Geburtswehen
Am späten Nachmittag, als der Zeiger der Sonnenuhr seinen längsten Schatten warf, begannen die Kühe heimwärts zu strömen, bis oben hin voll grünen Grases, wert des Wiederkäuens, die beiden vorbildlichen und vom Nichtstun erschöpften Freiwilligen an ihrer Seite.
Ehrlich gesagt, hatte Dulnikker noch nie einen so vollen Anteil an den Annehmlichkeiten des Lebens genossen. Das gesunde Vergnügen, in dem weichen grünen Gras auf dem Rücken zu liegen, freute ihn so, als hätte er eben an jenem Tag entdeckt, daß es eine Sonne am Himmel gab. Auf dem Heimweg winkte Dulnikker den Bauern zu, die ihren Boden mit breiten Hacken bearbeiteten, und als sie mit freundlichem Winken und aufmunternden Zurufen antworteten, zog der Staatsmann den Schluß, daß sein persönlicher Charme bei den Massen noch keineswegs verblichen war.
Am folgenden Tag kamen Majdud und Hajdud auf die Weide hinaus, mit glänzenden, stadtgemachten Schleudern bewaffnet. Sie frönten langen Schießübungen, indem sie Kiesel auf die Flanken der unschuldig weidenden Kühe abfeuerten. Dulnikker rief sie herbei und fragte sie vorwurfsvoll: »Warum schießt ihr auf unschuldige Kühe?«
»Wir haben Vögel probiert«, sagte Hajdud entschuldigend, »aber sie sind für Zielschießen zu klein.«
»Sicher, aber was würdet ihr sagen, wenn euch die Kühe so behandeln würden, wie ihr sie behandelt?«
»Nichts«, sagte Majdud — mit Seniorat. »Sollen sie auch mit Kieseln schießen.«
»Woher habt ihr diese gefährlichen Waffen, wenn ich fragen darf?«
»Wir haben sie bestellt.«
»Von wem?«
»Von wem glaubst du schon? Von der Tnuva! Wir waren eine Zeitlang Waisenkinder …«
Stückchen um Stückchen entlockte Dulnikker den Zwillingen die Geschichte der glorreichen Straßensammlung, obwohl er während der ganzen Erzählung unzählige Male schwören mußte, daß er sie bei sich behalten würde, da die Zwillinge planten, das erfolgreiche Projekt zu wiederholen, ohne ein Drittel des Reingewinns irgendeiner blöden Tante geben zu müssen. Dulnikker hörte ihrer Geschichte zu und brach immer wieder in stürmisches Gelächter aus:
»Die arme Gula — ich hatte schon immer Angst, daß es soweit kommen würde …«
Später, als es den Kindern zu langweilig wurde, auf ein so massives Ziel zu schießen, nahm Dulnikker die hübschen Zwillinge auf den Schoß und erzählte ihnen stundenlang, was er in Äthiopien gesehen hatte, als er es jüngst besucht hatte, um Vorkehrungen für Fleischtransporte zu treffen. Als der Staatsmann die Erntetänze der Eingeborenen beschrieb, wackelte er mit den Hüften, klatschte rhythmisch in die Hände und begann sogar die Lieder der Feiernden zu summen. Die Kinder öffneten die Münder in ungezügelter Inbrunst, und ihre glänzenden Augen starrten den Staatsmann aus dem Meer der Sommersprossen in unverhüllter Ehrfurcht an.
»Onkel«, erklärte Majdud, »ich schwöre, ich habe nie gewußt, daß du so ein Ingenieur bist!«
Dulnikker hatte plötzlich ein seltsames Gefühl im Herzen, das ihm fast Tränen in die Augen trieb. Ein stilles Glück und das Empfinden höchsten Friedens wogte in ihm auf. »Der Mann, der eine ganze Generation herangezogen hatte«, hielt zum erstenmal in seinem Leben ein Kind auf dem Schoß.
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Eines Tages erlebte er eine große Überraschung. Der Infiltrator tauchte auf seinem Esel auf und übergab dem Effendi senior dessen Bestellung: drei Zeitungen, deren Seiten vergilbt vor Alter waren. Es waren amerikanische jiddische Blätter, die vor vielen Jahren veröffentlicht worden waren. Nichtsdestoweniger bezahlte Dulnikker sehr ansehnlich für sie, weil die hebräischen Buchstaben eine magische Wirkung auf ihn ausübten. Er übergab die archivreifen Blätter sofort der Obhut seines Ersten Sekretärs mit dem üblichen Befehl, freundlicherweise alles auszuschneiden, was sich direkt oder indirekt auf ihn bezog. Zev vermochte jedoch nur einen einzigen, kurzen Artikel zu finden, mit dem Titel »Forderung nach erhöhter Milchproduktion« und dem Untertitel: »Fachmann schlägt neues Melksystem vor«. Den überreichte er Dulnikker mit ernstem Ausdruck und sagte:
»Das betrifft Sie direkt, Dulnikker.«
Dulnikker nahm das Blatt in die Hand und studierte den Artikel gründlich.
