Die Verlängerung eines Wunders
Die Nachricht vom Zustand der Schuhflickerstochter breitete sich von den Kreisen um Hermann Spiegel aus. Das Mädchen klagte dem Tierarzt, daß es an gelegentlichen Schwindelanfällen litt. Daher untersuchte er sie sorgfältig und fand sie als das, was sie war. Als der Arzt Dwora mit freudigem Tremolo ihre gesegneten Umstände mitteilte, brach sie in eine Tränenflut aus und bat ihn, keinem Menschen etwas zu sagen. Hermann Spiegel beruhigte das gefallene Mädchen und versicherte ihr, daß seine Berufsehre ihn verpflichtete, ihr Geheimnis auf alle Fälle zu wahren, und daß er nicht einmal den Bauern verriet, wenn ihre Kühe guter Hoffnung waren. Und die Wahrheit ist, daß Hermann Spiegel keiner Menschenseele etwas von Dworas Zustand sagte, außer natürlich seiner Frau.
Dulnikker wurde über die jüngste Schlagzeile an der Wand auf eine einzigartige Weise unterrichtet.
Dank seiner Beschäftigung mit dem Vieh am Busen der Natur war der Schlaf des Staatsmannes seit neuestem unvergleichlich süß und leicht geworden — ein wunderbares Gefühl, dessen er in den dreißig Jahren seit seiner Ernennung zum Regionalsekretär der Partei beraubt gewesen war. Dulnikker bezog großes Vergnügen aus der erfreulichen Veränderung und begann die langen Nachmittagsschläfchen zu genießen. An jenem schwarzen Tag wurde der Versuch des Staatsmannes, sein Nickerchen zu machen, im Keim erstickt. Wie in einem Alptraum sah er plötzlich das Gesicht eines gräßlichen Gespenstes, das ihn an der Gurgel faßte und kräftig schüttelte, wobei es ununterbrochen kreischte:
»Dulnikker! Dulnikker!«
Dulnikker schüttelte sich zitternd, und es gelang ihm, sich zu wecken. Aber das Gesicht des seltsamen Geschöpfes verschwand nicht, denn es zeigte sich unverzüglich, daß es das Gesicht seiner Rechten Hand war, die ihn unter lautem Geschrei auf dem Bett schaukelte. Tatsächlich identifizierte Dulnikker Zev nur an dessen Stimme, denn sein Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit grün und blau.
»Oh, mein Gott!« Dulnikker sprang aus dem Bett. »Was ist geschehen, mein Freund?«
Das sekretärähnliche Geschöpf brach auf dem Bett zusammen und klagte seinem Herrn und Meister unter ständigen Schmerzensschreien sein Leid. Auch Zev hatte ein Mittagsschläfchen gehalten, als plötzlich die Tür seines Zimmers im Haus des Schuhflickers aufsprang, eine übermenschliche Kraft ihn aus dem Bett zog und grausame Hiebe auf sein Gesicht niederhagelten, bis das Blut floß.
»Ganz fraglos ein Akt der Brutalität«, stellte der Staatsmann fest.
»Zuerst verstand ich gar nichts«, jammerte Zev. »›Ich will dir beibringen, Dorfmädchen zu verführen, du Schweinehund‹, hörte ich durch die Hiebe hindurch, ›jetzt werden wir ja sehen, ob du so ein Zuchthahn bleibst?‹«
Zu seiner großen Überraschung spürte Dulnikker, wie sich seine Lippen zu einem behaglichen Lächeln verzogen. Es gelang ihm jedoch schnell, seine schadenfrohen Gedanken zu unterdrücken.
»Mein Freund, das mußt du unbedingt dem Dorfpolizisten erzählen!«
»Ich hab’ ihm ja die ganze Zeit gesagt, er soll um Gottes willen aufhören, mich umzubringen, aber es war nutzlos.«
»Was?«
»Sie haben richtig gehört«, heulte der Sekretär und bearbeitete die Matratze mit beiden Füßen. »Die Idioten hätten es nie gewagt, sich so zu benehmen, wenn Sie sie nicht verdorben und ermutigt hätten, frech zu werden!«
»Eine Sekunde!« unterbrach ihn Dulnikker. »Zuallererst wollen wir einmal die Tatsache feststellen, daß die Schuhflickerstochter nicht von mir schwanger ist. Zweitens habe ich dich beizeiten gewarnt, mein Freund, dich vor unbedachten Abenteuern zu hüten, aber meine Worte waren ja bloß eine Stimme in der Wüste der Sünde.«
Nach Zevs Ausbruch fühlte sich Dulnikker nicht länger verpflichtet, höflich zu sein.
»In solchen Fällen« — er rieb sich die Nase mit dem Handrücken —, »in solchen Fällen kommt es häufig vor, daß der Mob den Verführer lyncht.«
Der Sekretär lehnte sich an die Wand zurück, und sein Gesicht zuckte vor Angst.
»Ja, mein Herr!« fuhr Dulnikker fort und ging auf und ab. »Wer immer unfähig ist, seine Neigung zu bezähmen, und ein Sklave seiner Lust wird, täte viel besser daran, seinen Ehrgeiz aufzugeben, dem Volk und der Partei zu dienen. Große Staatsmänner wie Julius Cäsar, alle Habsburger, Zvi Grinstein und andere stürzten einfach wegen ihrer unverantwortlichen sexuellen Schwäche von ihrer hohen Stellung. Das Volk, Genossen, das Volk weiß alles! Du bist gewogen und für zu leicht befunden worden, Zev, mein Freund.«
Der entnervte Sekretär erhob sich, die Finger noch immer in die Ohren gestopft, und brüllte:
»Genug! Genug, sag’ ich, Dulnikker! Ich bin in der schlimmsten Situation, und alles, was Sie tun, ist, mir einen Vortrag halten!«
Genau in diesem Augenblick brach zwischen den Bauern im Schankraum ein Wortgefecht aus — etwas heutzutage sehr Übliches —, und ihre lauten Schreie drangen in Dulnikkers Zimmer. Zev schaute verwirrt wie ein gehetztes Tier um sich, das die Jäger einkreisen. Er stürzte auf den Balkon hinaus, kletterte über das Gitter und floh stöhnend und hinkend auf die Straße.
