Der Ton formt den Töpfer
Als Amitz Dulnikker das Podium im Sturm nahm, verstummte die Menge. Nur der Schwiegersohn Gurewitschs am anderen Ende der Tafel griff sich an den Kopf, richtete seinen flehenden Blick himmelwärts und sagte zu seiner Frau:
»Wenn er auch hier zu reden anfängt, bekomme ich wiederum einen Nervenzusammenbruch!«
Der Staatsmann selbst hielt den Kopf hoch, atmete jedoch in seiner Aufregung so schwer wie irgendein Novize der Rednerkunst.
»Meine guten Freunde«, sagte er, »was um Gottes willen geht hier vor? Ich bin ein erfahrener Mann, aber wenn ich an das reizende, einfache und stille Dorf denke, das ich hier vorfand, als ich ankam, und an den streitsüchtigen, lärmenden Ort, den ich jetzt bald verlassen werde — ich schwöre, ich muß weinen …«
Dulnikkers Augen wurden tatsächlich feucht. Er stützte sich in plötzlicher Schwäche auf den Tisch, aber seine Stimme wurde stärker, bis sie so klar wie eh und je war. Einige Schritte weit von ihm entfernt nahm sein persönlicher Sekretär die Finger aus den Ohren und starrte den Staatsmann verblüfft an.
»Ihr wart wie eine große glückliche Familie. Ihr habt eure Arbeit und eure Freunde geliebt. Heute? Ihr habt gelernt, wie man argumentiert, Unsinn redet, und auch, wie man haßt. Nicht den Haß aus Zorn, sondern den Haß kalten Blutes aus kleinlicher Berechnung, zu dessen Parteigängern ihr eure Kinder gemacht habt. Wozu, meine Freunde? Warum? Habt ihr wirklich vergessen, wie die Berge aussehen, wie ein Kümmelfeld in der Blüte aussieht? Seid ihr nie im grünen Gras in der Sonne gelegen, stumm und friedlich, daß ihr denkt, der Schuhflicker und der Barbier seien alles, worauf es in dieser Welt ankommt? Was mit euch geschehen ist, übersteigt meinen Verstand, meine guten Freunde! Seid ihr krank?«
Amitz Dulnikker war überzeugt, daß er noch nie so primitiv gesprochen hatte und daß es ihm nur gelang, das Gefühl seines Herzens mit dem breiigen stammelnden Pathos eines sentimentalen alten Mannes auszudrücken.
»Bitte ändert die Dinge wieder so, wie es früher war, meine Freunde«, fuhr er flehend fort, »erneuert die Sitte der Dorfrunde, geht an die Arbeit auf den Feldern zurück. Wenn ihr es wünscht, dann wählt einen Bürgermeister, aber hört um Himmels willen mit diesem Tohuwabohu auf, bevor ihr einander gegenseitig die Gurgeln durchschneidet!«
Die Menge hatte sich von ihrem anfänglichen Schock erholt, und Wellen der Erleichterung durchliefen sie. Es war wirklich ein bißchen seltsam, eine solche Lektion ausgerechnet vom Ingenieur zu erhalten. Eine fröhliche Stimme verspottete den Staatsmann: »Herr Ingenieur, wieviel Wein haben Sie eigentlich getrunken?«
Dulnikker tat, als höre er die Anpöbelung nicht, aber das wilde, unbeherrschte Gelächter, das aus allen Kehlen drang, ließ ihn seinen großen Irrtum erkennen. Der Staatsmann öffnete den Mund, schloß ihn aber wieder. Und es kam kein Laut mehr von ihm. Er stand erschüttert und gelähmt vor den Leuten. Plötzlich kam ein Schreckensschrei vom Rande des Grundstückes:
»Feuer!« kreischte jemand. »Das Haus des Barbiers brennt!«
Die Menge drehte sich um, um zu schauen; erst dann merkte sie, daß hinter ihrem Rücken Flammen, die ein blaßrosa Licht ausstrahlten, vor dem Hintergrund aufsteigenden Rauchs hochsprangen. Aus der Menge erhob sich ein Gebrüll, alles stürzte in Panik weg und strömte zum Schauplatz des Brandes. Aber zwei Minuten später öffneten sich die Schleusen des Himmels weit, und ein segensreicher Regenguß löschte das Feuer im Nu.