»Danke dir sehr.« Er gab seinem Sekretär die Zeitung zurück. »Wirklich sehr interessant. Bitte leg es ab, Zev, mein Freund, weil wir vielleicht die Möglichkeit haben, das neue System in ein paar Jahren hier anzuwenden.«
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Während Dulnikker und Zev in der Kunst des Kühehütens ermutigend schnell zu Fachleuten wurden, entwickelte sich das öffentliche Leben im Dorf selbst in nicht weniger befriedigendem Tempo. Bürgermeister de facto Hassidoff kam mit dem bäuerlichen Baumeister des Dorfes zu einem Übereinkommen, der das Bürgermeisterbüro sofort auf einer zentral gelegenen Stelle zu bauen begann, wenige kurze Schritte vom Wirtshaus entfernt, in Richtung Lagerhaus. Der Lastwagen der Tnuva kam mit Zementsäcken beladen an, die im Hof des Barbiers abgeladen wurden.
Kaum waren die vier aufrecht stehenden Betonpfeiler ausgegossen worden, wurde die Fortsetzung der Bauarbeiten aus Geldmangel verschoben. Schon in diesem Frühstadium des Programms öffentlicher Bauten wurde es klar, daß die Einkünfte aus der Dreitürschranksteuer nicht für das ganze Bauprojekt, ja schlimmer noch, nicht einmal für einen kleinen Teil davon genügen würden. Angesichts des Vorhergehenden trat die Einstufungskommission zusammen und stimmte einhellig dagegen, »den zwölf Steuerzahlern keine zusätzliche einmalige Luxussteuer von sechs Pfund« aufzuerlegen.
Die neue Anweisung wurde durch Steueraufseher Ofer Kisch und Hauptmann Mischa — Satan im Schlepptau — mit geziemender Eile durchgeführt, und am selben Abend blieb Elifas am Tisch des Staatsmannes stehen und dankte ihm mit ein paar herzlichen Worten für die rasche Entwicklung des Dorfes.
»Nichts zu danken. Ich tue nur meine moralische Pflicht«, erwiderte der Staatsmann bescheiden, während Zevs leichtes Kichern seine Wut aufrührte. »Halten Sie sich ein Ziel vor Augen, Herr Hermanowitsch: Wahl in den neuen Rat!«
»Herr Ingenieur« — Elifas wurde kühner —, »ich wollte Sie eben fragen, was ich tun soll. Der Barbier hat seine Anhänger, weil er der Bürgermeister ist, der Schuhflicker hat seine Clique, der Schächter ist fromm, und der Schneider macht sich Freunde durch die Steuern. Was aber kann ich tun?«
»Ihr müßt die Wählerschaft für euch gewinnen.« Dulnikker legte ihm die Hand auf die Schulter. »Aber zuerst müssen Sie sich Ihre Stellung klar machen: Was ist Ihr öffentliches Ziel?«
»In den neuen Rat gewählt werden.«
»Absolut unparteiisch!« spöttelte der Sekretär. Dulnikker war jedoch über solche Kleinigkeiten weit hinausgewachsen, und er widmete der Unterweisung des Wirts eine lange Zeit. Elifas Hermanowitsch konnte keinen angemessenen Ausdruck für seinen tiefempfundenen Dank finden.
»Herr Ingenieur«, er drückte dem Staatsmann die Hand, »wir werden eine Gans für Sie braten.«
»Danke, Genossen, aber ich muß euch bitten, mich bei meiner Diät zu lassen.«
»Das wird nichts ausmachen. Morgen schicke ich die Gans mit Malka auf die Weide hinaus.«
»Danke, aber ich will wirklich nicht lästig fallen …«
»Wieso denn, Herr Ingenieur? Ist es leichter, jede Nacht zu der strohgedeckten Hütte hinunterzuklettern? Nein, nein, Malka soll nur ruhig zu Ihnen auf die Weide hinauskommen.«
Dulnikker war wie vom Donner gerührt und brachte kein Wort heraus. Noch lange, nachdem der Wirt gegangen war, blieb er auf seinem Stuhl wie festgenagelt sitzen.