Am Abend wußte jedermann, daß der Krankenwärter verschwunden war.
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Die Sache war mehr als undurchsichtig.
Der Wächter des Lagerhauses war der letzte gewesen, der den Krankenwärter gesehen hatte, als dieser in das Lagerhaus stürzte und schnell einen Laib Brot, eine Flasche Zitronensaft und eine »extrastarke« Taube kaufte. Der Wächter war sehr erschrocken über die Erscheinung des jungen Gespenstes und atmete erst leichter, nachdem Zev die Waren in seine gelbe Aktenmappe gestopft und auf torkelnden Beinen in die Wälder davongeeilt war. Nachher wurde das verzerrte Gesicht des Krankenwärters von niemandem mehr gesehen. Der Polizeichef eröffnete sofort eine Untersuchung, um etwas Licht auf den Ursprung der dem Vermißten zugefügten Verletzungen zu werfen, da er jedoch keinen anderen verläßlichen Zeugen für den Überfall als sich selbst fand, war Mischa gezwungen, die fruchtlose Suche aufzugeben.
Die Dorfbewohner diskutierten die Affäre in ihren üblichen kleinen streitlustigen Gruppen gründlich. Die meisten von ihnen behaupteten, die Flucht des Krankenwärters sei übereilt und völlig unnötig gewesen angesichts der Tatsache, daß der Zustand der Schuhflickerstochter nicht so unnatürlich war, wie er das zuerst schien. Diese Kollektivmeinung änderte sich jedoch mittags, als der Schächter eine Leiter gegen eine der vier einsamen Betonsäulen des Gemeindeamtes in spe lehnte, zur Spitze kletterte und gefühlvoll begann:
»Seht, wohin wir gekommen sind! Kimmelquell wurde prostituiert! Eure Eltern, Gott gebe ihnen die ewige Ruhe, fürchteten noch den Herrn und hielten die Gebote der Thora ein. Ihr aber hört nicht mehr auf die Rabbiner, sondern nur auf Leute, in deren Familien eine solche Schande eine tägliche Begebenheit ist. Gewohnheitssünder seid ihr alle! Es gibt nicht einen einzigen anständigen Menschen im ganzen Dorf!«
Die Leute sammelten sich um den Pfosten und hörten, Verwirrung in den Gesichtern, der unerwarteten Strafpredigt zu, bis sie allmählich die Absicht des Schächters zu ergründen begannen.
»Höre, Ja’akov«, schrie jemand hinauf, »willst du damit sagen, daß jeder Mann im Dorf einen Anteil an dem Baby hat?« Die rüden Angehörigen der Menge brachen in lärmendes Gelächter aus. Das aber spornte den Dorfpropheten nur an.
»Ihr werdet nicht mehr lange lachen, ihr Schurken!« brüllte Ja’akov Sfaradi. »Was glaubt ihr, wie lange der Allerheiligste eure Mißachtung seiner Gebote dulden wird? Ihr stellt keine Mezuzot in eure Einfahrten, am Sabbath raucht ihr wie die Schlote, aber in der Synagoge auftauchen, auch nur einmal in der Woche …«
»Was meinst du damit, Ja’akov?« unterbrach ihn unten einer, »in was für einer Synagoge?«
»Es gibt eben keine!« donnerte der Schächter verächtlich. »Aber selbst wenn es eine Synagoge im Dorf gäbe, würdet ihr nicht kommen. Ich kenne euch! Eure Kinder werden Götzendiener, wie der Barbier und der Schuhflicker! Aber wartet nur, Sünder, wartet nur; ihr werdet für diese Liederlichkeit noch einen großen Preis bezahlen.«
Die Menge hörte in wachsender Verwirrung zu.
»Höre, Ja’akov«, fragte unten einer, »wann hast du dich das letzte Mal mit dem Allerheiligsten persönlich unterhalten?«
Der Schächter erschauerte, als hätte man ihm mit einer Peitsche ins Gesicht geschlagen. Er richtete den Blick nach oben, als wollte er sagen: »Hast du das gehört?« Dann richtete er sich auf und sagte mit messerscharfem Flüstern:
»Ihr werdet schon sehen, Sünder! Der Herr wird euch strafen. Es könnte sein, daß ihr morgen von sechs Uhr früh an keinen Tropfen Wasser haben werdet, um euren Durst zu löschen. Wer weiß? Die Wege des Allmächtigen sind geheimnisvoll. Weg von mir, Ungläubige, weg von mir, euer bloßer Anblick ekelt mich!«
Dann kletterte der Schächter die Leiter hinunter und kehrte ohne einen Blick auf die stockstill dastehenden Sünder heim. Die Bauern starrten die dürre, ganz in Schwarz gekleidete Gestalt an und schüttelten den Kopf, denn keiner konnte sich Sfaradis seltsames Benehmen erklären, ohne anzunehmen, daß die Schwangerschaft der Schuhflickerstochter ihn verrückt gemacht hatte.