Nur ein Mensch blieb an den Tischen auf dem Kulturfeld zurück. Der Staatsmann rannte nicht vor dem Regen davon, sondern überließ sich fast freudig dem schauerartigen Prickeln auf seinem Gesicht. Als es aufhörte, kehrte der Staatsmann ins Wirtshaus zurück. Sein durchnäßtes Gewand klebte an seinem Körper, der vor Kälte zitterte. Die Dorfbewohner sahen ihn von der Seite an, zurückhaltend und unsicher, als erblickten sie einen alten, harmlosen Narren, dem man es erlauben konnte, ungestört weiterzugehen. Der Ingenieur stand in diesem Augenblick ohnehin nicht im Brennpunkt ihrer Aufmerksamkeit. Alles rätselte an dem Feuer herum. Sicher, es war nur eine Wand im Hinterzimmer des Hauses von Hassidoff beschädigt worden, aber es war jedermann klar, daß nur himmlische Barmherzigkeit das Dorf vor einem nicht wieder gutzumachenden Unglück bewahrt hatte. Der Ursprung des Brandes war in Geheimnis gehüllt, da fast das ganze Dorf zu der Zeit auf dem Kulturfeld gewesen war. Trotzdem war ein und derselbe gräßliche Verdacht in den Herzen aller Bürger geweckt, obwohl freilich keiner seinen grauenhaften Gedanken in Worte zu fassen wagte.
Dulnikker ging schweren Schrittes die Holztreppe hinauf und fiel auf sein Bett. Malka kam hinter ihm herein und zog die Decke über ihn.
»Dumme Bauern, jeder einzelne von ihnen«, tröstete sie den Staatsmann. »Sie haben nicht genug Hirn, um Sie zu verstehen. Viele dachten, daß Sie, Herr Dulnikker, im Ernst gesprochen haben. Ich habe nur meine Zeit verschwendet, als ich ihnen zu erklären versuchte, daß es ein Witz war, daß Sie jemanden nachgemacht haben.«
Dulnikker lächelte höflich und schlief erschöpft ein. Nach zwei Stunden bleiernen Schlafs öffnete er die Augen und war überrascht: Auf einem Küchenschemel saß Zev vor ihm und lächelte ihn breit an. Dulnikker schlüpfte aus dem Bett, der Sekretär trat auf ihn zu, und beide Männer umarmten einander fest und wortlos. Lange standen sie so da, schweigend, einander liebevoll den Rücken tätschelnd. Und das Lächeln auf ihren Gesichtern vermochte ihre Rührung nicht zu verbergen. Beide waren bis zu Freudentränen über ihre Begegnung erregt, die gleichzeitig so natürlich und doch so unlogisch war.
»Hören Sie, Dulnikker«, sagte Zev etwas heiser, nachdem sie einander endlich losgelassen hatten, »ich bin mir erst jetzt bewußt geworden, daß Sie wirklich ein großer Redner sind. Wenn ich nicht so ein kleines Schwein wäre, würde ich sagen, daß Sie mein Herz gerührt haben.«
»Glaubst du, Zev?« Dulnikkers Gesicht strahlte auf, verdunkelte sich aber sofort wieder. »Keine Spur«, fügte er traurig hinzu. »Amitz Dulnikker hat vor den Bauern einen Narren aus sich gemacht.«
»Herr Ingenieur! Die Bauern haben es auch nicht gern, wenn sie mitten in ihren Spielen unterbrochen werden.«
Plötzlich brachen sie in ein ungeheures befreiendes Lachen aus.
Sie fielen auf die Betten, rollten herum, wanden sich auf dem Rücken, während sie seltsame Worte brüllten, unfähig, sich den Grund für ihren Ausbruch zu erklären, obwohl sie beide tief innen spürten, daß sie in Wirklichkeit über sich selbst lachten. Als ihr Heiterkeitsanfall vorbei war, stand Dulnikker auf und zog sich um.
Er hatte sich durch Zevs Rückkehr erstaunlich verjüngt, aber die Zeichen des Alters blieben in seinem Gesicht eingegraben. Zevs Gesicht hingegen war beträchtlich runder und sein Körper plump und dicklich geworden.
»Höre, mein Freund Zev«, zog ihn Dulnikker gutmütig auf, »dein ausgestopfter Kopf beginnt allmählich wie der Vollmond auszusehen, wie der Kopf des Schächters, der zum Rabbi kam und rief, ›Rebbe, Rebbe‹ …« Plötzlich schwieg der Staatsmann und runzelte die Stirn, als ihm ein Gedanke in den Sinn kam. »Genossen«, fragte er zögernd seinen Sekretär, »habe ich euch je diesen Witz erzählt?«
»Nein«, erwiderte Zev. Und erst am Ende — als es sich herausstellte, daß der Schächter zu Rosh Hashanah nicht Schofar blasen durfte, weil er nicht in das kalte Wasser der Mikve untergetaucht war, brach der treue Sekretär in ein echtes, aufrichtiges Gelächter aus, das dasjenige des Staatsmannes noch übertraf.
