Gula eilt zu Hilfe
Am Morgen jenes großen Tages wollte niemand auf die Felder hinausgehen, jedermann saß im Dorf herum und wartete ungeduldig auf die Ankunft der Abordnung aus der Stadt. Der Staatsmann selbst machte wenig Vorbereitungen für die Ankunft seiner Wohltäter. Die einzige Mühe, die er sich nahm, betraf seine Kleidung, das heißt, er vergewisserte sich, daß sein Anzug so schmutzig und zerknittert wie möglich war, weil mit den Abgeordneten ein Bildreporter kommen sollte, soweit man dem Tnuva-Chauffeur glauben konnte. Im letzten Augenblick wurde Dulnikker die Bedeutung klar, die er persönlich in verhältnismäßig kurzer Zeit bei den Dorfbewohnern erlangt hatte, als der Barbier in das Wirtshaus gestürmt kam und, fast auf den Knien, vor dem Staatsmann herausplatzte:
»Lassen Sie uns nicht im Stich, Herr Ingenieur. Wenn Sie nicht mehr bei uns sind, wird alles auf dem Kopf stehen, und Gurewitsch wird mich erledigen. Glauben Sie denn, Herr Ingenieur, daß ich eine Ahnung habe, was ein Bürgermeister de facto zu tun hat?«
Dulnikkers schwarzes Auto fuhr vormittags vor dem Wirtshaus neben der Sonnenuhr vor, und heraus kletterten sieben sehr müde Menschen. Das Septett verwandelte sich sofort in einen Magnet für die starrenden Blicke der örtlichen Menge, die sich in einer Zangenbewegung um die Ankömmlinge schloß.
Aus dem Zwang der Gewohnheit heraus wartete Dulnikker hinter der Wirtshaustür, um die erwartungsvolle Spannung zu erhöhen, und schlüpfte dann in Begleitung seines Sekretärs hinaus. Die beiden wichtigen Parteifunktionäre und Professor Tannenbaum, die zur Abordnung gehörten, brachen sofort in Applaus aus, der sich in der Menge der Zuschauer verbreitete. Ein Bildreporter stolzierte unter ihnen äußerst lange herum und verewigte die historische Szene für die Nachwelt und die Nachrichtenblätter. Zwei nach erstklassigem Material ausgehungerte Reporter zogen ihre Notizblöcke heraus und hefteten ihre ungeduldigen Blicke auf Amitz Dulnikkers Lippen.
Gula Dulnikker ging ruhig auf ihren Gatten zu, pflanzte den Schatten eines Kusses auf seine Wangen und bemerkte apathisch:
»Dulnikker, du bist schon wieder nicht rasiert.«
»Weiß ich«, erwiderte der Staatsmann und beschloß hiermit die familiäre Seite der Zeremonie. Dann hob Gula ihre Hand Zevs Nase zu einem Kuß entgegen und entzog sie gleichzeitig seinem Griff, so, wie es einer Parteiaktivistin zukommt. Hierauf betrat sie das Wirtshaus erschreckend munter und bestellte bei der Wirtin ein frühes Mittagessen. Malka war über die plumpe Erscheinung ihres korpulenten Gastes höchst erfreut.
Draußen trat einer der Würdenträger aus der Besuchergruppe hervor, blieb in respektvoller Entfernung vor Dulnikker stehen und schrie ihn an: »Wir sind heute hierher gekommen, in das Dorf Kimmelquell, um Ihnen, Amitz Dulnikker, die Grüße der Nation zu überbringen, die Grüße der Regierung, die Grüße der Institution, die Grüße der Fonds und die Grüße der Partei. Wir sind heute hergekommen, Amitz Dulnikker; wir sind hergekommen in der Hoffnung, daß Sie sich im Dorf Kimmelquell erholt haben, daß Sie sich erholt haben und Ihre Kräfte wieder der Nation zur Verfügung stellen können, zur Verfügung der Regierung, der Institution, der Fonds und der Partei. Wir sind heute hergekommen, Amitz Dulnikker …«
Der Sprecher der Abordnung hatte seine Rede kaum in das Windelstadium bekommen, als Dulnikker Kindesmord beging. In seinem ganzen Leben hatte der Staatsmann noch nie bereitwillig die Idioten geduldet, »die ihre endlosen Phrasen tausendundeinmal wiederholen wie zurückgebliebene Papageien«. Obendrein waren die beiden »Würdenträger« Anhänger Shimshon Groidiss’, und gleich von ihrem politischen Debüt an war das Verhältnis des Staatsmannes zu ihnen von gegenseitiger Verabscheuung gekennzeichnet gewesen. Dulnikker war mehr als nur leicht verärgert, daß ausgerechnet diese beiden zu seiner Begrüßung entsandt worden waren.
»Danke, liebe Genossen«, unterbrach er den Sprecher herzlich. »Ich schätze die Beredsamkeit eurer Begrüßung, glaube jedoch, daß ihr von eurer äußerst ermüdenden Reise erschöpft sein müßt und eines nahrhaften Mahls und eines gesunden Mittagsschläfchens mehr bedürft als langer, langweiliger Reden. Dennoch — bevor ich meine Worte in wenigen Augenblicken damit beende, daß ich eure Hände in die meinen nehme und euch mit ‘Willkommen, Genossen’ begrüße, möchte ich euch nur mit einem Minimum an Worten — im Telegrammstil — über die Entwicklung dieses Dorfes während meines Aufenthaltes erzählen …«
Der Staatsmann hatte aufrichtig vorgehabt, der Abordnung vorzuführen, wie es tatsächlich möglich ist, eine Feierlichkeit mit einigen wenigen treffenden Bemerkungen zu konzentrieren und zu beenden. Inzwischen verfing er sich jedoch in einer Erörterung der Entwicklung der Handelsmarine, aus der es ihm nicht gelang, sich herauszuwinden, bis er eine Telegrammrechnung im Wert von 7500 Dollar für eine halbe Million Wörter zustande gebracht hatte. Inzwischen fiel ein Reporter, der im Gegensatz zu Dulnikker nicht an die Hitze gewöhnt war, in Ohnmacht und maß den Boden Kimmelquells vom Scheitel bis zur Sohle aus.