»Laßt euch von ihm nicht zum Narren halten«, warnte Elifas Hermanowitsch die Zunächststehenden. »Er will den Preis für eine Überwachung meiner Küche erhöhen. Ich kenne ihn schon.«
»Er spielt sich auf«, meinte der Steueraufseher zum örtlichen Polizeichef. »Er will in den Dorfrat wiedergewählt werden, das ist alles.«
Die Bauern grinsten und wechselten irdisch saftige Bemerkungen. Aber tief im Herzen witterten sie, daß die Schwingen von etwas geheimnisvollem immer näher an das Dorf heranschwebten.
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Nach objektiver Überlegung, bar jedes gefühlsmäßigen Tenors, kam Dulnikker zu dem Schluß, daß er seinen Krankenwärter nur in einem rein technischen Sinn vermißte. Des Jünglings schädliche Einstellung zu seinem erhabenen Projekt, das dem Leben dieses »durch Selbstgefälligkeit zum Tode verurteilten Provinzdorfes« frisches Blut injiziert hatte — ja, jene zynische Haltung plus der sexuellen Verirrung hatte seit langem eine unsichtbare Trennwand zwischen ihm und seinem verhätschelten Sekretär errichtet. Jetzt grollte Dulnikker Zev wegen der herzlosen Worte, die er vor seiner Flucht via Balkon geäußert hatte, und blätterte in seinem Gedächtnis unter »Bestrafung, strengere« nach, beginnend mit Disziplinarmaßnahmen durch Parteikanäle und endend mit der Abwertung des schändlichen Günstlings zu seinem Zweiten Sekretär. Schließlich beschloß der Staatsmann, dem minderwertigen Kerl die Höchststrafe aufzuerlegen: Er würde ihn in seiner Autobiographie nicht erwähnen! Dieser Akt einer potentiellen Vergeltung hatte dem Herzen des Staatsmannes oft Frieden gebracht. Shimshon Groidiss und seine anderen niederträchtigen Rivalen hatten in der Partei unaufhörlich gegen ihn intrigiert, und Dulnikker hatte oft die Zeit für reif gehalten, mit seinen Memoiren zu beginnen, selbst wenn auch nur aus dem Grund, die Namen seiner schlimmsten Feinde wegzulassen, als hätten sie nie existiert.
Jetzt, da sein Krankenwärter in die Wälder verschwunden war, sah sich Dulnikker gezwungen, das Vieh allein zu hüten. Zuerst war der Staatsmann der zusätzlichen Last etwas müde, bald aber zeigte es sich, daß der Status quo vorherrschte; das heißt, die unschuldigen Kühe fuhren mit ihren eigenen Bräuchen so fort, als vermißten sie den jüngeren Hirten nicht. Der Staatsmann verbrachte seine Zeit weiter mit unaufhörlichem Sonnenbräunen, als hoffe er, seine frühere Vernachlässigung dieses Bereichs wettzumachen. Außerdem entdeckte er einen neuen Zeitvertreib und begann die wunderbare Insektenwelt zu studieren. Fasziniert pflegte er sich auf dem Bauch auszustrecken und den Atem anzuhalten, während er einem uralten Tausendfüßler nachkroch, einem Geschöpf, das er zum erstenmal im Leben erblickt hatte. Dulnikker war von den Reizen der Natur so gefesselt, daß er die Welt um sich völlig vergaß, bis Malkas Stimme ihn in die Wirklichkeit zurückbrachte. Hajdud und Majdud hatten ihre Mutter begleitet, aber sie schickte sie sofort zum Blumenpflücken weg.
»Wollen keine Blumen, Mama«, erwiderten die Zwillinge. »Wollen zuhören.«
»Worüber ich mit dem Herrn Ingenieur sprechen will, ist nichts für kleinere Kinder«, wies sie ihre Mutter zurecht. Als die kleinen Lümmel davonwanderten, versicherte Majdud mit Seniorat:
»Wahrscheinlich reden sie über den Bastard von der Schuhflickerstochter.«
Malka war erregt, als sie Dulnikker sein Mahl servierte.
»Herr Dulnikker«, sagte sie zu ihm, »bitte besuchen Sie das arme Mädchen!«
»Warum, wenn ich fragen darf?« protestierte Dulnikker, dessen Ärger über das Mädchen nach dessen Pech nur größer geworden war.
»Weil er schließlich Ihr Krankenwärter war. Ich weiß, Sie haben ein sehr gutes Herz, Herr Dulnikker, und daß Sie tief innen Dwora bemitleiden. Jetzt sagen Sie kein Wort, Herr Dulnikker. Ich weiß, es ist nicht fair, daß Sie immer alles selber machen müssen, aber stellen Sie sich einen Augenblick vor, was Sie fühlen würden, wenn Ihr davongelaufener Krankenwärter Sie schwanger zurückgelassen hätte.«
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Nach dem Abendessen ging der Staatsmann zum Haus des Schuhflickers und traf Zemach Gurewitsch daheim an, der niedergeschlagen auf und ab ging.
»Herr Ingenieur«, sagte der Schuhflicker düster, »glauben Sie mir, ich hätte das schändliche Geschöpf umgebracht, wenn es nicht meine Tochter wäre. So also stehen die Dinge! Da zieht ein Mensch ein mutterloses Mädchen auf, und dann kommt irgendein fremder Hochstapler daher und verdreht ihr den Kopf mit irgendeiner barbierhaften Schurkerei. Gehen Sie zu ihr hinein, Herr Ingenieur, sie ist gerade todunglücklich.«
Dulnikker zupfte zerstreut seine Krawatte zurecht und betrat das Zimmer des Mädchens ohne Begeisterung. Dwora lag auf dem Bett, die rotgeweinten Augen an die Decke geheftet.