»Warum sind Sie so erstaunt, Dulnikker?« brach Zev schließlich das Schweigen und flüsterte spitz: »Die Leute beginnen eben politisch zu reifen.«
»Das ist keine Reife.« Dulnikker starrte glasig ins Leere. »Das ist Sodom und Gomorrha!«
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Es stand jedoch außerhalb menschlicher Kräfte, die Richtung, in der die Dinge liefen, zu ändern. Am nächsten Tag merkte Dulnikker auf seinem Heimweg von der Weide, daß kein Mensch auf den Feldern draußen war. Der Staatsmann konnte das Rätsel nicht ergründen, bis sie ins Dorf zurückkamen, wo es sich allerdings schnell löste. Die Leute standen die ganze Straße entlang in kleinen Gruppen beisammen oder saßen in eifriger Beratung an den Wirtshaustischen. Es war leicht zu sehen, was die Gärung verursacht hatte, denn auf der weißen Wand des Lagerhauses stand mit roter Kreide in gigantischen Buchstaben geschrieben:
DER KAHLE BARBIER UNTERSCHREIBT
DIE STEUER-VORSCHREIBUNGEN!!!
Dulnikker studierte sorgfältig die krummen Buchstaben, deren mehr als einer auf dem Kopf standen, und sein Gesicht wurde heftig purpurrot. Ohne sein Hirtenkostüm zu wechseln, stürmte der Staatsmann in die Werkstatt des Schuhflickers.
»Was hat Sie nur einen solchen Mist an die Wand schreiben lassen?« bearbeitete der Staatsmann Gurewitsch. Dieser stand jedoch in einer sicheren Stellung verschanzt, von der aus er ruhig erklärte:
»Ich hab’ es nicht geschrieben, der Papa hat’s getan.«
Dulnikker drehte sich um und trat auf den bleichsüchtigen Alten zu. Dieser entwich samt seinem Schemel in seinen Zufluchtswinkel.
»Unmöglich, Herr Ingenieur«, kreischte der ältere Gurewitsch, »ich kann keine einzige Stunde weniger arbeiten!«
»Ich bin nicht gekommen, um über Sie zu diskutieren«, explodierte der Staatsmann, »ich bin gekommen, um Ihren Erstgeborenen davon abzuhalten, sich mit seiner wahnsinnigen Herrschsucht zu ruinieren!«
»Entschuldigen Sie, Herr Ingenieur!« protestierte der Schuhflicker. »Sie haben uns gesagt, daß wir uns schriftlich und mündlich auf die Wahlen vorbereiten müssen. Was ist also schon falsch daran, wenn ich den Papa bitte, für mich auf die Wand zu schreiben, daß der Barbier die Steuervorschreibungen unterschreibt? Er unterschreibt sie doch, oder nicht?«
»Zugegeben. Er unterzeichnet sie. Aber warum haben Sie ›der kahle Barbier‹ geschrieben?«
»Weil er wirklich kahl ist!« Der Schuhflicker war wütend. »Herr Ingenieur, Sie haben uns gesagt, daß wir mit ehrlichen, anständigen Mitteln kämpfen sollen. Schön, das akzeptiere ich. Aber verzeihen Sie schon, wenn ich frage: Kann ich denn nicht die nackte Wahrheit feststellen? Wenn Salman überhaupt Haare hätte, dann wäre das ein Argument für Sie — aber er hat nicht eine einzige Haarsträhne, Herr Ingenieur. Was wollen Sie also?«
»Ihr habt unrecht, Genossen«, murmelte Dulnikker etwas verwirrt. »Eines Tages werde ich euch erklären, warum.«
Der Staatsmann verließ die Werkstatt. Plötzlich fühlte er sich sehr müde und war nicht sicher, warum Gurewitsch unrecht hatte. In tragischem Ton bemerkte Dulnikker zu seinem Sekretär:
»Genossen! Im Kampf um die Gunst der Massen gibt es kein Halten!«
Seine Überlegung wurde schnell bestätigt durch die übergroße Schrift, die auf der zweiten Wand des Lagerhauses erschien:
SEIT WANN KANN DER LAHME SCHUSTER SCHREIBEN?