Die Dorfbewohner hatten sich schon lange von der Abordnung getrennt. Einige der Höflichen jedoch, wie die Mitglieder des Provisorischen Dorfrats, gingen heim, aßen zu Mittag und kehrten dann zu Dulnikker zurück, der noch immer in voller Lautstärke seine Telegrammrede hielt. Schließlich wurde diese Handvoll Getreuer reich belohnt, als Dulnikker, nachdem der Professor den schwächlich gebauten Reporter dem Leben wiedergegeben hatte, die Creme des Dorfes seinen Gästen systematisch vorstellte:
»Erlauben Sie, meine Herren: Professor Tannenbaum — Herr Salman Hassidoff, Tonsurkünstler, Bürgermeister de facto. Erlauben Sie, meine Herren: Professor Tannenbaum — Herr Elifas Hermanowitsch, Berufsgastgeber, einer der ursprünglichen Siedler. Erlauben Sie, meine Herren: Professor Tannenbaum — Herr Zemach Gurewitsch, Fachmann der Schuhmacherkunst, eine dynamische Persönlichkeit …« Und so weiter, bis der Fotograf das alles mit der Bitte an Dulnikker unterbrach, sich, bevor es dunkel würde, für eine Einzelaufnahme zu stellen.
Das Ersuchen des Fotografen wurde ohne Schwierigkeit bewilligt. Dulnikker stand zwischen zwei Kühen mit traurigen Augen, die aus den Reihen der heimkehrenden Herde ausgewählt worden waren. Zusätzlich packte Dulnikker »ein süßes, lächelndes kleines Mädchen, des Pinsels eines Van Gogh würdig«, und schwang es trotz der Tränen der Kleinen hoch in die Luft. Danach ersuchte der Staatsmann den Bildreporter, »eine Aufnahme jenseits der Dorfgrenzen, im Herzen der Felder« zu machen, bei der er, Dulnikker, wie in seiner Jugend die Griffe eines Pfluges halten würde. Es stellte sich jedoch heraus, daß Kümmelfelder nicht gepflügt werden.
Das Ritual des Fotografierens bewirkte große Aufregung unter den Bürgern, die ehrfurchtsvoll vor der Linse standen. Andererseits kam es fast zu Blutvergießen, als der Fotograf ersuchte, Dulnikker solle mit dem Dorfchef posieren. Herr und Frau Hassidoff stürzten sofort heran und stellten sich rechts neben den Ingenieur. Genau im selben Augenblick teilte jedoch Zemach Gurewitschs stattliche Figur die mit knisternder Spannung geladene Luft und landete genau vor dem Staatsmann, während dem Mund des Schuhflickers immer wieder die Erklärung entströmte, daß das Dorf zwar im Augenblick einen Bürgermeister habe, dieser jedoch nur de facto sei, was — sagte er — »aus Mitleid« bedeute. Dulnikker verlor seine Haltung nicht und rettete die brenzlige Situation, indem er sich bei beiden Gegnern einhängte. Während der Staatsmann sie kraft seiner Persönlichkeit auseinanderhielt und in die Kamera lächelte, stöhnte er innerlich und dachte: »Ich schwöre, die zwei hätten sich an der Gurgel, wenn ich nicht zufällig in dieses Dorf gekommen wäre!«
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Nach dem »Unternehmen Foto« kehrte Dulnikker ins Wirtshaus zurück. Sein Magen war dank des erzwungenen Fastens während eines halben Tages von den saugenden Flammen des Hungers etwas zusammengeschrumpft. Dulnikker war sehr böse, daß die Delegation ihm nicht wenigstens ein einziges »gelbes« Nachmittagsblatt mitgebracht hatte. Nicht nur, daß er aus Mangel an einer Zeitung dazu verdammt war, in Unwissenheit über die Entwicklungen zu verharren, die während seiner Abwesenheit im In- und Ausland stattgefunden hatten, sondern seine Gattin vergrößerte seinen Ärger noch, indem sie sich zu ihrem zweiten Mittagessen an seinen Tisch setzte. Während Gula aß, leitete sie einen Frontalangriff ein und verständigte Dulnikker, daß sie unmöglich vor dem folgenden Tag abfahren konnten, weil sie nicht bereit war, an einem einzigen Tag eine zweite Fahrt durch den Schreckenstunnel zu unternehmen. Die unseligen Delegationsmitglieder waren somit gezwungen, sich aufzuteilen und eine Unterkunft in den Häusern der verschiedenen Bauern zu suchen. Und wozu das alles? Weil Dulnikker zufällig auf den Kopf gefallen war und beschlossen hatte, daß er sich nirgendwo anders erholen könne als in dem vernachlässigtsten Winkel des Staates. Denn der dickköpfige Dulnikker hört ja nie auf seine Frau, geht einfach rücksichtslos auf und davon und muß dann beschämt SOS-Rufe aussenden, damit sie ihn aus der Patsche hole …
Immerhin kam der Staatsmann mit dem Leben davon und legte sich in seiner Bude nieder, während Gula, vereinsamt, den Zwillingen als Gegenstand einer eingehenden Betrachtung diente.
»Dicke Tante, bist du dem verrückten Ingenieur sein Mädchen?« fragte schließlich einer von ihnen.
»Nein«, erwiderte Gula, »betrüblicherweise bin ich Herrn Dulnikkers Ehefrau.«
»Bist du seine Ehefrau de facto oder nur einfach so?«
Gula, plötzlich neugierig geworden, hob die Augenbrauen. Vor ihrer Ehe mit Dulnikker war sie Kindergärtnerin gewesen, daher wußte sie, daß ein Kind immer die Wahrheit wiederholt, wie es sie von den Erwachsenen hört.
»Wer seid ihr, Kinder?«
»Wir sind die kommunalen Zwillinge«, sagten die kleinen Lümmel kichernd. Majdud wurde jedoch ernst. »Stimmt gar nicht«, verbesserte er, »ich habe das Seniorat, weil ich ein paar Minuten früher geboren bin.«
»Wo habt ihr diese Ausdrücke gelernt?«
»Vom Ingenieur und seinem mageren Krankenwärter.«
Gula zog die pausbäckigen Kinder an ihren mächtigen Busen.
