Podmanitzki hat endlich
Erfolg
Auch das israelische Theater steht im Zeichen der Avantgarde und erntet damit den Beifall vor allem jener Zuschauer, die kein Wort von dem verstehen, was auf der Bühne vorgeht. Sie haben auch schon vor fünf Jahren kein Wort verstanden. Aber damals haben sie wenigstens noch geschimpft. Heute applaudieren sie. Man nennt das »Fortschritt«.
Gestern habe ich meinen alten Freund, den Schauspieler Jarden Podmanitzki, wiedergesehen. Er saß im Kaffeehaus, an einem Tisch ganz für sich allein, und forderte mich nicht auf, bei ihm Platz zu nehmen. Der Grund seiner ungewöhnlichen Zurückhaltung war mir natürlich bekannt: vorige Woche, nach der Premiere von ›Wolkenbruch aus blauem Himmel‹, war ihm in der Presse endlich jenes enthusiastische Lob zuteil geworden, auf das er jahrzehntelang vergebens gewartet hatte.
Podmanitzki gab in diesem außerordentlich modernen Drama einen alternden Bordellbesitzer und Inhaber eines Call-Girl-Rings für männliche Prostituierte. Seine hemmungslos natürliche Darstellungskunst begeisterte in gleicher Weise Publikum und Kritik. Kein Geringerer als I. L. Kunstetter, der Doyen unserer Rezensenten, stellte fest: »Die Überraschung dieses bemerkenswerten Abends war zweifellos Jarden Podmanitzki, von dem eine geradezu diabolische Überzeugungskraft ausging. Sein Alfonso war ein Meisterstück theatralischer Animalität. Jedes Schnaufen, jedes Keuchen, jede seiner bedeutungsschweren, unnachahmlichen Pausen ließ den großen Charakterdarsteller erkennen…«
»Kunstetter hat eher zuwenig als zuviel gesagt, Maestro«, äußerte ich, während ich mich neben ihn setzte. »Ihr Schweigen,
als Sie sich im dritten Akt unter dem schweren Barocktisch verbargen, machte mich erschauern.«
»Das bekomme ich immer wieder zu hören«, stimmte Podmanitzki bereitwillig zu. »Grünstein zum Beispiel hat in seiner Premierenkritik geschrieben, daß die Art, wie ich da unter dem Tisch lag, in ihm spiralenförmige Assoziationen eines verschwörerischen Nihilismus erweckt hat, oder so ähnlich.«
»Ja. Allerdings. Hat das auch der Regisseur zum Ausdruck bringen wollen, wenn ich fragen darf?«
»Natürlich dürfen Sie fragen. Ich habe ihn ja auch gefragt.«
»Und was war seine Antwort?«
»Daß alles schon in der Rolle steht. Also habe ich ihn durch eines von den Mädeln, die Französisch können, noch weiter fragen lassen: Entschuldigen Sie, Boulanger, in der Regiebemerkung heißt es, daß ich unter den Tisch kriechen soll, aber es ist keine Rede davon, daß ich bis zum Ende des Stücks dort bleiben muß. Daraufhin hat er auf Französisch zu toben angefangen, daß mich das angeblich nichts angeht, und wenn er verlangt, daß ich zwei Monate unter dem Tisch liegen bleibe, dann habe ich zwei Monate lang unter dem Tisch liegen zu bleiben, Punkt. Daraufhin bin ich sofort zur Direktion gegangen und habe mit aller Schärfe festgestellt, daß man mich mit meinen achtunddreißig Jahren Bühnenerfahrung nicht so behandeln darf, und daß ich mir so etwas nicht gefallen lasse, das kann er vielleicht in einem Flohzirkus machen, aber nicht mit mir, Jarden Podmanitzki, ich denke gar nicht daran, stundenlang auf den bekannt dreckigen Brettern unserer Notbehelfsbühne liegen zu bleiben und mir womöglich einen Span einzuziehen. Die Direktion war außer sich und hat mich kniefällig gebeten, diesem französischen Kretin ausnahmsweise den Gefallen zu tun, er wird sowieso nie wieder engagiert. Damals wußten sie allerdings noch nicht, was für gute Kritiken er haben wird.«
»Richtig, richtig. Die haben sich ja geradezu überschlagen vor Begeisterung. Wenn man den Kritikern glauben darf, hat Boulangers Regie das Marionettenhafte unserer zerrissenen Nachkriegsgeneration universell zum Ausdruck gebracht.«
»Das sieht ein Blinder.«
»Besonders hingerissen waren sie von der Szene, wo Sie und die fünf männlichen Prostituierten auf einer Nähmaschine sitzen, jeder mit einem anders gefärbten Taschentuch vor dem Gesicht. Übrigens – was bedeutet das?«
»Ein Taschentuch ist ein kleines Tuch, das man in der Tasche trägt, und wenn man sich Gott behüte erkältet, dann –«
»Was ein Taschentuch ist, weiß ich, Herr Podmanitzki. Ich möchte wissen, was diese Szene auf der Nähmaschine bedeuten soll.«
»Haben Sie die Kritik von Avigdor ben Parrot nicht gelesen? Warten Sie, ich habe sie zufällig bei mir. Da, hören Sie: ›Die Orgie der Taschentücher auf der Nähmaschine weitet sich zu einem Kaleidoskop unseres paradoxen Bewußtseinszustands.‹ Klar?«
»Vollkommen. Aber warum bedecken Sie die Augen?«
»Warum, warum! Diskutieren Sie mit einem französischen Goj, der keine anständige Sprache kann, nicht einmal Russisch. Da muß man nachgeben. Er will ein Taschentuch haben – bekommt er ein Taschentuch. Was mich wirklich ärgert, ist etwas andres. Mundek, wie immer. Meinem ärgsten Feind wünsche ich keinen solchen Requisiteur. Ich habe ihm gesagt, ich habe ihn gebeten, ich habe ihn angefleht, die Taschentücher zu waschen, damit der Kampfergeruch herausgeht. Glauben Sie, er wäscht? Schon bei der zweiten Vorstellung sagt Honigmann mitten auf der Nähmaschine: ›Großer Gott, ich muß niesen!‹ Wir haben es alle gehört. Dann geh du hin und spiel eine tragische Szene…«
In diesem Augenblick trat eine alte, vornehm gekleidete Dame an unseren Tisch, küßte Podmanitzki auf beide Wangen und wisperte:
»Ich danke Ihnen, Herr Podmanitzki. Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen.«
Und mit vor Erschütterung bebender Stimme erzählte sie, daß sie den ›Wolkenbruch‹ schon dreimal gesehen habe, einzig und allein wegen der Szene zwischen Podmanitzki und seiner sterbenden Frau, die sich plötzlich im Sarg aufrichtet und ihm gesteht, daß das Kind gar nicht von ihr ist, sondern von einer andern… Noch als die alte Dame sich verabschiedete, schluchzte sie haltlos vor sich hin.