»Schauen Sie mich nicht an, Herr Ingenieur«, piepste das Mädchen. »Ich schäme mich so. Zev erzählte mir immer, daß nichts passieren kann.«
Dulnikker schaute Dwora lange an und spürte plötzlich ein Würgen in der Kehle. Das Mädchen war so klein und so blond! Ein großäugiges Kalb, von dem noch immer der Geruch der Muttermilch ausging. »Mischa hat diesem Schurken gegeben, was er verdient!« dachte Dulnikker sehr befriedigt und setzte sich auf den Bettrand.
»Du brauchst dich nicht zu grämen, mein Mädchen, es ist ja nichts passiert. Die Natur wird dir helfen, die Katastrophe zu überwinden.«
»Oh, dieser verrückte Mischa! Wer hat ihn schon gebeten, meinen armen Liebsten zu verprügeln?«
Die Worte des Mädchens rührten das Herz des Staatsmannes. Er legte seine warme Hand auf ihren fröstelnden, zitternden Arm.
»Kopf hoch, mein Fräulein«, sagte er langsam. »Glauben Sie einem Mann, der Sechsundsechzig Jahre lang Erfahrung gesammelt hat: Das Leben heilt alles. Suchen Sie Trost in der Natur. Nehmen Sie zum Beispiel den gewöhnlichen Tausendfüßler — wie er seinen weichen Körper mit einer so überaus großen Schnelligkeit aktiviert. Hast du schon einmal einen Tausendfüßler gesehen, Dwora?«
»Natürlich sehe ich sie.« Das Mädchen brach in Tränen aus. »Das ganze Haus wimmelt von ihnen. Wie kann man sie nur loswerden?«
»Nun, mein Mädchen, hoffen wir, daß dich die Vorsehung mit einem gesunden kleinen Jungen segnet. Übrigens, wie beabsichtigen Sie Ihren Sohn zu nennen, Madame?«
»Zev.«
»Es ist egal, wie Sie ihn nennen. Wichtig ist allein, daß Sie dem Kind eine moderne Erziehung geben, verbunden mit zionistischen Idealen. Ja, Fräulein Dwora, ich bin noch immer dem Schlagwort treu, über das sich gewisse, nach dem Westen schielende Kreise lustig machen: Pioniertum! Wer ein Kaufmann, ein Beamter, ein Literat werden möchte — viel Glück für ihn, aber sie werden diese Einöde nicht zum Blühen bringen, meine Damen. Das wird die von gewerkschaftlichen Überlieferungen so sehr erfüllte Jugend sein! Wie viele Jahre werden wir noch amerikanische Hilfe erhalten? Zwei? Fünf? Zehn? Und was dann? Nein, meine Herren, größer als das Bedürfnis der nationalen Sicherheit nach schwerer Artillerie ist das Bedürfnis nach Grenzsiedlungen!«
Dwora hatte schon lange zu wimmern aufgehört. Ein leichtes Lächeln lag auf ihrem Gesicht, und ihr Daumen ruhte in ihrem Mund.
»Sie schläft ruhig wie ein kleines Kind«, murmelte Dulnikker etwas bewegt. »Wie müde das arme Mädchen war!«
Der Staatsmann zog Dwora die Decke bis zum Kinn, richtete mit väterlicher Sorgfalt die Kissen unter ihrem Kopf und sprach mit gesenkter Stimme weiter, um sie nicht zu wecken. Nach langer Zeit stand Dulnikker auf, drückte Dwora einen Kuß auf die Stirn, schneuzte sich gerührt und ging auf Fußspitzen aus dem Zimmer.
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Am nächsten Morgen stand das Dorf kopf.
Die Bewohner liefen verwirrt herum und murmelten mit blutleeren Lippen lang vergessene Gebete. Die furchtbare Prophezeiung des Schächters hatte sich erfüllt. Früh am Morgen, als der Zeiger der Sonnenuhr sechs anzeigte, versiegten alle Wasserhähne in Kimmelquell und weigerten sich, weiterhin auch nur einen Tropfen Wasser zu spenden.
Wie zu erraten, hatte sich außer dem Schächter niemand die Mühe gemacht, einen Wasservorrat anzulegen. Dennoch war ihr körperliches Leiden nichts, verglichen mit der Last des alptraumhaften Gedankens, daß der Weltenschöpfer auf das Dorf wegen seiner vielen Sünden böse geworden war. Es gab viele, die es für ungerecht hielten, ein ganzes Dorf für eine ziemlich gewöhnliche Sünde zu strafen, die von einem ungestümen Jüngling begangen worden war, der noch nicht einmal ein echter Bürger des Dorfes, sondern nur ein Großstadtmensch auf Ferien war. Diese stummen Proteste hatten jedoch keinerlei Wirkung auf den grausamen Urteilsspruch: Das Wasser hatte zu fließen aufgehört.
Die Bauern hatten somit keine andere Wahl, als ihr Vertrauen auf den Schächter-Propheten zu setzen, der, wie es schien, sowohl der einzige die Sünde fürchtende Mensch im Dorf als auch der Vertraute des Herrn der Erde war. Der dürre Ja’akov Sfaradi, der noch vor wenigen Stunden in aller Öffentlichkeit ausgelacht worden war, wurde nun als ein moralischer Leuchtturm oder sogar als ein neuer Moses angesehen, von so äußerster Reinheit, daß er das Wasser in den Felsen zurückzubefehlen vermochte. Die Menschen strömten zu dem kleinen, etwas von der Straße abseits liegenden Haus des Schächters. Alle trugen Käppchen oder sonst irgendeine Kopfbedeckung und hielten schändlich verstaubte Gebetbücher in der Hand. Auch entsetzte Kinder nahmen an der öffentlichen Versammlung der Eltern teil, weil der Schächter seine Schule an diesem Tag des Gerichts geschlossen und die Schüler heimgeschickt hatte. Ja’akov Sfaradi, in seinen Gebetsschal gehüllt, stand in einer dunklen Ecke seines verwahrlosten Zimmers und betete unermüdlich den ganzen Tag lang, ohne auch nur eine Brotkrume in den Mund zu stecken. Er war so sehr in seine Bitten an den Herrn der Welt vertieft, daß er die Menge nicht bemerkte, die sich auf seiner Türstufe drängte, obwohl er häufig aus dem Haus trat, siebenmal seinen Schofar blies und wortlos wieder zum Beten zurückkehrte.