»Hört zu, Kinder«, sagte sie mit einem herzlichen Lächeln, »möchtet ihr mir gern erzählen, was der Onkel Ingenieur die ganze Zeit hier getan hat?«
»Nein«, erwiderte Majdud. »Nur für Schokolade mit Nüssen drin.«
Gula war eine verständnisvolle, praktische Frau, die den Wert kleiner Geschenke in sozialen Beziehungen kannte. Daher steckte sie unverzüglich die Hand in die Handtasche, die ihr ständig an einem Riemen von der Schulter hing, und fischte ein Päckchen Süßigkeiten heraus. Sie reichte ihnen einige als Vorschuß, die im Nu in den Mündern der Zwillinge verschwanden.
»Und jetzt, Kinder, erzählt mir hübsch, was der Onkel Ingenieur hier alles gemacht hat.«
»Wirst du’s niemandem sagen?«
»Nein.«
»Der verrückte Ingenieur hat einen Mordsspaß«, flüsterte Majdud — mit Seniorat — als erster. »In der Nacht klettert er auf Leitern herum und fängt Tauben. Der Papa hat ihn geprügelt, und darum macht er es jetzt so, daß die Schuhflicker mit den Barbieren raufen, weil jeder sich selber einen Wagen kaufen will.«
Mit flatterndem Herzen nahm Gula Dulnikker die Schreckensnachrichten auf. Es war wahr, sie liebte Dulnikker gar nicht; aber immerhin hatte sie ihn mehr als dreißig Jahre lang verabscheut.
»Aber Kinder«, flüsterte Gula, »wieso ‘Ingenieur’?«
»Weil er allen erzählt, daß er ein Ingenieur ist. Er hat auch eine große rote Fahne, die er jede Nacht auf seinem Balkon heraushängt.«
Die Frau drückte ihnen den Rest des Päckchens in die Hand und murmelte leise:
»Gott im Himmel, ich habe doch immer gefürchtet, daß es einmal so weit kommen würde …«
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Das Klopfen an seiner Tür weckte Dulnikker aus seinem Nickerchen, und er stand auf, um Professor Tannenbaum zu begrüßen, der ihn untersuchen kam. Der Professor horchte eine Weile seine Herzschläge ab und zog den Schluß, daß das leichte Leben und Dulnikkers völlige Enthaltsamkeit von Aufregungen ihr Werk getan hatten und Dulnikkers Gesundheit sich soweit gebessert hatte, daß er ihm erlauben konnte, mit den Reportern, die unten auf ihn warteten, zehn Minuten zu sprechen. Dulnikker hüpfte behende die Treppe hinunter und eröffnete sofort die Pressekonferenz, die in Anwesenheit der Würdenträger und einer großen neugierigen Menge örtlich ansässiger in den Räumen des Provisorischen Dorfrats stattfand. Die Reporter erhielten zwar nur 300 Wörter, aber sie waren eine richtige Bombe, ein Reißer, der hohes Lob und eine Gehaltserhöhung einzubringen versprach:
WIR SPRACHEN MIT AMITZ DULNIKKER — LAGE ERNST, ABER NICHT HOFFNUNGSLOS — SICHERHEIT ÜBER ALLES — »MAN BLÄST NICHT, WENN ES KALT IST« — ES KOMMT ZU KEINER INFLATION —
Von unserem Korrespondenten in Kimmelquell
Während wir in diesem winzigen Dorf in Ober-Galiläa Amitz Dulnikker gegenübersitzen, wissen wir nicht, was uns mehr überrascht: Dulnikkers anregendes Gemüt, seine Herzenswärme den Dorfbewohnern gegenüber (siehe Bericht und Fotos im Innern des Blattes); oder das Wunder, daß es trotz seiner völligen Isolierung und einer höchst primitiven Lebensweise dem »Wegbereiter« Dulnikker gelang, mit den jüngsten Entwicklungen im In- und Ausland dank einem erstaunlichen politischen Fingerspitzengefühl auf dem laufenden zu bleiben.
FRAGE:
Herr Dulnikker, was ist Ihre Meinung über die neue Koalitionskrise?
ANTWORT:
Die Lage ist ernst, aber in keiner Weise als hoffnungslos zu betrachten. Alle an einer Beendigung der Krise interessierten Parteien müssen sich bewußt sein, daß nur gegenseitiges Verständnis eine dauernde Regelung sichern kann.
FRAGE:
Und wenn die Krise trotzdem länger andauern sollte?
ANTWORT:
Diese Brücke überqueren wir, wenn wir zu ihr kommen.
FRAGE:
Selbst angesichts aller wahrscheinlichen Auswirkungen der Änderung in der Außenpolitik?
ANTWORT:
Bis zu einem gewissen Grad. (Allgemeines überraschtes Aufhorchen)
FRAGE:
Herr Dulnikker! Stehen wir vor einer neuen Inflationswelle?
ANTWORT:
Mit Ihrer Erlaubnis, meine Herren, werde ich diese Frage mit einer Anekdote beantworten. Eines Tages kam der Schächter tränenüberströmt zum Rebbe. »Rebbe, Rebbe, warum läßt man mich nicht am Rosh Hashanah den Schofar blasen?« Und was antwortete der Rebbe, meine Herren? »Ich habe gehört — hm —, daß du nicht in der Mikwe untergetaucht bist.« Der Schächter begann sich zu entschuldigen: »Rebbe, das Wasser war kalt, oj, war das kalt, Rebbe!« Und der Rebbe erwiderte: »Oif Kalts blust men nischt!« (Langanhaltendes herzliches Gelächter.)
FRAGE:
Verstehen wir Sie richtig, Herr Dulnikker, daß Sie die Inflation nicht für eine Bedrohung halten?
ANTWORT:
Ich glaube, ich habe mich verständlich gemacht.