»Großartig«, keuchte Dulnikker erleichtert. »Wie geht’s deiner reizenden Frau? Wie trägt sie ihren gesegneten Zustand?«
»Worüber reden Sie da?« Der Sekretär wurde ernst. »Es gibt keine gesegneten Umstände. Eine Woche nach der Trauung kommt Dwora und sagt zu mir: ›Zev, ich glaube nicht, daß ich schwanger bin.‹ Haben Sie je schon einmal so was Dummes gehört, Dulnikker?«
»Scherze des Schicksals«, versicherte Dulnikker und fügte ein bißchen bekümmert hinzu: »Natürlich bedauerst du es jetzt, daß du sie geheiratet hast?«
»Ich habe sie nicht geheiratet, Dulnikker. Nur unter uns: Ein Schächter ist doch kein Rabbi!«
Der Sekretär lag auf dem Rücken im Bett und starrte zur Decke.
»Haben Sie wegen Dwora kein ungutes Gefühl, Dulnikker. Ein paar Wochen Eheleben haben genügt, ihr beizubringen, daß ich für sie zu intelligent bin. Mischa der Kuhhirt paßt zu ihr, nicht ich. Und das Komischste an der ganzen Sache ist, daß ich gerade jetzt — wirklich, wie soll ich es ausdrücken — sie gern zu haben begann. So ein Hühnchen!«
Dulnikker konnte seinen Handrücken nicht länger beherrschen, die Umgebung seiner Nasenflügel zu reiben, ein Vergnügen, das er seit langem nicht mehr genossen hatte.
»Also, was wird jetzt?«
»Wir sind übereingekommen, daß ich mich davonmache, sobald ich ihren Vater loswerden kann.«
»So gern hat dich Gurewitsch?«
»Wie ein Loch im Kopf, Dulnikker. Aber er läßt mich bis zur Wahl nicht aus den Augen, weil er meinen Rat braucht.«
»Die Dorfbewohner sind wahnsinnig geworden«, versicherte Dulnikker. Und er enthüllte seinem Sekretär mit gesenkter Stimme vertraulich einen Teil des Briefes, den er durch seinen vertrauenswürdigen Chauffeur Gula geschickt hatte. »Mein Wagen kann jeden Augenblick eintreffen«, schloß der Staatsmann seine Erzählung, und die Hoffnung, daß sie bald in den Wirbel des öffentlichen Lebens zurückkehren konnten, erinnerte Zev an seine etwas vernachlässigte ehemalige Funktion.
»Ich wünsche Ihnen Glück, Dulnikker«, sagte er im offiziellen Tonfall des Ersten Sekretärs. »Es ist wirklich an der Zeit, daß Sie die Angelegenheiten Ihres Büros wieder in die Hand nehmen.«
Auch Dulnikker war über die angenehme Veränderung froh.
»Ich bin aus offenkundigen Gründen etwas müde, Genossen«, sagte er, während er im Zimmer auf und ab ging. »Ich werde wirklich froh sein, wenn Sie sich, mein Freund, daran machen, einen Entwurf für meine Rede an die Reporter nach meinem Empfang zu verfassen. Ein paar Worte über den gesunden Einfluß ruhiger Ferien draußen auf dem Land und Rast für die Nerven einer Gestalt der Öffentlichkeit …«
»Sie brauchen nicht weiterzureden, Dulnikker.« Der Sekretär zog einige gefaltete Blätter aus der Tasche. »Es ist schon alles da.«
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Die letzte Sitzung des Provisorischen Dorfrats fand in einer beispiellos geladenen Atmosphäre statt. Auf der Tagesordnung stand eine heikle, gefahrvolle Frage. Mit anderen Worten, die Dorfjugend hatte die Regierung informiert, daß sie eine Fußballmannschaft aufzustellen wünsche, die gegen die Mannschaft des Dorfes jenseits des Flußberges antreten wolle. Diese explosive Idee wäre noch vor einigen Monaten als gotteslästerlich empfunden worden, angesichts der Veränderung jedoch, die sich in der Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber Reisen vollzogen hatte, war die Sache schwierig zu entscheiden. Die Dorfräte beeilten sich daher nicht, eine Entscheidung zu treffen, sondern gingen persönlich in das Gebiet am Fuß der Dämme und studierten die Übungen der Jungen ausgiebig. Danach beschloß der Dorfrat — im Prinzip — zugunsten eines einmaligen Matchs mit dem Dorf Metula, blieb dann jedoch bei der Streitfrage der Auswahl der Kimmelquellmannschaft stecken.
