungsvoll. Zipi Weinstein trat hinter einem Sandhügel hervor und stellte sich den führerlos dahinmarschierenden Soldaten in den Weg: »Ich bin auf eurer Seite und übernehme die Führung«, sagte sie in militärisch knappem Ton.

Damit war das Führerproblem gelöst, nicht aber das Problem ihres Vaters, des edlen Beduinenscheichs. Kurz entschlossen, ließ ich auch ihn hinter dem Hügel hervortreten.

»Kapitän Lollik Tow, Jerusalem«, stellte er sich vor und nahm die Kefiah vom Kopf. »Gegenspionage. Mir nach!«

Und an dem allem war Trippoli schuld, der vermutlich auf irgendeiner Tankstation schnarchte.

Immerhin waren die Reihen der tapferen Krieger jetzt wieder aufgefüllt, an ihrer Spitze marschierte der neue Kommandant. Die Wüstensonne brannte herab und am Abend hatte er einen Sonnenstich.

»Für den Film«, entschied ich, »hat er keinen Sonnenstich, sondem Malaria. Er wird dem Trupp auf einer Bahre vorangetragen.«

Der Kuhhirt und der Funker übernahmen diesen anstrengenden Part und teilten mir nach Beendigung der Aufnahmen mit, daß sie ihn nicht mehr übernehmen würden. Der Gegenspionage-Kapitän war ihnen zu schwer. Obendrein aß er die ganze Zeit.

Was tun? Es half nichts – auch Lollik mußte dran glauben. Ein Dumdum-Geschoß erledigte ihn aus dem Hinterhalt.

Die Tochter des emeritierten Scheichs warf sich über die väterliche Leiche und schluchzte herzzerreißend.

Das heißt, zu diesem Zweck wurde sie von den verzweifelten Rufen eines plötzlich herbeieilenden Managers aufgestöbert:

»Fräulein Weinstein! Wo stecken Sie, Fräulein Weinstein? Ihr Solo kommt dran! Wir warten auf Sie! Schnell, schnell!«

Wie sich herausstellte, wirkte Zipi Weinstein inzwischen bei den Darbietungen einer neuen jemenitischen Tanzgruppe in Haifa mit. Auch sie, das sagte mir eine innere Stimme, würde ich bei unseren Dreharbeiten nie wieder zu sehen bekommen. Folklore schlägt Film.

Ich beförderte sie durch einen tödlichen Sturz von einem nahegelegenen Felsen ins Jenseits. Natürlich konnte man sie nicht wirklich stürzen sehen, weil sie ja nach ihrem Solo mit den Jemeniten weiterzog. Also verlegte ich die Kamera ins Kommando-Zelt, wo man von fern den Todesschrei einer weiblichen Stimme hörte. Bald darauf trat mit gesenktem Kopf und sichtlich gebrochen der Kuhhirt ein:

»Sie hat sich zu weit vorgewagt… aber sie mußte nicht lange leiden… ihr letztes Wort war Tanger.«

An dieser Stelle ließ sich der Funker zu einer Bemerkung hinreißen, die ich nur als zynisch empfinden konnte. Er behauptete, daß Tanger unter der Oberhoheit Spaniens stünde, dessen Regierung sich zu Israel wohlwollend neutral verhielte, weshalb es vielleicht ratsam wäre… Ich brachte den drittklassigen Komparsen, dem ich eine geradezu lächerlich hohe Gage zahlte, durch einen eisigen Blick zum Schweigen.

Für Zipi Weinstein flocht ich ein würdiges Begräbnis ins Drehbuch ein. Begräbnisse wirken im Film immer gut. Man kann sie auch ohne Schauspieler drehen. Grischkas Geist hielt die Grabrede, die ich, meine Schreibmaschine auf den Knien, noch rasch gedichtet hatte.