FRAGE:
Dürfen wir Ihre Schlußfolgerungen veröffentlichen?
ANTWORT:
Gewiß.
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Die Pressekonferenz war noch in vollem Gang, als Frau Dulnikker, fast zu Tode gelangweilt, den Wirt aus dem Ratszimmer schleppte und ihn fragte, wie sie mit dem Ortsrat der werktätigen Frauen in Kontakt kommen könne. Elifas machte »hmhm« und »ä-ä« und erwiderte schließlich, daß die Ratsangelegenheiten im Dorf derzeit nicht allzu klar seien. Da Gula nicht nachließ, rief Elifas seine Frau für sie heraus und stürzte verwirrt zu der Pressekonferenz zurück. Nach einer Weile öffnete sich wieder die Tür, und diesmal wurde Frau Hassidoff gebeten, herauszukommen.
»Genossinnen«, wandte sich Gula Dulnikker an die beiden von der Ehre geschmeichelten Frauen, »möchtet ihr nicht gern im Dorf ein kleines Sozialprojekt unternehmen?«
Frau Hassidoff und Malka tauschten einen Blick voller Minderwertigkeitsgefühle.
»Jetzt gleich?«
»Natürlich jetzt gleich«, donnerte die geschäftige Aktivistin. »Ich hoffe, ich fahre morgen früh weg …«
Es sei der Ordnung halber angemerkt, daß Gula vom Augenblick ihrer Ankunft im Dorf an einen unwiderstehlichen Drang empfunden hatte, etwas zu organisieren. Sie konnte nicht zulassen, einen ganzen Tag müßig zu verbringen, und hier winkte jungfräulicher Boden.
»In Tel Aviv steht ein ganz modernes Waisenhaus unter unserer Obhut«, unterrichtete sie die zwei Frauen. »In seinem Rahmen haben wir es mit zweihundertvier schmerzlich beraubten, einsamen Waisenkindern aus sämtlichen jüdischen Gemeinden zu tun, ohne irgendeine Hilfe oder Unterstützung von der Regierung.«
»Gott! Zweihundertvier Waisenkinder!« Malka war erschüttert. »Und nur der Herr Ingenieur und Frau Dulnikker?«
»Ich heiße Gula«, erklärte die Aktivistin, »und nicht ich mit Dulnikker leiten das Projekt, sondern unsere Sozialabteilung.«
»Selbst so ist das sehr nett, Frau Dulnikker.«
»Ich heiße Gula«, bemerkte die geschäftige Frau und begann ihnen alles über die kleinen Unschuldigen zu erzählen, die so sehr von den großmütigen Einwohnern von Kimmelquell abhingen. Sie zog ein dickes Quittungsbuch aus ihrer Tasche, auf dem in Blau ein Foto glücklicher Kinder gedruckt war, die Münder vollgestopft mit Butterbrot, und auf dem in klaren Blockbuchstaben stand: »Danke sehr, Liga der werktätigen Frauen, für die Rettung der jüdischen Waisenkinder G.m.b.H.« Gula übergab das Quittungsbuch in die Obhut der Frau Hassidoff und erklärte den freiwilligen Helferinnen, wie sie von Haus zu Haus zu gehen hatten und wie sie einen Betrag gegen Quittung in der Höhe von einem Israeli-Pfund erbitten sollten.
»Wenn es uns gelingt, die Leiden dieser unglücklichen Waisenkinder auch nur ein wenig zu lindern, wird unser Projekt der Mühe wert gewesen sein«, beendete Gula ihre Rede und fügte hinzu: »Und jetzt viel Glück, Genossinnen …«
Die beiden Frauen starrten verblüfft die gutherzige Frau und ihr buntes Quittungsbuch an, wagten jedoch nicht, ihr offen zu widersprechen.
»Höre, Malka«, brummte Frau Hassidoff auf der Straße, »das ist nichts als ordinäre Bettelei!«
Malka zuckte schweigend die Achseln und klopfte leise an der Tür des Tierarzthauses, das am Rand des Dorfes lag.
»Reden wirst du«, platzte Frau Hassidoff heraus.
»Nein, du wirst reden«, sagte Malka beharrlich.
Die Tür öffnete sich einen schmalen Spalt, durch den Hermann Spiegels verschlafene und zornige Stimme drang.
»Wenn ihr der Kuh nicht soviel Wasser gegeben hättet, würde sie nicht soviel muhn!« keifte er durch den Spalt. Er versuchte sich wieder einzuschließen, aber Frau Hassidoff steckte gerade rechtzeitig die Schuhspitze zwischen Tür und Schwelle.
»Herr Spiegel, jetzt sind wir wegen etwas ganz anderem da. Wir sammeln Geld für arme Waisenkinder.«
»Was?« Er machte die Tür weit auf. »Wer ist gestorben?«
»Das wissen wir nicht, Herr Spiegel. Das weiß nur die Frau vom Ingenieur. Aber wenn Sie jetzt für die zweihundertvier Waisenkinder ein einziges Pfund spenden, gebe ich Ihnen ein kleines Bild, so wie das hier, und Ihr Name wird auch in die Kontobücher eingeschrieben. Das alles steht wirklich dafür, Herr Spiegel, weil es die Leiden der Waisenkinder lindert, deren Eltern nicht genug Geld haben, um sie in die Schule zu schicken. Natürlich, wenn Sie nicht wollen, brauchen Sie nicht, wir sind auch nicht sehr gern hergekommen, aber wir wollten Frau Dulnikker nicht beleidigen, nachdem sie nun schon einmal diese kleinen Bilder hat drucken lassen. Ich weiß sehr gut, daß der Herr Spiegel nie genug Geld hat, weil ihn die Bauern nicht bezahlen, wenn sie sollten. Ich glaube, auch mein Mann schuldet dem verehrten Doktor etwas, aber Sie müssen auch Salman verstehen: Die Ernte war letztes Jahr so gut, daß die Tnuva einen sehr niedrigen Preis für den Kümmel bezahlte. Es sieht danach aus, daß wir auch heuer wieder leider genauso eine große Ernte haben werden. Deshalb sagte Salman erst gestern zu mir: ›Wir werden den Gürtel enger schnallen müssen, Weib, wir müssen mit allen unnötigen Ausgaben aufhören.‹ Daher sage ich Ihnen, Herr Spiegel, daß ich selbst keinen roten Heller für Waisenkinder hergeben würde, die nicht meine eigenen sind. Wenn die Frau vom Ingenieur ihnen gar so sehr helfen will, dann soll sie selber für sie arbeiten gehen, dick genug ist sie dazu! Was glaubt sie eigentlich? Ein ganzes Pfund verlangen? Und was kommt als nächstes? Es macht mich wirklich bös! Entschuldigen Sie, Herr Spiegel, daß wir gestört haben. Empfehlungen an Ihre Gnädige.«
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Die Abordnung besuchte neun weitere Häuser. Aber das Paar hatte kein Glück, und es kehrte in das Wirtshaus zurück.