Das war wirklich eine komplizierte Sache. Natürlich verlangte der Barbier die Majorität der Mannschaft für sich, und zwar weil er Geschäftsführender Bürgermeister und der Block seiner Anhänger der größte aller Lager im Dorf war. Aber der Schuhflicker leugnete letztere Behauptung mit der Feststellung, daß die Schuhflickerklasse in der Schule nicht kleiner war als die des Barbiers, und fügte hinzu, daß außerdem der Ball sein eigenes Erzeugnis sei. Daher verlangte er für seine Anhänger unter anderen Positionen auch drei von den fünf Stürmern. Dementsprechend drangen die übrigen Repräsentanten, gegründet auf ihren Rang im Dorf, auf gute Positionen für sich. Überdies verkündete der Schächter, daß er die Spieler persönlich zu begleiten wünsche, um in dem Gewühl von Metula ein Auge auf sie zu haben.
»Auch verstehe ich etwas von Fußball«, empfahl sich der Schächter selbst. »Im Chaider pflegten wir eine Menge zu spielen, bis uns der Lehrer erwischte und uns die Schläfenlocken ausriß.«
Die Abgeordneten stimmten der Reise des Schächters zu, da es unvernünftig war, ihn allein im Dorf zu lassen, wenn alle Dorfräte die Bürde auf sich nehmen würden, die Mannschaft zu begleiten. Über die Zusammensetzung der Mannschaft konnten sie jedoch einfach zu keiner Übereinstimmung gelangen. Elifas Hermanowitsch schlug, um den Spielern gegenüber nicht ungerecht zu sein, die Verschiebung des Spieles bis nach den Wahlen vor, weil es dann leichter sein würde, das Team der Wahlstärke entsprechend aufzustellen. Sein Vorschlag wurde jedoch unverzüglich niedergestimmt, weil es, behaupteten sie, nach den Wahlen für die Spieler nicht mehr nötig sein würde, eine solche Reise zu machen.
Zemach Gurewitschs Geduld erreichte schließlich ihre Grenze, und er stellte der Plenarsitzung des Rats ein Ultimatum, indem er nachdrücklich folgende Mannschaftsstruktur verlangte:
Schuh
Barb Schäch
Schuh Schuh Barb
Schnei/Wir Barb Schuh Schuh Barb
»Die zwei Rechtsaußen sind folgendermaßen zu verstehen«, erklärte Gurewitsch: »In der ersten Spielhälfte wird der Mann Hermanowitschs spielen, und der Mann Kischs wird in der zweiten Hälfte spielen oder andersherum; ist mir egal. Weitere Konzessionen zu machen, bin ich nicht bereit.«
Gurewitschs Kühnheit weckte wilde Wut im Herzen des Barbiers.
»Genossen, ihr seid verrückt!« schrie er den Schuhflicker an. »Nicht nur, daß ihr fünf Plätze für euch in Anspruch nehmt, aber ihr beansprucht bei ihnen auch den Mittelläufer und den Mittelstürmer? Wollt ihr, daß mich ganz Metula auslacht?«
»Die Mannschaft muß das Dorf repräsentieren«, beharrte Gurewitsch hartnäckig. »Mir haben vierzig Leute Quittungen unterschrieben, daß ich ihnen die Schuhe kostenlos geflickt habe.«
»Und ich sage Ihnen, meine Herren«, krächzte der Barbier mit Schaum vor dem Mund, »ich werde eine Mannschaft ohne einen einzigen Schuhflickernik in ihr zusammenstellen, nur mit Sfaradi und Kisch mit einer Stimmenmehrheit von drei!«
Die kommunale Drohung ließ Gurewitsch die Selbstbeherrschung verlieren:
»Tyrann!« brüllte der Schuhflicker. »Ein Bürgermeister wie Sie sollte verbrannt werden!«
»Verbrannt? Ah — Sie lassen also die Katze aus dem Sack?«
»Sie kann Ihnen auch aus Ihrem Bauch herauskriechen, Sie Bauernlümmel!«
»Ach nein? Nu, ich schlitze Ihnen Ihre dreckige Gurgel auf, Sie Bauernlümmel, wenn Sie es je wagen, den Eingang meines Barbierladens zu verfinstern!«
»Keine Angst! Eher hänge ich mich auf, Sie Bauernlümmel, bevor ich Ihr stinkendes Loch betrete!«
»Nur los, hängen Sie sich auf! Ich werde nur darauf sehen, daß man mich Gott behüte nicht neben Ihnen begräbt, Sie Bauernlümmel!«
(»Bitte, das können wir später erörtern«, murmelte Ofer Kish, der Totengräber des Dorfes. In seiner fruchtbaren Phantasie teilte er den Kimmelqueller Friedhof — dem Schulreformplan folgend — schnell in die Enklaven des Schuhflickers, des Barbiers und der übrigen Abgeordneten.)