Bis Mittag hatte sich das ganze Dorf um die Höhle des geistlichen Hirten versammelt — mit Ausnahme des Schuhflickers und des Barbiers, deren Stolz es ihnen verbot zu kommen. Aber sie beteten daheim. Der einzige Sterbliche, der ruhig blieb und den das Wunder nicht kümmerte, war der Ingenieur, der zur gleichen Zeit ahnungslos in der Gesellschaft seiner geliebten Kühe in der angenehmen Herbstsonne lag. Abgesehen von dem getreuen Kuhhirten stand das ganze Dorf um den Schächter-Heiland versammelt.
»Wir haben Glück, daß er noch bei uns ist«, flüsterte Doktor Hermann Spiegel, der ein seidenes Käppchen trug, das er sich von seinen Nachbarn ausgeliehen hatte, und auf dem dreimal hintereinander mit Goldfaden gestickt »GOOD BOY« stand. »Ich hatte schon immer das Gefühl, daß Ja’akov Sfaradi eine besondere Persönlichkeit ist, daß irgendein mächtiges inneres Feuer in seinen Augen brennt.«
»Richtig«, stimmte Elifas Hermanowitsch dem Doktor zu. »Manchmal schlagen Feuerzungen aus seinen Augen …«
»Pst! Pst!« brachten sie die Leute zum Schweigen. »Betet lieber! Es gibt noch immer kein Wasser!«
Als die Sterne in den Himmelshöhen erschienen und die ganze Welt in Dunkelheit gehüllt war, ging der Schächter zu seiner Gemeinde hinaus. Er stieß wieder in seinen Schofar und streckte die geäderten Arme aus:
»So seid ihr also gekommen«, erhob er seine Stimme in dem Schweigen, und sein dünner Körper streckte sich noch höher. »Ihr seid zu mir gekommen, um bei mir und beim Allerheiligsten sofortige Buße für alles zu erreichen, was ihr seit Jahren gesündigt habt. Aber ich lasse euch wissen, daß eure Heuchelei vergeblich ist. Euer Gebetemurmeln ist vergeblich, wenn ihr in euren Herzen die gleichen gottlosen Ungläubigen bleibt.«
»Meister«, sagten die Leute und verneigten sich, »also ehrlich, es ist uns ernst damit. Wir werden haufenweise beten.«
»Ihr und beten?« explodierte der Schächter. »Glaubt ihr Narren, der Meister des Weltalls braucht eure erbärmlichen Gebete? Nein, meine Freunde, wenn ihr einmal am Tag des Gerichts vor ihm steht, gebrochen, zerschmettert wie eine weggeworfene Schüssel, wird der Herr der Welt nur eine Frage an eure Seelen stellen: ›Menschensohn, für wen hast du bei den Gemeindewahlen gestimmt?‹«
Daraufhin kehrte der Schächter den verlorenen Seelen den Rücken und schritt in seinen Bau zurück. Die Bauern standen benommen und verwirrt da, weil sie unfähig waren, die Absicht der Predigt zu ergründen.
»Meister«, schrien sie verzweifelt Ja’akov Sfaradi nach, »verlaß uns nicht, verlaß uns nicht in dieser Stunde! Gib uns Wasser, Meister!«
Am Fenster erschien die Gestalt des Schächters, von dem zuckenden Licht zweier Sabbathkerzen erhellt. Ehrfürchtige Stille breitete sich aus.
»Also sprich Ja’akov Sfaradi ben Schlesinger.« Der Schächter breitete seine Arme aus. »Der Unaussprechliche hat meine Bitte erfüllt. Morgen früh um sechs Uhr wird frisches, süßes Trinkwasser aus den Wasserhähnen fließen. Nun geht heim und betet weiter! Der Schächter hat gesprochen!«
Die Leute gingen heim und taten, wie ihnen der Schächter geboten hatte, die ganze Nacht lang. Bei Sonnenaufgang, als der Zeiger der Sonnenuhr seinen ersten Schatten warf, traten sie an ihre Wasserhähne und drehten sie mit zitternden Händen auf. Aber es kam kein Wasser. Nicht ein Tropfen.
Die Verlängerung des Wunders verursachte eine verständliche Verwirrung unter der örtlichen Bürgerschaft, aber der verwirrteste war der Wunderwirker selbst. Nach einer Nacht gesegnet gesunden Schlafs stand der Schächter früh auf, streckte sich kräftig, stürzte zum Wasserhahn — und entdeckte, was er entdeckte. In die Seele des geistigen Hirten fraß sich scharf eine verständliche Gereiztheit. Er eilte zu seiner Schreibtischlade, zog einen fast vergessenen Umschlag hervor und las den darin enthaltenen Brief nochmals aufmerksam durch:
»An den Ehrenw. Bürgermeister
Kimmelquell
Sehr geehrter Herr!
Infolge Reparaturarbeiten an der Pumpe sind wir gezwungen, den Wasserzufluß zu Ihrem Dorf am 13. ds. M. für vierundzwanzig Stunden zu unterbrechen, beginnend um sechs Uhr morgens.
Es ist ratsam, vorher einen Trinkwasservorrat anzulegen.