»Eine sympathische, intelligente Person«, bemerkte Podmanitzki. »Aber welche Frau in dem Stück meint sie eigentlich?«
»Die Hinkende. Die von einem Ziegenbock vergewaltigt wird. Ihre Frau.«
»Die ist meine Frau?«
»Das wissen Sie nicht?«
»Nun ja, ich wußte, daß sie irgendeine Verwandte von mir spielt, aber ich hatte keine Ahnung, was für eine. Augenblick… aha, jetzt fällt mir ein, wo der Irrtum liegt.«
»Wo?«
»Am Beginn des zweiten Akts. Da hat sie mir zu sagen: ›Alfonso, du bist wie eine Schwester zu mir!‹ Deshalb.«
»Ich entsinne mich dunkel. Was antworten Sie ihr darauf?«
»Ich antworte: ›Du Hure!‹ und beiße sie ins Knie. Auf das hinauf soll ich wissen, daß sie meine Frau ist? Und sie… lassen Sie mich nachdenken… ja. Sie sagt, daß sie ja nur zuschauen will, wie sich die Molche begatten. Was, ich bitte Sie, sind Molche?«
»Eine Art Eidechsen.«
»Hab’ ich mir gleich gedacht. Das ist ja auch einer meiner
stärksten Augenblicke. Dov Schlufer in den ›Nachrichten‹ vertritt die Meinung, daß mir da die perfekte Transparenz eines Nihilisten geglückt ist, der das Göttliche in sich selbst entdeckt. Sie erinnern sich, wie ich am Schluß dieser Szene halb torkelnd und halb aufrecht unter dem Tisch hervorkrieche?«
»Ich erinnere mich. Da waren Sie tatsächlich ganz groß, Herr Podmanitzki! Wie Sie da mit weit aufgerissenen, fragenden Augen in die grausame Unendlichkeit starren und schweigen…«
»Das habe ich nur bei der Premiere gemacht. Ich hatte den Text vergessen und starrte in den Souffleurkasten um Hilfe. Von der zweiten Vorstellung an sagte ich wörtlich das, was ich zu sagen habe: ›Nur die Toten sind lebendig, Rappaport!‹ sage ich und gehe ab. Bei der Samstag-Nachmittagvorstellung bekomme ich an dieser Stelle immer Szenenapplaus.«
»Was wollen Sie damit eigentlich sagen, Herr Podmanitzki?«
»Daß die Leute in die Hände klatschen, weil –«
»Nein, ich meine: mit dem Satz von den Toten.«
»Fragen Sie den Autor. Ich bin für diesen Blödsinn nicht verantwortlich. Zuerst haben wir’s für einen Druckfehler gehalten, aber dann hat der Regisseur im Original nachgeschaut, und dort steht’s auch. Boulanger hat mich gebeten, den Satz mit einem philosophischen Unterton zu sprechen, vom Fußboden halbhoch hinauf, den Blick starr in den Zuschauerraum gerichtet. Sein Regieeinfall, daß ich während des Hinauskriechens ausspucken soll, hat sehr gut gewirkt. Tamar Blumenfeld schreibt, daß sich hier die Kontaktlosigkeit der menschlichen Seele manifestiert. Das trifft genau, was ich mir die ganze Zeit über Boulanger gedacht habe. Ich kann mit diesem Mann nicht arbeiten. Entschuldigen Sie, es ist 12 Uhr 30.«
Jarden Podmanitzki zog aus der Tasche ein kleines Transistorgerät hervor, stellte es auf den Tisch und lauschte hingebungsvoll der wöchentlichen Theater-Rückschau. Als der Rundfunksprecher ihn lobend erwähnte, füllten sich seine Augen mit Tränen. Man merkte ihm an, daß er den Satz am liebsten auf Band aufgenommen hätte: »Jarden Podmanitzki als hinkender Witwer offenbarte besonders in seinem stummen Spiel den unerschütterlichen Optimismus einer Lebensverneinung, die nichts von sich weiß und eben darum jeder menschlichen Regung, die von außen her auf sie zukommt, ein verinnerlichtes Crescendo auftut…«