»Sie geben nichts«, klagte Genossin Hassidoff. »Keiner will ein Bild kaufen. Die Leute sind sehr hartherzig, Frau Dulnikker …«
»Ich heiße Gula«, erwiderte die Genossin enttäuscht. Aber der absolute Fehlschlag diente nur dazu, sie anzuspornen, ihr Projekt in einer anderen Dimension zu erneuern, und ohne zu zögern wandte sie sich an die Zwillinge, damit sie das Versagen ihrer Mutter sühnen konnten.
Gula eröffnete das Spiel mit einem volkstümlichen Schachzug: »Sagt mir, Majdudl und Hajdudl, seid ihr mit Papa und Mama zufrieden?«
»Je nachdem.«
»Jetzt stellt euch einen Augenblick vor, daß es viele Kinder gibt, die keinen Papa und keine Mama haben. Wollt ihr, daß auch sie glücklich sind?«
»Nein«, erwiderte Majdud mit Seniorat. »Warum sollen sie glücklich sein?«
Schließlich war Gula Dulnikker eine Frau mit klarem Kopf. Wortlos ging sie zum Wagen hinaus, weckte den Chauffeur, der am Lenkrad ein Nickerchen machte, und zog mit seiner Hilfe acht Sammelbüchsen aus dem Kofferraum. Sie wählte zwei unzerbeulte aus der Masse, die ihr durch den ganzen Staat wie soundso viele treue Lieblingstiere folgte, und kehrte mit den zwei zu den Zwillingen zurück.
»Kommt, Kinder«, sagte sie zu ihnen, »sekkieren wir die Großen ordentlich. Spielen wir ›Geldsammeln‹; es ist ein Riesenspaß …«
Also sprach Gula und grub ein zweites Quittungsbuch aus den Tiefen ihrer Handtasche. Es war kleiner, auf Straßensammlungen abgestimmt. Sie übergab der Jugend alles Werkzeug des Gewerbes.
Diesmal brachte Gula Dulnikker nicht erst lange Anweisungen zu geben, denn die Zwillinge — trotz ihrer absoluten Isolierung von allen übrigen Jugendlichen des Landes — waren mit einer natürlichen Neigung aller Kinder der Nation gesegnet: Geld bei ausweichenden Passanten zu sammeln. Majdud und Hajdud verließen das Wirtshaus gegen Abend, und es gelang ihnen in kurzer Zeit, die unschuldigen Dörfler zu terrorisieren. Sie versteckten sich in einiger Entfernung voneinander hinter den Linden und fielen einer nach dem anderen in getrennten Angriffen plötzlich über die betrunkenen Bauern her. Blitzschnell hielt einer der beiden ihnen die Quittungen mit dem Singsang unter die Nase: »Der Papa is’ tot! Der Papa is’ tot! Onkel, gib wenigstens zehn Heller für die armen Waisenkinder!«
Die Dörfler ergründeten den Zweck des Projektes nicht ganz und versuchten, den zähen Fratz abzuschütteln. Aber der kleine Sturmtruppler hatte inzwischen schon die Hand in die Tasche seines Opfers gesteckt und ihn seines meisten Kleingeldes beraubt. Nach der bedingungslosen Kapitulation, zu der ihn die rauhe Wirklichkeit gezwungen hatte, erntete jeder Spender die warmen Worte des Lümmels:
»Du bist prima, Onkel. Danke im Namen der Ingenieurin, die auch ein großes, dickes, altes Waisenkind ist.«
Das jedoch war noch nicht das Ende des qualvollen Alptraums des verwirrten Spenders. Einige ermutigende Schritte vorwärts, und derselbe Lümmel stürzte aus der Dunkelheit und klapperte mit seiner Büchse zweimal so laut vor der langen Nase des Opfers.
»Kind!« donnerte der geduldige Bauer. »Gerade vor einer Minute habe ich dir schon zehn Heller gegeben!«
»Das hast du dem Majdud gegeben«, pflegte dann der kleine Sammler liebenswürdig zu erwidern. »Ich bin Hajdud.«
Spät abends kehrten die Zwillinge zu ihrem Stützpunkt zurück, müde von ihrem langen Kampf, aber glühend vor Begeisterung über das ungeheure Abenteuer, das sie der gutherzigen dicken Tante verdankten. Mit gerechtem Stolz übergaben sie Gula zwei vollgestopfte Sammelbüchsen.
»Frau Ingenieur«, erklärten sie, »da ist ein Vermögen für dich drin, zum Waisenkindermachen …«
Nachdem die Büchsen geöffnet waren, wurde es allerdings klar, daß der Großteil der Münzen längst aus dem Verkehr gezogen war. Das schreckte jedoch die entschlossene und praktische Aktivistin nicht davon ab, als Zeichen ihrer Anerkennung den dankbaren Zwillingen eine zusätzliche Zuckerstange zu schenken. Gulas Überraschung über die Menge der Beute, die sie gemacht hatten, hätte sich verdoppelt oder vielleicht vervierfacht, hätte sie vermuten können, daß Majdud und Hajdud gelungen war, die zwei Büchsen zweimal zu leeren, indem sie sie umkehrten und sachte schüttelten.