Mit kameradschaftlichen Grüßen
Die Leitung
Mekorot Wasserwerke G.m.b.H.«
Ja’akov Sfaradi las den Brief mehrmals durch, wurde aber deshalb keine Spur klüger aus ihm. Plötzlich schoß ihm ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf: Vielleicht waren irgendwelche Ungläubige, so wie der Barbier oder der Schuhflicker, in der Nacht hinausgegangen und hatten den Haupthahn zugedreht, der sich in einiger Entfernung vom Dorf befand. Der Schächter legte den Brief in den Umschlag und den Umschlag in seine Lade zurück. Dann eilte er zu dem Haupthahn hinaus, aber zu seiner großen Enttäuschung entdeckte er, daß dieser wie gewöhnlich offenstand. Was also stimmte da nicht?
Ja’akov Sfaradi ben Schlesinger hob in einem gräßlichen Verdacht langsam den Blick himmelwärts, aber sein nüchterner Verstand verwarf den Gedanken als unmöglich. Die Reparaturen dauerten bestimmt noch einen weiteren Tag; das war alles.
Als der Schächter heimkam, wurde er von einer verständlicherweise erbitterten Menge begrüßt, deren Mehrzahl in ihrem Protest davon absah, sich den Kopf zu bedecken.
»Was geht hier vor, Schächter?« beklagte sich der Mob. »Du hast gesagt, Gott habe zugestimmt. Wo also bleibt das Wasser?«
Ja’akov Sfaradi wurde wütend und trampelte die Kühnen augenblicklich nieder: »Fragt nicht mich nach Wasser, Sünder, fragt euch selbst!« schrie er sie an. »Der Allerheiligste kennt bestimmt die Gründe seiner Strafen. Er weiß sehr gut, daß ihr nur an der Oberfläche bereut habt, daß ihr euch gesagt habt, ›das Wasser soll nur wieder aus dem Hahn fließen, und wir können den heuchlerischen Schächter vergessen und wieder zum Schweinefleisch zurückkehren‹.«
»Ist schon gut«, beruhigten ihn die Leute. Sie waren sehr verdutzt, daß der Allerheiligste ihre Gedanken so gut kannte. »Was fangen wir jetzt an?«
Der Schächter erwog die Möglichkeiten, dann sagte er: »Also spricht Ja’akov Sfaradi ben Schlesinger: Bringt alle eure Kochgeräte aus euren Häusern herbei, um sie wie in den Tagen eurer gottesfürchtigen Väter — Gott hab sie selig — zu reinigen. Wie geschrieben steht: Ihr sollt allen Sauerteig aus euren Häusern entfernen.«
Die Leute tauschten verwunderte Blicke untereinander.
»Meister«, erwiderten sie staunend, »aber wir haben doch jetzt nicht Passover?«
»Ich weiß. Aber ›Lebensgefahr zieht heilige Zeit herbei‹. Gehet hin, Sünder, und bringt eure besudelten Töpfe her. Der Schächter hat gesprochen.«
Nolens volens kehrten sie heim, während Ja’akov Sfaradi unverzüglich einen Kessel voll Wasser(!) aus seinem Haus schleppte, unter ihm eine Handvoll Reisig ausbreitete, es mit Kerosin besprengte und ein großes Feuer anfachte.
Nach einer Weile schlängelte sich eine lange Reihe von Hausfrauen mit ihren beladenen Männern auf den Kessel zu, und Ja’akov Sfaradi reinigte ihre Geräte in dem brühheißen Kessel gegen einen bescheidenen, einmaligen Beitrag für den »Fonds zur baldigsten Erbauung einer Synagoge«. Der Schächter unterbrach seine Aufgabe nicht vor Sternenaufgang, außer um etwas Wasser zum Kochen zuzugießen oder gelegentlich seinen Schofar zu blasen. Natürlich gab es einige Murrende in der Menge, die meinten, daß das Wasser, das auf das Koschermachen verschwendet wurde, genügt hätte, den Durst des Dorfes erheblich zu verringern. Aber selbst sie wagten ihre Meinung nicht laut werden zu lassen, und sie redeten auch lieber nicht zuviel wegen der geschwollenen Zunge, die ihnen am ausgetrockneten Gaumen klebte. In der Reinigungsreihe vertrat Elifas Hermanowitsch die Hauptdorfräte mit gesenkten Augen. Der Schuster sandte seine schwangere Tochter zu der Bußversammlung, und der Barbier entsandte seine Frau in Begleitung ihres Sohnes. Denn sowohl Hassidoff wie Gurewitsch fürchteten die Ergebnisse einer Unterwerfung in der Öffentlichkeit. Ofer Kisch hatte keine Töpfe im Haus, weil er kein Haus hatte, schloß sich jedoch als Zeichen des guten Willens der gewundenen Reihe an und schlängelte sich mit ihr langsam und geduldig zum Kessel.
Nachdem der Schächter spät nachts den letzten Topf gereinigt hatte, brach er vor Müdigkeit fast zusammen. Er sagte zu den Leuten:
»Morgen früh gibt es Wasser. Ihr sollt daheim beten und allen Sauerteig vernichten. Gehet dahin! Der Schächter hat gesprochen.«
Die Bauern verbrachten die Nacht an ihren Wasserhähnen, begleitet von dem heisernen Summen halbvergessener Psalmen, während sich ihre durstigen Frauen wachhielten und mit letzter Kraft allen Sauerteig aus ihren Heimen kehrten. Aber es war alles umsonst. Am Morgen erreichte der Schatten des Zeigers die Zahl 10, aber die Wasserhähne gaben nichts her. Der Grund dafür war wirklich nicht vorauszusehen gewesen. Erst nachdem man die große Pumpe auseinandergenommen hatte, wurde es den Leuten der Pumpstation klar, daß die Kolbenstange der Länge nach gesprungen war und zum Schweißen zu Grünwald & Sohn nach Haifa geschickt werden mußte.
