Das Geheimnis der Redekunst

 

 

So komisch es klingt: beinahe jeder erwachsene Mensch ist irgendwann einmal ein Kind gewesen. Dem Autor dieser Geschichte widerfährt etwas noch Komischeres: seit seine eigenen Kinder erwachsen werden, verwandelt er sich selbst wieder in ein Kind…

 

Es verstand sich von selbst, daß wir über die Feiertage an den Tiberias-See fahren würden, die ganze Familie. Pappi saß am Steuer, die beste Ehefrau von allen saß neben ihm und döste, die Knaben Rafi und Amir betätigten sich im Fond als Tierstimmen-Imitatoren. Als sie bei der Hyäne angelangt waren, bat ich um Ruhe.

Sie blieb nur für eine kurze Weile gewahrt. Dann schlug Amir seinem älteren Bruder vor, das Ja-Nein-Ich-Schwarz-Weiß-Spiel zu spielen.

»Laß mich in Ruh«, sagte Rafi. »Das ist ein Spiel für kleine Kinder.«

Amir, in seiner Eigenschaft als kleines Kind, begann zu heulen.

Ich griff beruhigend ein:

»Gut, gut, gut. Pappi wird mit euch dieses… na, wie heißt es denn… also dieses Spiel spielen.«

»Es heißt das Ja-Nein-Ich-Schwarz-Weiß-Spiel«, belehrte mich Amir und gab mir die Spielregeln bekannt.

»Ja-Nein-Ich-Schwarz-Weiß. Du darfst keines dieser Wörter gebrauchen. Wenn du trotzdem eines gebrauchst, bist du ein Idiot. Es ist ein sehr hübsches Spiel.« Wir fingen an.

»Bist du bereit?« fragte mein Sohn.

»Ja«, antwortete ich – und hatte damit auch schon den ersten Punkt verloren.

»Idiot«, sagte Amir und wiederholte die verhängnisvolle Frage: »Du bist also bereit?«

»Vollkommen.«

Mit diabolischem Scharfblick hatte ich die Falle erkannt und vermieden.

»Ist Amir ein schönes Kind?« fragte lauernd mein Sohn. »Möglich.«

»So kann man nicht spielen«, tadelte Amir. »Du mußt in ganzen Sätzen antworten.«

»Gut. Also: es sieht ganz danach aus, als wärest du ein schönes Kind, Amir, mein Sohn.«

»Was für eine Farbe hat der Schnee?«

Das war abermals eine Falle, und ich wußte ihr abermals zu entgehen: »Der Schnee hat eine außerordentlich helle Farbe.«

Jetzt versuchte es Amir auf andre Weise:

»Möchtest du gerne singen?«

Ohne Zweifel erwartete er eine Antwort, in der zumindest das Wörtchen »ich« vorkäme. Nun, da hatte er sich verrechnet.

»Es bereitet mir kein Vergnügen, dich zu enttäuschen«, sagte ich. »Aber meine Stimme ist leider nicht so geartet, daß sie sich zum Singen eignen würde.«

»Warum sprichst du so langsam?«

»Im allgemeinen ist das nicht meine Gewohnheit. Im vorliegenden Fall jedoch erscheint es mir als der einzige Weg, die von euch gestellten Fallen zu umgehen.«

»In Ordnung, Pappi. Du hast das Spiel erlernt.«

»Allerdings. Niemand wird bestreiten, daß meine Bemühungen um die Bewältigung der Schwierigkeit, auf bestimmte Wörter zu verzichten, sich als erfolgreich erwiesen haben.«

»Welche Wörter meinst du?« Amir unternahm einen letzten, verzweifelten Ausfall.

»Es handelt sich um bestimmte Schlüsselwörter, die auf Grund einer für alle Beteiligten bindenden Übereinkunft von mir nicht verwendet werden dürfen, um meinen Partnern keine Gelegenheit zu bieten, mich als Verlierer zu bezeichnen. Wie sich zeigt, hat die Fähigkeit meines Intellekts, sich an gegebene Umstände anzupassen, das gewünschte Resultat gezeitigt, sie ist sogar, so darf man füglich annehmen, bereits zu einem integralen Bestandteil meines geistigen Habitus geworden, ohne meine rhetorischen Qualitäten nachteilig zu beeinflussen…«

Ich verstummte. Ein Schauer des Entsetzens kroch meinen Rücken hoch. Was für eine Ausdrucksweise war das? Woher kannte ich sie? Wer sprach da aus meiner Kehle?

Nein! Um Gottes willen: nein!

Es war – und der Wagen wäre fast ins Schleudern geraten, als mir das innewurde – es war Abba Eban.

Genau so spricht er, unser Außenminister. Genau mit dieser Technik ist er in den Ruf gekommen, einer der größten lebenden Redner zu sein, genau damit beeindruckt er die Generalversammlung der Vereinten Nationen: mit Amirs Ja-Nein-Ich-Schwarz-Weiß-Spiel.

Zugegeben: er beherrscht die Regeln des Spiels ganz hervorragend.