Die Rivalen standen einander wie zur Entscheidungsschlacht angespornte Kampfhähne Aug in Aug gegenüber. Zev war bei dieser Sitzung nicht anwesend: Die Abgeordneten fühlten sich frei.
»Glatzkopf!«
»Klumpfuß!«
Dulnikker wurde durch das Geräusch splitternden Glases aufgeweckt und trat gerade auf den Balkon hinaus, als der Barbier und der Schuhflicker durch das Fenster der Ratskammer hinauskollerten. Beide Abgeordneten hatten einander mit Zähnen und Fingernägeln gepackt und bedeckten sich mit dem Schmutz der Landstraße, während jeder »diesem Bauernlümmel« tödliche Hiebe versetzte. Diesmal beeilte sich der Staatsmann jedoch durchaus nicht, den Kampf abzubrechen. Er schaute mit einem Gefühl heilsamer Erleichterung hinunter. »Wenn sich diese schwachsinnigen Kreaturen gegenseitig umbringen würden, dann wäre das Dorf gerettet«, dachte Dulnikker und ging gelassen vor das Wirtshaus, weil das Laub der Bäume am Straßenrand die zwei ineinander verbissenen Kämpfer vor seinen Blicken verbarg.
»Sie sehen, Herr Ingenieur«, jammerte Elifas Hermanowitsch, der neben dem Staatsmann stand, »wie sie das Image des Dorfrats zerstören.«
Dulnikker brach in einen Lachanfall aus, der seinen ganzen Körper schüttelte. »Mögen sie sich ihres Geschmacks an Schmutz erfreuen«, sagte er zu sich. »Ich wünschte, daß dieser Liliputanerzirkus zerfiele, daß dieser ganze Dorfrat vom Angesicht der Erde weggewischt würde, denn er hat meine Ferien auf dem Land verdorben und zerstört. Mit welchem Recht haben sich die Abgeordneten in mein Privatleben gemischt und meine Ruhe zerstört? Wie haben sie mich in ihre Irrsinnsverwirrung mit hineingezogen?«
»Vielleicht bin auch ich etwas schuld daran«, überlegte der Staatsmann. »Am Tag meiner Ankunft in dem Dorf hätte ich den Provisorischen Dorfrat unterrichten sollen, daß ich an der Regelung seiner Gemeindeangelegenheiten nicht teilnehmen würde. Jetzt …«, Dulnikker streckte sich genußvoll, »jetzt ist mir Gott sei Dank die ganze Angelegenheit ohnehin aus den Händen genommen«.
Wenige Schritte entfernt bemerkte Dulnikker ein gefaltetes Stück Papier, eine aus seinem Parteiorgan gerissene Seite, mit der die Tnuva ihre Kartons ausstopfte. Neugierig hob Dulnikker die Seite auf, weil das Blatt noch nicht zu gelb war. Er strich es glatt und begann zu lesen.
Wenig später brach der Staatsmann an der Ecke des Wirtshauses fast zusammen, und kalter Schweiß brach auf seinem bleichen Gesicht aus.
Sowie er sich leicht erholt hatte, raste der gefährlich erregte Staatsmann zum Schuhflickerhaus hinüber und hielt seinem Sekretär die Zeitungsseite unter die Nase. Ganz unten auf der Seite versteckt stand eine kurze bescheidene Notiz:
Ein Sprecher des Presseamts der Regierung gab gestern abend bekannt, daß Amitz Dulnikker aus Gesundheitsgründen um seine Entlassung ersucht habe, die vom Minister angenommen wurde. Die Regierung ratifizierte die Ernennung Shimshon Groidiss’ zum Stellvertretenden Generaldirektor anstelle Dulnikkers.
»Was hast du dazu zu sagen, mein Freund?« knurrte Dulnikker, und eine panische Angst tanzte in seinen Augen. Nur einmal, vor ungefähr zehn Jahren, war Dulnikker etwas Ähnliches zugestoßen, als man ihn leise aus dem Parteivorstand hinausgeschmissen hatte. Damals gründete Dulnikker sofort die Fraktion für Interne Säuberung, die er erst auflöste, als man ihn — in Panik — als Vorsitzenden wieder eingesetzt hatte. Aber damals war der Staatsmann um zehn Jahre jünger gewesen.