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Das verlängerte Wunder, das sich vor den Augen des Dorfes drei ganze Tage lang abspielte, rettete das Dorf vor einer äußerst ernsten inneren Krise. Die Sache hatte ungefähr eine Woche früher begonnen: Der Schuhflicker war auf die Weide gekommen, um eine dringende Angelegenheit mit dem Ingenieur zu besprechen. Eine solche Strecke zu Fuß war für den hinkenden Gurewitsch mehr als schwierig, aber seine flammende Wut trieb ihn vorwärts. Er überraschte Dulnikker beim Blumenpflücken, die er zu einem Kranz winden wollte.
»Herr Ingenieur, was geht denn schon wieder vor?«
Die Tatsachen des neuen Skandals wurden schnell klar. Nach dem Unternehmen Gummistempel hatte Gurewitsch den unwiderstehlichen Drang verspürt, das Schatzamt des Dorfes zu überprüfen, zu welchem Zweck er den Barbier besuchte und dessen Rechnungsbelege mit einem Vergrößerungsglas prüfte. Ganz unten auf der Ausgabenliste fand er dabei folgende bescheidene Eintragung: »Gehaltsvorschuß für den Kommunalwächter des Kommunalbüros — 45 örtliche Pfund.«
»Haben Sie das gehört, Herr Ingenieur? Einen Vorschuß!« Der Schuhflicker war wild. »Und wer, glauben Sie, ist der ehrenwerte Wächter? Salmans Schwager!«
»Keine Temperamentsausbrüche, wenn ich bitten darf!« Das Gesicht des Staatsmannes wurde rot wie die Mohnblumen in seiner Hand. »Versucht doch, meine Herren, die Angelegenheit mit Hassidoff persönlich zu regeln.«
»Dazu bin ich nicht bereit, Herr Ingenieur«, erwiderte Gurewitsch. »Salman tritt beim Raufen mit den Füßen.«
Dulnikker gab diese Gesellschaft von Schwächlingen vollkommen auf, die den ganzen Tag nichts taten, als kleinliche Intrigen auszuhecken. Am Abend berief er Hassidoff zu sich und ergoß den ganzen Zorn über ihn, der sich in den letzten Tagen in ihm aufgespeichert hatte.
»Was soll das heißen?« schrie er ihn an. »Von dem Gebäude, das Ihr Büro werden sollte, ist nichts zu sehen als die Betonpfeiler, die wie einsame Felsvorsprünge in der Wüste dastehen. Und inzwischen haben Sie sich beeilt, Herr Hassidoff, ohne Rücksicht auf die Forderungen des Schuhflickers, Ihren Schwager zum Wächter des Nichtvorhandenen zu ernennen!«
»Das verstehe ich nicht«, erwiderte der Barbier zornig. »Erst sagen Sie immer etwas, Herr Ingenieur, und dann ist es unmöglich zu erklären. Ich hasse Gurewitsch wie die Pest. Wohingegen mein Schwager eine Tochter bekommen hat und sehr nötig etwas zusätzliches Einkommen braucht. Warum also sollte ich mit dem Schuhflicker abrechnen?«
»Erstens, meine Herren, versuchen Sie sich prägnanter auszudrücken! Ich glaube, dazu brauchen Sie kein Ingenieur-Diplom! Zweitens versuchen Sie, an Ihre Sicherheit zu denken. Was würde geschehen, wenn Gott behüte der Schuhflicker zum Bürgermeister gewählt würde?«
»Er wird nicht gewählt«, versicherte ihm Frau Hassidoff, »dafür garantiere ich.«
»Nehmen wir um des Arguments willen an, daß er doch gewählt wird. Was wird seine erste Aufgabe sein, wenn er das Amt betritt? Ihren ehrenwerten Schwager hinauszuschmeißen und seine eigenen Verwandten einzusetzen! Aber wenn ihr jetzt auf seine Familie Rücksicht nehmt, dann wird er auf euren Schwager Rücksicht nehmen, egal, wie die Dinge ausgehen. Ein bißchen Verständnis, meine Herren! Sie können ja in der politischen Arena kämpfen, aber Sie brauchen nicht zu Raubtieren zu werden.«
Das Wasserwunder brachte die glückliche Lösung der Wächteraffäre mit sich. Dulnikker war auf der Weide draußen und verbrachte köstliche Stunden im Gespräch mit seinem Infiltrator. Bei Beginn ihres Gespräches erkundigte sich der Staatsmann in gebrochenem Englisch nach der ethischen Grundhaltung des Infiltrators und seiner Einstellung zu der Suezkanalkrise im allgemeinen und im besonderen. Da sich jedoch die Antworten des Arabers auf den immer wiederkehrenden Ausdruck »Ja, Effendi« beschränkten, wandte sich ihr Gespräch Dulnikkers Tätigkeiten und Lebenslauf zu, einschließlich vieler interessanter Einzelheiten aus der Periode seiner Jugend sowie einer Anekdote — um die neuen Grenzspannungen zu beleuchten — über einen gewissen Rabbi, dem gegenüber sich der Schächter beklagte, daß man ihm nicht erlaubt hatte, zu Rosh Hashanah Schofar zu blasen …
Es war schwierig, die Pointe ins Englische zu übersetzen, aber der Araber kommentierte trotzdem zweimal mit »Allah akbar« und deutete an, daß er bereit sei, dem Effendi ewig zuzuhören, die Sorge um seine Familie jedoch seine baldigste Heimkehr verlange. Dulnikker kaufte eine Dose Neskaffee, um ihn zu weiteren Besuchen auf der Wiese zu ermutigen. Daraufhin trennten sich die Angehörigen der beiden feindlichen Nationen, und Dulnikker zog den befreienden Schluß, daß er nur etwas gegen die feudalistischen arabischen Gebieter, nicht jedoch gegen das Volk hatte.