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Am selben Abend traf eine Bekanntgabe des Staatsmannes die Abordnung wie ein Blitz aus heiterem Himmel.
Sie saßen um einen wohlbeladenen Tisch und feierten Amitz Dulnikkers Rückkehr ins öffentliche Leben mit einem Privatbankett, als der Ehrengast aufstand und mit dem Weinglas in der Hand zu sprechen begann. Diesmal hatten alle Anwesenden seinen Worten aufmerksam zugehört, als es langsam klar wurde, daß er sich entschlossen hatte, seinen Aufenthalt in Kimmelquell auf unbestimmte Zeit zu verlängern.
Dulnikker erklärte seinen Entschluß, in seiner unnachahmlichen Art, indem er von der Tatsache ausging, daß er in diesem entscheidenden Stadium die einzige Brücke zwischen den Dorfparteien war und daß seine vorzeitige Abreise angesichts der vergifteten politischen Atmosphäre alle Dämme zum Bersten bringen könnte.
»Ich werde dieses Dorf erst verlassen«, schloß der Staatsmann, »wenn ich meine Mission hier voll und ganz erfüllt habe!«
Malka, die hinter der Küchentür stand, hörte Dulnikkers Ankündigung mit großer Genugtuung zu, obwohl sie seinen schicksalhaften Entschluß seit ihrem jüngsten Stelldichein in der Nacht zuvor schon kannte. In völligem Gegensatz zu Malkas Glück wurde die Banketthalle zu einem aufgescheuchten Bienenschwarm. Alle Teilnehmer sprangen auf und versuchten ihr Äußerstes, den halsstarrigen Staatsmann zu einem Sinneswandel zu bewegen. Sie bombardierten ihn stundenlang mit Vernunftgründen und gefühlsmäßigen Argumenten, sprachen von nationalen Verpflichtungen, von der Verantwortung den Generationen gegenüber, von Unverantwortlichkeit. Dulnikker jedoch blieb fest wie ein Fels im Meer und wehrte alle ihre Bemühungen damit ab, daß er über den Alltagskram hinausgewachsen sei und nun ihre kleinliche Hetzjagd von hoch oben her betrachte.
Um Mitternacht zerstreuten sich die Gäste, enttäuscht und gebrochenen Herzens. Dulnikker aber war frisch und froh wie eh und je, als er seinem Privatsekretär, sich vergnügt die Nase reibend, einen kurzen, höflichen Befehl gab:
»Zev, mein Freund«, sagte er, »bitte packe gütigst unsere Koffer aus!«
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Obwohl der Sekretär vor Wut fast hochging, erwiderte er: »Wie Sie wünschen, Dulnikker.« Er kehrte nicht heim, weil ihm Frau Dulnikker am Schluß des Banketts Zeichen gegeben hatte, daß sie ihn zu sprechen wünsche.
»Zev«, fragte Gula den Sekretär, als sie allein waren, »hast du nichts Seltsames an Dulnikker bemerkt?«
Die Frau zog vor ihrer Stirn kleine Kreise in der Luft, um ihre Vermutung deutlich zu machen, und der vife junge Mann erkannte sofort die große Gelegenheit, die sich ihm förmlich aufdrängte.
»Gula Dulnikker«, erwiderte er mit einer Stimme voller Traurigkeit und Kummer, »ich wollte nichts sagen, aber jetzt sehe ich mich verpflichtet, Ihnen mitzuteilen, daß die Geisteskräfte des Herrn Ingenieurs in diesem Dorf sehr gelitten haben.«
»Glaubst du, das ist was Neues?« Ein Zittern durchlief Gulas Wirbelsäule. »Wir wissen beide, daß er schon immer senil war.«
»Ich wollte, es wäre nur Senilität«, stöhnte der Sekretär. »Ich fürchte, wir haben es mit dem psychopathischen Beispiel einer fixen Idee zu tun, bei dem sich der Ingenieur für unentbehrlich für die Dörfler hält …«
»Auch du nennst ihn Ingenieur?« unterbrach ihn Gula hysterisch. »Er ist kein Ingenieur!«
»Ich weiß, ich weiß«, beruhigte sie Zev, »es kommt nur daher, daß ich so daran gewöhnt bin, ihn so zu nennen. Praktisch gesprochen, Gula Dulnikker, ich sehe keine andere Möglichkeit, als ihn unverzüglich heimzubringen.«
»Nein«, sagte Gula, »wir müssen uns zuerst mit Professor Tannenbaum beraten. Nur er kann entscheiden.«
»Schön, ich setze mich sofort mit ihm in Verbindung. Ich werde darauf sehen, daß der Professor sich ein Bild davon machen kann — in all seiner Schrecklichkeit.«
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Der Eifer des Privatsekretärs erreichte seinen Zweck. Professor Tannenbaum besuchte Frau Dulnikker am nächsten Morgen schon sehr früh. Der Leibarzt der Parteihierarchie war noch immer von den Schrecken des vergangenen Abends benommen und verwirrt: »Ich ersuche Sie, Frau Dulnikker, die Geschehnisse in chronologischer Reihenfolge rekonstruieren zu dürfen«, flüsterte der Professor. »Also. Vor Mitternacht holte mich der Sekretär auf dem Weg zu meiner zeitweiligen Unterkunft ein und schilderte mir das entsetzliche Bild. Der Sekretär schlug vor, daß ich mich mit eigenen Augen von den jüngsten Entwicklungen überzeuge, und ich stimmte um einer genauen Diagnose willen zu. Also. Statt zu meiner zeitweiligen Unterkunft zu gehen, ging ich in das Schlafzimmer des Sekretärs, weil es dem Wirtshaus gegenüberliegt und sein Fenster in die gleiche Richtung geht, so daß man über die Baumkronen hinweg deutlich auf den Balkon von Herrn Dulnikkers Zimmer sehen kann. Um ungefähr zwölf Uhr sechsunddreißig bemerkten wir von unserer Stellung aus, daß sich jemand in der Umgebung von Herrn Dulnikkers Zimmer bewegte, und wenige Minuten später trat Herr Dulnikker im Pyjama auf den Balkon hinaus und dehnte sich im Mondlicht …«
Professor Tannenbaum schwieg geheimnisvoll.