»Das bedeutet nichts, Dulnikker«, versuchte ihn der Sekretär zu beruhigen. »Bald kehren wir heim und kümmern uns darum. Es ist schon Schlimmeres passiert.«
»Schlimmeres als das?« Dulnikkers Gesicht lief rot an, und was immer von seiner Kraft übriggeblieben war, sammelte sich in seiner Kehle. »Soll das das Schicksal eines Mannes sein, der seinerzeit die Partei aufbaute und heute mit sechsundsiebzig Jahren am Ende seines Lebens steht, an dem jeder Tag aktiv und schöpferisch war? Nennst du das ›nichts‹, Zev, mein Freund, daß am Ende ausgerechnet Shimshon Groidiss auf meinen Platz gesetzt wird? Bedeutet das, meine Herren, Ihrer Meinung nach keine Provokation? Oder sind Sie vielleicht froh über meinen Sturz?«
»Schon gut, Dulnikker, schon gut«, entschuldigte sich seine hilflose Rechte Hand, »wir werden mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln kämpfen!«
»Kämpfen?« flüsterte Dulnikker. »Ich, Amitz Dulnikker, werde mich so erniedrigen, daß ich diesem unreifen Niemand Shimshon Groidiss den Krieg erkläre?«
»Nein, Dulnikker, wirklich nicht.« Zev blickte ängstlich auf die geschwollenen Adern. »Ein Kampf ist gar nicht nötig!«
»Großartig!« brüllte der Staatsmann. »Du erwartest also, daß ich mit gefalteten Händen dasitze, während mich die infernalischen Huligane ruinieren, nur weil mein Sekretär zu schwach ist, um als Puffer zu handeln? Nein, mein Freund Zev, wenn du Angst hast, dann tritt beiseite. Aber ich bitte dich, versuche nicht, meinen Kampfgeist zu zerstören!«
Der Sekretär erkannte, daß er nicht imstande war, den Vulkan zu löschen. Daher hielt er den Mund.
»Aha! Jetzt also schweigen wir, meine Herren!« Die Wut des Staatsmannes erreichte ihren Gipfel. »Es zahlt sich für uns nicht aus, unser Verhältnis zu Shimshon Groidiss wegen eines langweiligen Alten wie Dulnikker zu ruinieren, wie? Aber ich, mein Freund Zev, werde nicht davor zurückschrecken, diesen internationalen Skandal vor einen Untersuchungsausschuß zu bringen! Ich weiß, was hinter all dem steckt! Shimshon Groidiss rächt sich an mir, weil meine Stimme ihn vor dreizehn Jahren davon abhielt, wegen des Nationalfonds nach Australien geschickt zu werden. Und andererseits ist die Frau von Shimshon Groidiss mit Dahlia Groß befreundet, und Dahlia war seinerzeit die Schwägerin dieser Giftschlange Zvi Grinstein, der mich wie die Pest haßt, weil seine Ernennung zum Stellvertretenden Generalpostmeister nicht gebilligt wurde und er glaubt, ich hätte statt ihn Shimshon Groidiss unterstützt.«
Dulnikker, die Stirnadern zum Platzen angeschwollen, begann im Zimmer auf und ab zu rasen.
»Zev«, schrie er, »ich bin nicht bereit, auch nur einen Tag länger auf Gula zu warten! Ich werde mich unverzüglich mit dem Tnuva-Chauffeur in Verbindung setzen. Der Preis spielt keine Rolle. Wir fahren noch heute abend!«
»Pscht!« flüsterte der Sekretär und blickte in bleicher Furcht zur Wand der Schuhflickerwerkstatt. »Mein Schwiegervater wird Sie hören, Dulnikker!«
»Soll er mich hören, das ist mir egal!« brüllte der Staatsmann. »Diesmal wird es dir nicht gelingen, mein Freund, meine Abreise aus diesem übelriechenden Loch zu verhindern! Heute abend fahren wir!«
»Sch-sch-sch!« bat ihn sein treuer Gefolgsmann mit zischendem Geflüster. »Wenn Gurewitsch entdecken sollte, daß ich drauf und dran bin, mich aus dem Staub zu machen, wird er mich in den Hühnerstall einsperren, das verspreche ich Ihnen, Dulnikker.«
»Das wäre fein«, meinte der Staatsmann. Aber dann erbarmte er sich des entsetzten jungen Mannes. »Keine Angst, Genossen!« fügte er hinzu. »Selbst ich muß diskret handeln, weil ich vermute, daß sich Malka Gott behüte etwas antut, wenn sie meine Absicht vermutet. So daß ich unseren Plan nur dem Chauffeur, dem ich vertraue, enthüllen werde.«
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Alles verlief planmäßig.