Das plötzliche Auftauchen des Barbiers brachte den Staatsmann von seinem orientalischen Gipfel herunter. Salman Hassidoff hatte seinen Karren am Rande der Weide geparkt und bahnte sich seinen Weg durch die Kühe geradewegs zu Dulnikker. Der durstige Bürgermeister ließ sich neben dem Staatsmann ins Gras fallen und beschrieb das Wasserwunder in allen seinen Einzelheiten.
»Deshalb sagte meine Frau, daß wir jetzt von uns irgend etwas Gutes tun und unseren Feinden vergeben müßten und solche Sachen, sonst werden wir bis zur Regenperiode überhaupt kein Wasser mehr bekommen«, endete der Barbier leicht verwirrt, »daher bitte, Herr Ingenieur, sagen Sie dem Schuhflicker, daß für seine Familie ein kleiner Posten frei wäre, weil ich nicht einmal für ein ganzes Faß Wasser mit ihm reden würde.«
So geschah es, daß Zemach Gurewitschs Vetter mitten in der Trockenperiode zum Wächter des zu bohrenden Dorfbrunnens mit einem Gehalt von 25 örtlichen Pfund bestellt wurde. Aber der Bürgermeister setzte eine Probezeit fest: Falls der Brunnen nicht innerhalb von zehn Jahren gegraben würde, könnte der Chef des Dorfrats die Ernennung zurückziehen.
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Der Schächter spähte hinter seinen Vorhängen auf die anwachsende Menge hinaus, die sich in unheilvollem Schweigen vor seinem Haus versammelte. Seine Scheu vor der Öffentlichkeit wuchs, obwohl nicht alle Bauern ihre Mistgabeln mitgebracht hatten. Einige Dutzend hatten nur ihre geballten Fäuste. In dieser Nacht, nach einem Tag, der vollkommen locker gewesen war, hatte auch der Schächter kein Auge zugetan, sondern war an seinen Wasserhahn geheftet dagesessen und hatte funkelnagelneue, eigenschöpferische Gebete zum Himmel emporgesandt, in denen er den Schöpfer zu überzeugen suchte, daß er, der Schächter, das Wunder einzig um seinetwillen bewirkt habe. So daß es für den Allerheiligsten richtig sei, endlich etwas wegen der verflixten Pumpenreparatur zu unternehmen.
Aber der Wasserhahn blieb grausam, rüde still. Der fröstelnde Ja’akov Sfaradi erkannte, daß ihn wahrscheinlich nur eine feste Haltung vor Schwierigkeiten bewahren konnte. Daher öffnete er die Tür und stellte sich in dem strahlenden Morgen dem Mob, die Arme über der Brust gekreuzt und mit einem tiefen Vorwurf in den Augen.
»Was wollt ihr von mir?« fragte er. Aber seine Stimme rutschte aus und kam von ihrem Kurs ab. »Ich bin bloß ein Schofar in der Hand des Herrn.«
Nein. Es war sicherlich kein Akt der Klugheit gewesen, in diesem Stadium der Ereignisse einen Schofar zu erwähnen. Die Männer verengten den Kreis um den Schächter, und die Mistgabeln in ihren Händen begannen über den bevorstehenden einseitigen Zusammenstoß hämisch erfreut zu funkeln.
»Hör zu schwätzen auf, Ja’akov«, murmelten die Bauern krächzend aus trockenen Kehlen. »Du hast im vorhinein gewußt, daß es kein Wasser geben würde! Und was schlimmer ist, sehr wahrscheinlich hast du einen Handel mit Gott abgeschlossen, um uns festzunageln!«
»Ihr werdet das Herz des Allerheiligsten nicht mit Drohungen erweichen, sondern nur mit vollständiger Reue«, rügte sie der Schächter. Laut fügte er hinzu: »Polizei! Polizei!«
Aber Mischa hatte wegen Durstes Urlaub von seinen Pflichten genommen und konnte nichts für den körperlichen Schutz des belagerten Dorfmitglieds tun. Ja’akov Sfaradi war ganz allein. Seine verschreckten Augen schossen herum und sahen nur große Gefahr, die — um der Sache auf den Grund zu gehen — nur auf die unerwartete Einberufung des jüngeren Grünwald in Haifa zu Reserveübungen zurückzuführen war.
»Jetzt geht jedermann heim« — der Schächter gürtete seine zitternden Lenden — »und faste bis morgen früh, als wäre Jom Kippur. Der Schächter hat gesprochen.«
Sowie der Schächter den Mund zutat, packten rohe Finger seinen Kragen, die entzauberten Angehörigen seiner Herde reichten ihn straßauf, straßab weiter und begleiteten seinen Durchzug mit Schlägen, Fußtritten und Stößen.
»Wartet nur, wartet nur, ihr Antisemiten!« kreischte Ja’akov Sfaradi ben Schlesinger. »Wartet nur, ihr Sünder, ihr werdet schon sehen, was euch der Allerheiligste antun wird! Ihr werdet schon sehen!«
Aber es nützte nichts. Blinde Wut verdrängte, was an spärlichem frommen Gefühl sie hatten. Die Dorfbewohner ließen erst davon ab, den Schächter Spießruten laufen zu lassen, als sie selbst vor Schwäche fast zusammenbrachen. Dann gingen sie sehr langsam heim und wurden von ihren Frauen mit der erfrischenden Neuigkeit begrüßt: Aus den Wasserhähnen floß Wasser.