»Frau Dulnikker!« fuhr er nach einer kleinen Weile fort, »ich habe allen Grund zu glauben, daß die erschreckende Enthüllung, die ich sogleich machen werde, unerwünschte Wirkungen auf Ihre weibliche Seele haben wird, daher bitte ich Sie: befreien Sie mich von der Pflicht, genau zu sein.«
»Nein, nein, Professor Tannenbaum«, protestierte Gula, »ich muß alles erfahren!«
»Wie Sie wünschen, Madame, aber ausschließlich auf Ihre Verantwortung. Also. Herr Dulnikker band seinen roten Bademantel an das Balkongitter und begann an ihm hinunterzuklettern. Als er das Ende seines Bademantels erreichte, zog er unter seinem Arm einen großen Regenschirm hervor, mit dem als Fallschirm er sich in den Garten hinunterließ.«
»Mein Gott im Himmel!« stöhnte die Frau. »Ist Dulnikker Schlafwandler?«
»Das liegt nicht außerhalb der Möglichkeit.«
»Was geschah dann?«
»Eine Stunde und zwanzig Minuten lang sahen wir Herrn Dulnikker nicht, da die übermäßige Vegetation seine ohnehin unklare Gestalt vor unserer Sicht verbarg. Jedoch um zwei Uhr morgens tauchte er unerwartet auf dem Balkon vor seinem Zimmer wieder auf, knüpfte seinen Bademantel vom Balkongitter, und nach einem weiteren Sichdehnen wie dem ersteren verschwand er hinter der Tür.«
Eine kurze Stille bezeichnete das Ende von Professor Tannenbaums Bericht.
»Mein lieber Professor«, bat Gula den Leibarzt der Parteihierarchie, »retten Sie meinen Gatten! Wir würden das allergrößte Opfer bringen, wenn er nur wieder gesund werden könnte! Was kann man für ihn tun?«
»In Amerika hat man solche geistigen Verwirrungen erfolgreich mit Elektroschock behandelt. Gibt es irgendeinen Weg, Herrn Dulnikker für eine Propagandatour auf eine lange Reise in die USA zu schicken?«
»Über solche Fragen müssen wir uns mit Zev beraten«, sagte Gula vorsichtig. Beide stürzten zum Haus des Schuhflickers und trafen den Sekretär angezogen und fertig an, als hätte er sie schon erwartet.
»Ich habe eine andere Idee«, erklärte er, »vielleicht können wir ihn auf zwei Monate in die Schweiz schicken?«
»Schön«, meinte die Frau, »aber wer wird sich dort um ihn kümmern?«
»Gula Dulnikker«, informierte sie der Sekretär, »Sie wissen, daß Sie sich in einer solchen Situation auf mich verlassen können!«
»Schön, aber wie bekommen wir ihn ohne Skandal aus diesem verdammten Dorf?«
»Es bleibt nur eine Wahl«, meinte Zev, »wir müssen Dulnikker vor ein fait accompli stellen. Ich werde heimlich seine wichtigsten Sachen packen und den großen Koffer in den Kofferraum des Wagens stellen. Dann werden wir Dulnikker unter dem Vorwand einer Rundfahrt durch die Umgebung in den Wagen bringen und geradewegs zur Überlandstraße fahren. Dulnikker wird unser heiliges Komplott erst entdecken, wenn er weit genug auf seinem Heimweg ist, und dann wird er bestimmt sein Schicksal hinnehmen.«
Alles lief planmäßig. Professor Tannenbaum erklärte den beiden Würdenträgern die Realitäten der Situation. Ohne die geringste Überraschung über seine Enthüllung versicherten sie ihm, sie würden den Kranken zwischen sich setzen und seine Aufmerksamkeit fesseln, bis die Gefahrenzone verlassen war. Während des Frühstücks stahl sich der Sekretär in die Kammer seines Herrn und Meisters, wo er mit geübter Dienstfertigkeit die wichtigsten Effekten in den großen Koffer packte. Er ließ ihn in den Garten hinunter fallen und versteckte ihn dann im Kofferraum des Wagens, der mit der Pünktlichkeit eines militärischen Manövers vor den Eingang des Hauses glitt. Zev beschloß, ihre Rechnung bei Elifas Hermanowitsch nicht zu bezahlen, um nicht Malkas Mißtrauen zu wecken. Er plante, alles Fällige, erst nachdem alles vorüber war, durch Schultheiß zu begleichen. Das, so meinte er, machte ihren Fluchtplan frei von Hindernissen. Dulnikker selbst half ihnen unwissentlich, indem er ihre Einladung, eine Tour durch die ländliche Umgebung zu machen, annahm, denn er sah darin ein ermutigendes Zeichen einer Änderung in der Einstellung seiner Besucher zu seinem Entschluß, im Dorf zu bleiben. Die Gruppe ging sofort nach dem Frühstück zum Wagen hinaus, aber auf der Straße begab sich etwas, das ihre Abreise verzögerte.