Dulnikker lag angezogen auf seinem Bett, zu handeln bereit, während alle möglichen Gedanken über »diese Ratte« Groidiss in seinem Gehirn nagten. Er war nichts als Verlangen, über nichtverzeichnete Landstraßen in der stockdunklen Nacht dahinzurasen, bis die angestrengten Pferde erschöpft vor dem Hauptgebäude der Partei zusammenbrachen und er, Dulnikker, mit Gewalt hinaufstürmen, in Zvi Grinsteins Büro platzen und brüllen würde:
»Was geht hier vor, Genossen?«
Zum Glück wurde Mischa bei diesem Ausbruch nicht wach. Dulnikker hielt einige Augenblicke den Atem an und wartete, dann glitt er vorsichtig von seinem Bett herunter und begann im schwachen Mondlicht leise seine Sachen zu packen. Das Öffnen der Schranktür dauerte wegen ihrer knarrenden Angeln eine Ewigkeit wie die Schöpfung selbst. Der Staatsmann kniete sich neben seinen größten Koffer und quetschte nur die nötigsten Sachen hinein, weil er beschlossen hatte, den Großteil seines Gepäcks im Dorf zu lassen, um seine Flucht nicht zu gefährden. Er riß eine Seite aus seinem Notizbuch, in das er in den vergangenen Tagen seiner Depression einen Vortrag über den »Soziologischen Stand primitiver Bevölkerungsteile in unserem Land« zu schreiben begonnen hatte. Er kratzte mit einem Bleistift und unter großer Anstrengung seiner Augen:
An
Herrn und Frau Elifas Hermanowitsch
Gasthof
Kimmelquell
Meine lieben Freunde! In den gestrigen späten Nachtstunden erhielt ich ein Telegramm mit dem Ersuchen, unverzüglich in mein Büro zurückzukehren, damit ich mich um eine bestimmte Angelegenheit von höchster Wichtigkeit kümmere. Es ist mir daher zu meinem großen Bedauern unmöglich, mich persönlich von Ihnen zu verabschieden. Ich möchte Ihnen beiden meinen tief empfundenen Dank für die angenehmen Ferien zum Ausdruck bringen, die ich in Ihrem Hotel im Dorf Kimmelquell genossen habe. Die Küche ist befriedigend, die Bedienung recht gut und die Landschaft herrlich. Ich empfehle Ihr Hotel jedem Interessenten.
Hochachtungsvoll
Ingenieur Dulnikker
Nachdem der dankbare Staatsmann seinen Abschiedsbrief in eine zur Veröffentlichung geeignete Fassung gebracht hatte, legte er eine große Geldsumme auf das Blatt. Als er seinen Brief nochmals durchgelesen hatte, strich er jedoch das Wort »Ingenieur« aus.
»Albern«, murmelte er, »schließlich bin ich überhaupt kein Ingenieur.«
Dulnikker trug einen alten grünen Pullover, dazu grüne Wollfäustlinge und Ohrenschützer, sowohl wegen der Winterkälte als auch aus persönlichen Überlegungen. Er drückte seinen Koffer zu, indem er sich mit seinem ganzen Gewicht auf ihn setzte. Die Schlösser klickten scharf zu, aber — dem Himmel sei Dank — der Polizist schlummerte weiter wie ein Bär im Winterschlaf.
Die Situation war dennoch äußerst kritisch. Einerseits konnte er es nicht riskieren, die knarrende Holztreppe hinunterzusteigen, weil der Wirt und Malka im Nebenzimmer schliefen. Andererseits war jedoch sein Regenschirm dem zusätzlichen Gewicht des Koffers nicht gewachsen. Deshalb knüpfte der Staatsmann seinen Bademantel an sein sorgfältig zusammengedrehtes Bettlaken und fügte noch ein Handtuch hinzu, dessen anderes Ende er um den Griff des Koffers schlang. Dann trug er den ganzen Apparat auf den Balkon und senkte die Ladung sorgfältig in den Garten hinab, während ihn die ganze Zeit die Frage bekümmerte: ‘Warum nur muß ich immer alles selber machen?’
Der vollgestopfte Koffer schwebte durch die Luft und stieß gelegentlich so laut an die Hauswand, daß Dulnikker sich schreckliche Szenen vorzustellen begann, in denen Malka in sein Zimmer gestürzt kam, sich ihm zu Füßen warf und laut kreischte: »Gehen Sie nicht fort, Dulnikker, gehen Sie nicht fort!«
Der Staatsmann begann vor Aufregung zu schwitzen. Zu alledem stellte sich heraus, daß er das behelfsmäßige Bademantel-Bettlaken-Handtuch-Seil nicht wieder heraufziehen konnte, weil sonst auch der Koffer mit heraufgekommen wäre.