Nach dem Begräbnis nahm mich Grischka beiseite:

»Ich habe über meine Rolle nachgedacht«, erklärte er. »Mein jetziger Tod befriedigt micht nicht. Wer stirbt schon gerne unsichtbar. Es wäre sowohl vom dramatischen wie vom rein optischen Standpunkt besser, wenn ihr mich im Wüstensand begrabt. Eine Art neuer Moses, dem es nicht mehr vergönnt war –«

»Podmanitzki«, unterbrach ich ihn, »was soll das?«

»Ich hab’ das so im Gefühl. Mir ist nach Sterben und Begrabenwerden zumut.«

»Und warum?«

»Mein Sohn bekommt morgen vormittag das Abgangszeugnis vom Kindergarten, und ich habe ihm versprochen, dabei zu sein. Lassen Sie mich heute nacht sterben. Ich werden Ihnen mein Leben lang dankbar sein.«

»Möchten Sie mir«, brüllte ich ihn an, »vielleicht sagen, wer eigentlich Tanger erobern soll, wenn mir alle Eroberer wegsterben?!«

»Das Kind«, fuhr Podmanitzki unbeirrt fort, »hat eigens für diese Feier ein Gedicht auswendig gelernt.«

»Hol Sie der Teufel!«

Der Teufel holte ihn in Gestalt einer Mine, mit deren Hilfe ich

Grischkas Geist endgültig explodieren ließ.

Als auch Podmanitzki von uns gegangen war, mußte ich die Sachlage neu überdenken. Suchend spähte ich umher. Mein Blick fiel auf den für insgesamt fünf Drehtage engagierten Funker. Es scheint ein unheilkündender Blick gewesen zu sein, denn jener verkroch sich zitternd hinter einem rostigen Weinfaß, das in der Ecke des Produktionsbüros stand. Und da kam mir ein genialer Einfall. Ich starrte den Funker an und trat langsam auf ihn zu.

»Nein«, flüsterte er mit angstverzerrtem Gesicht. »Das nicht. Das können Sie mir nicht antun… Ich habe noch für zwei Tage Vertrag… Ich bin jung… Ich will leben! Nein!« Und seine Stimme ging in ein unartikuliertes Wimmern über.

Am nächsten Tag ließ ich ihn in der Wüste verdursten. Ein grausamer Tod, gewiß, aber wer sich mir gegenüber auf Verträge beruft, verdient kein Mitleid.

Jetzt war nur noch der Kuhhirt übrig.

»Tanger!« stieß er hervor, während die Kamera aus gewagtem Schußwinkel sich auf den Wasserturm des Kibbuz richtete. »Tanger!« Und mit scharfer Kommandostimme rief er sich selber zu: »Mir nach!«

In diesem Augenblick, dicht vor der Einnahme der Raketenbasis, wurden wir von der Leitung des Kibbuz brutal unterbrochen: der Kuhhirt müsse unverzüglich in den Stall kommen, wo ihn zwei Kühe mit geschwollenen Bäuchen erwarteten.

»Freunde«, beschwor ich das Sekretariat, »laßt ihm doch wenigstens Zeit für einen ehrenvollen Abgang!«

Widerwillig erfüllte man meine Bitte. Eine der in Tanger so häufigen Giftschlangen biß meinen einzigen Überlebenden ins Bein. Ich selbst, als UNO-Beobachter verkleidet, gab ihm das letzte Geleit. Außer mir wohnte dem Begräbnis nur der Kibbuz-Koch bei, der zufällig einen freien Tag hatte.

Im Synchronraum mischte ich noch ein paar Kanonensalven dazu, auf dem Hügel oben stand Grischkas Geist hab acht (der Kindergarten hatte die Feier aufs Wochenende verschoben), und hoch in den Lüften kreiste ein schaurig krächzender Geier.

Ich änderte den Titel des Films in ›Das Geisterkommando‹. Der von mir dargestellte UNO-Beobachter blieb die Hauptrolle. Die Kritiker, die ich zu einer ersten Vorführung einlud, weinten den ganzen Film durch und konnten sich hernach an Lobpreisungen nicht genugtun. Daß kein einziger Mann das Ziel erreichte, zu dem sie alle aufgebrochen waren, gab – so formulierten es die Fachleute – dem Film einen geradezu symbolhaften Gehalt und machte ihn zu einem überwältigenden document humain.

Offen gestanden: auch ich hatte diesen Eindruck.