»Unser Geld zurück, bitte«, begrüßte etwa ein Dutzend Bauern Gula. Sie hatten sich um den Wagen versammelt und streckten ihr die Quittungen hin, welche ihnen die Zwillinge aufgedrängt hatten. »Wir wollten diese Zettel verwenden, um den Tnuva-Chauffeur für unsere Waren zu bezahlen, aber er will sie nicht annehmen.«
»Aber Genossen«, argumentierte Gula, »ihr habt Geld für Waisenkinder gespendet!«
»Das haben wir dem Chauffeur auch gesagt, aber er hat sich trotzdem geweigert, die Zettel als Geld anzunehmen. Vielleicht reden Sie mit ihm, gnädige Frau!«
Gula wollte die Entführung nicht durch einen weiteren Zeitverlust gefährden, daher begann sie die zerknitterten Zettel zurückzukaufen. Aus irgendeinem Grund kostete sie diese Aktivität insgesamt neun Pfund und 58 Agorot. Die Zwillinge, die diesem Umtausch mit erstaunlichem Gleichmut zusahen, benutzten das kurze Zwischenspiel, um ihren eigenen Beitrag zu der Verwirrung zu leisten. Sie zogen den Ingenieur beiseite und flüsterten ihm ins Ohr:
»Ihr Krankenwärter hat Ihren Koffer in den Wagen gesteckt. Dann hat uns Ihre Frau Ingenieur gebeten, es Ihnen nicht zu erzählen, und wir sagen auch nichts. Das wär’s.«
In diesem Augenblick saß die Gruppe im Wagen, bereit, Hals über Kopf und auf und davon zu fahren. Dulnikker stürzte zum Kofferraum, hob schnell den Deckel und erblickte mit seinen eigenen Augen seinen größten Koffer in majestätischer Ruhe daliegen. Blitzartig traf der Gestank des Komplotts die Nasenflügel seines Geistes. Er sprang zur Wagentür, riß sie auf und brüllte: »Was soll das?«
»Alles wird völlig in Ordnung kommen, Herr Dulnikker«, sagte Professor Tannenbaum, während er das Jackett des Staatsmannes packte und ihn hineinzerrte. Dulnikker begann mit dem Leibarzt der Parteihierarchie zu ringen, aber Gula schaltete sich ein und stieß ihren Gatten mit unwiderstehlicher Kraft auf seinen Sitz zwischen den zwei zu Stein erstarrten Würdenträgern. Gleichzeitig versuchte sie den Staatsmann zu beruhigen:
»Du darfst dich nicht aufregen, Dulnikker … das Land braucht dich … du bekommst alle Leitern und Regenschirme, die du willst, Dulnikker … es ist alles nur zu deinem eigenen Wohl …«
Die Reporter beobachteten atemlos diese Alptraumszene. Sie waren so erstaunt, daß der Bildreporter sogar vergaß, die Dulnikker-Entführung für die Nachwelt festzuhalten, was er sich nie verzieh. Zev saß die ganze Zeit drinnen, sein Gesicht ein Bild des »nichts-Ungewöhnliches-bemerkend«. Gula war die erste, die sich erholte, und rief dem Chauffeur zu: »Los!«
Genau in dem Augenblick riß Dulnikker den Mund auf und brüllte wild: »Hilfe! Entführer! Hilfe!«
Die Dörfler, die sich um den Wagen versammelt hatten, reagierten mit bemerkenswerter Wachsamkeit, rissen die geschlossene Wagentür auf und versuchten, ihren geliebten Ingenieur aus dem Wagen zu zerren. Die Schreie der Bürgerschaft »Sie entführen den Ingenieur!« wurden lauter, und kräftige Verstärkungstruppen ergossen sich von allen Seiten auf den Schauplatz. Diesmal waren sogar der Schuhflicker und der Barbier einig in ihren Anstrengungen, ihren Meister und Lehrer aus den Händen der Eindringlinge zu retten. Endlich zogen sie ihn gemeinsam durch die Tür, zusammen mit dem Teil Professor Tannenbaums, der um die Beine des Staatsmannes gewickelt war. Der Leibarzt der Parteihierarchie ließ Dulnikker schließlich los, als das Fenster neben dem Chauffeur durch einen Stein zerschmissen wurde. So kam es, daß das entfliehende Fahrzeug den Gegenstand seiner Flucht in den Händen seiner örtlichen Verehrer hinterließ.
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Der schwarze Wagen raste rücksichtslos über die Steine der Landstraße dahin, aber jetzt beachtete keiner der Leute drinnen sein Rütteln; sie beschworen alle einstimmig den Chauffeur, so schnell wie möglich zu fahren.
»Schnell, schnell!« schrie die zitternde Gula. »Sie verfolgen uns wahrscheinlich zu Pferd!«
Nachdem es klar wurde, daß die Wachsamen nicht über dem nächsten Kamm erscheinen würden, beruhigte sich die Aktivistin etwas und versicherte voller Zorn:
»Dulnikker ist wirklich irre!«
Die Würdenträger nickten zustimmend, während sie gleichzeitig die Freude über Dulnikkers Unglück überwältigte, denn sie hatten das Plappermaul immer gehaßt. Ihre Genugtuung war jedoch geringfügig, verglichen mit der guten Laune der Reporter. Denn sie hatten eben entdeckt, daß sie keinen frischen Artikel schreiben mußten. Sie brauchten nur die Schlagzeile über den 300 Wörtern zu ändern, die sie alle fertig hatten, und sie würden ihre Redaktionen mit einem sensationellen internationalen Reißer beschenken, mit der Balkenüberschrift: NEUESTER BEWEIS FÜR AMITZ DULNIKKERS IRRSINN!
Gula befahl eine kurze Rast und wandte sich mit der lebenswichtigsten aller Fragen an den Professor:
»Was jetzt?«
»So wie ich es sehe, Frau Dulnikker, leidet Ihr Gatte an einer neurasthenisch-psycholokalen Affinität zu dem Dorf Kimmelquell. Ich glaube daher, es wäre unklug, ihn aus dem Dorf zu reißen, solange er sich in seinem gegenwärtigen Zustand befindet. Überdies«, wandte sich der Leibarzt der Parteihierarchie an die Reporter, »würde ich vorschlagen, daß über das Thema so lange nichts veröffentlicht wird, bis er geheilt ist!«
»Klar«, murmelten die Presseleute mit saurem Gesicht. »Wirklich, das ist ganz selbstverständlich …«
Die erste Pause seit dem Beginn der Kette schrecklicher Ereignisse hatte eine mächtige psychologische Wirkung auf Gula! »Der arme Dulnikker« — ihre Tränen flossen vor Erleichterung —, »ich bin überzeugt, er ist von allen diesen seinen langen Reden wahnsinnig geworden … und jetzt wird er in diesem rückständigen Dorf mit diesen Barbaren so allein wie ein Hund sein … Selbst die Dinge, die er am meisten braucht, haben wir mitgenommen … Wer wird sich dort um ihn kümmern? Wer, um Gottes willen?«
Gulas Blick fiel auf das Gesicht des Sekretärs — und er erschauerte.