Dulnikker blickte auf die Uhr und stellte zitternd fest, daß ihm nur noch zehn Minuten bis Mitternacht blieben. Daher schuf er für seinen eigenen Bedarf ein zweites Seil aus allen Stoffgegenständen, die ihm in der Dunkelheit des Zimmers zur Hand kamen, einschließlich des Tischtuches, der Hose und des Unterhemds des Kuhhirten sowie seiner eigenen Krawatte, die er hastig vom Hals knüpfte und an dem Balkongitter befestigte. Dann kehrte Dulnikker auf einen Augenblick in das dunkle Zimmer zurück, um sich davon zu verabschieden, aber die kühle Luft draußen ließ ihn plötzlich laut niesen.
Mischa wachte auf und fragte undeutlich: »Was ist denn?«
»Mi-i-au«, erwiderte der Staatsmann, öffnete seinen großen schwarzen Regenschirm und eilte über das neue Seil hinunter. Aber das Schicksal arbeitet zu solchen Zeiten mit einem unbegrenzten Budget an Hindernissen. Das Unterhemd des Kuhhirten zerriß mit einem lauten Knall, und Dulnikker landete neben seinem Koffer, halb verrückt von den nächtlichen Verwirrungen. Es war genau Mitternacht. Dulnikker stand auf, nahm sein Gepäck und fing zu laufen an. Er stolperte jedoch sofort und fiel flach aufs Gesicht, weil sich das noch immer an seinen Koffer geknüpfte Seil um einen Baum gewickelt hatte. Mit klappernden Zähnen versuchte der Staatsmann, den Knoten um den Koffergriff aufzuknüpfen, aber er kam damit nicht weiter. Daher befreite er den Baum aus dem Griff des Seils und lief wie irr durch die Hecken auf die Straße hinaus …
»Schon weg?« fragte der Wirt seine Gattin, welche die Manöver des Ingenieurs durch das Fenster beobachtet hatte.
»Hoffentlich«, erwiderte Malka und ging ins Bett zurück.
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In Amitz Dulnikkers sehr aktivem Leben nehmen jene paar hundert Schritte den Rang eines unvergeßlichen Alptraums ein. Die wachsamen Dorfhunde begannen sich sofort für die lange Schleppe zu interessieren, die hinter der Gestalt dahinzog, und sie fielen mit wütendem Gebell über sie her, so daß Dulnikkers letzte Schritte vorwärts zu einem Tauziehen zwischen ihm und der Hundemeute wurde. Es ist sehr zu bezweifeln, ob die Hunde durch ein rein zahlenmäßiges Übergewicht den Staatsmann den Weg zurückgezogen hätten oder nicht, wäre sein loyaler Freund, der Chauffeur, nicht aus dem Schatten der Nacht aufgetaucht, um Dulnikker zu helfen, die einfältigen Tiere loszuwerden.
»Wo ist mein Krankenwärter?« fragte der Staatsmann am Rand eines körperlichen und geistigen Zusammenbruchs. Der Chauffeur brachte ihm die bittere Neuigkeit bei.
»Ich weiß nicht, wo Ihr Sekretär ist, mein Herr«, erwiderte er. »Sollte er ebenfalls kommen?«
»Oh, Himmel«, schrie Dulnikker, »man hat ihn entführt!« Die Hütte des Lagerhauswächters war wieder hell erleuchtet.
Die Hunde stolzierten weiter um die beiden Männer herum, sprangen an ihnen hoch und bellten. Dulnikker sah auf seine Armbanduhr: 0 Uhr 10.
»Wir müssen fahren«, flüsterte er heiser. »Ich habe alle Brücken hinter mir verbrannt. Ein Rückzug ist unmöglich.«
»Fein. Ganz, wie Sie wünschen, mein Herr«, erwiderte der Chauffeur. »Klettern Sie unter die Plane. Schnell. Ich werfe Ihnen den Koffer hinein.«
Dulnikker trottete hinter den massigen Lastwagen und setzte einen Fuß auf die eiserne Sprosse des Wagens. Plötzlich verspürte er den starken Wunsch, einen letzten Blick auf Kimmelquell zu werfen. Es war seltsam, aber in diesem Augenblick empfand er überhaupt keine Abneigung gegen das Dorf. Gerade umgekehrt: Eine Art Wärme umhüllte Dulnikker, obwohl ihm von seiner Flucht über die finstere Landstraße alle Glieder schmerzten. »Wenn das Dorf Beleuchtung hätte, wäre mir so etwas nie passiert«, dachte der Staatsmann. ‘Sobald ich heimkomme, schreibe ich Joskele Treibitsch eine Zeile, er soll ihnen Strom geben.’
Dulnikker atmete tief auf und kletterte in den Hinterteil des Lastwagens.
»Entschuldigen Sie, Ingenieur«, flüsterte ihm jemand ins Ohr, »es tut mir leid …«
Dulnikker vernahm das Geräusch eines undeutlichen Schlags auf seinen Schädel, und alles wirbelte ihm im Kopf durcheinander.