Von der Zeit an redeten der Schuhflicker und der Barbier nicht mehr miteinander, außer in ihrer offiziellen Eigenschaft im Dorfrat und in dessen Ausschüssen. Der Barbier verkündete öffentlich, daß er und seine Anhänger eher in zerrissenen Schuhen herumgehen würden, als auch nur einen Fuß auf die Schwelle des Schuhflickers zu setzen. Gurewitsch tat einen nicht weniger drastischen Ausspruch und vermied die Umgebung des Barbierladens. Ja, er ließ sich sogar einen Bart wachsen und freundete sich mit dem Schächter an. Was Ja’akov Sfaradi selbst betraf, forderte er angesichts des verweltlichten Charakters des Dorfes immer nachdrücklicher religiöse Observanz. So schrieb er zum Beispiel an alle Türpfosten: »Wie wär’s mit einer Mezuza?«, und am Ruhetag wanderte er von Tür zu Tür und bestürmte die Bauern, auch an Wochentagen nicht mehr zu rauchen. Kurz gesagt, Ja’akov Sfaradi verbarg vor der Öffentlichkeit nicht seinen Wunsch, in den Rat wiedergewählt zu werden. In diesem Geiste hetzte er die Bevölkerung leise gegen die ungläubigen Abgeordneten auf, indem er sie beschuldigte, sich in solchen Mengen mit geschmuggeltem Schweinefleisch vollzustopfen, daß keines für die anderen Dorfbewohner übrig blieb. Natürlich tat der Schächter das überall taktvoll und höflich, außer in den Häusern der »Dreitürniks«. Hier erlaubte er sich selbstverständlich einen lauteren, energischeren Ton, wenn er verlangte, daß sie den Glauben so fromm wie möglich einhielten.
Dulnikker folgte der überraschenden Aktivität mit gemischten Gefühlen. »Jeder Kampf ist an sich etwas Wunderbares«, bemerkte der Staatsmann zu seinem Sekretär, »trotzdem würde ich etwas weniger persönliche Streitereien und ein bißchen mehr Selbstlosigkeit im öffentlichen Dienst bevorzugen.«
»In dem Fall, Dulnikker«, meinte Zev, »ist endlich die Zeit für uns gekommen, die Dorfleute zu verlassen. Lassen Sie doch diese Idioten allein miteinander spielen. Ich schwöre, wir sind ihnen allmählich im Weg.«
»Mein Freund Zev!« protestierte Dulnikker, »wie kannst du nur so leichtherzig über so qualvolle Erscheinungen sprechen?«
»Schön.« Der Sekretär erblaßte. »Nennen wir es also: die Geburtswehen des Konsolidierungsprozesses.«
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In jeder Woche ereigneten sich Dinge, die in der ganzen Geschichte Kimmelquells beispiellos waren. Der Barbier brach das ungeschriebene Gesetz des Dorfes:
Salman Hassidoff fuhr nach Tel Aviv.
Dieser revolutionären Handlung waren viele Diskussionen vorangegangen. Zunächst einmal fuhr der Barbier in seinem Kommunalgefährt zu einem Besuch zu Dulnikker, der in einiger Entfernung von seinem Sekretär im Gras ein Sonnenbad nahm. Hassidoff unterbrach es mit seiner verzweifelten Bitte.
»Herr Ingenieur, nur Sie können mir helfen!« jammerte der Barbier. »Die Wahlen nähern sich, und ich sehe, daß der lahme Schuhflicker alles besser macht, als ich es kann. Ich war ein Narr, die Steuervorschreibungen zu unterzeichnen, weil sie jetzt alle Angst haben, daß ich auch die übrigen besteuern werde. Daher dachte ich, vielleicht sollten wir die Steuer aufheben, bis die Dinge ausgebügelt sind?«
Dulnikker war böse, daß er mitten in seinen stillen Überlegungen über das Herumhüpfen der drolligen Kälber gestört wurde, dennoch empfand er gleichzeitig etwas Mitleid mit dem kleinen Mann, der meinte, die Welt würde zusammenstürzen, wenn er nicht zum Bürgermeister wiedergewählt würde.
»Es ist unethisch, eine Steuer aufzuheben, um die Wähler für sich zu gewinnen«, erwiderte er dem Barbier, ohne den Kopf aus den entspannenden Sonnenstrahlen zu heben. »Sie können sie höchstens ein bißchen beschneiden. Aber in diesem Fall, Genossen, gehört es sich, hinzugehen und die Dinge in großen propagandistischen Zügen zu klären.«
»Geht nicht, Herr Ingenieur«, blökte der Barbier. »Ich kann nicht allen hundertfünfzig Dorfbewohnern einzeln erklären, warum ich recht habe. Und ich könnte das alles nicht auf die Wände draufkriegen. Was also soll ich tun?«
Dulnikker erhob sich ein bißchen und tätschelte Hassidoffs Schulter in einer Anwandlung von plötzlicher Zuneigung.
»Herr Hassidoff«, rief er aus, »die ganze Zeit, in der ich unter euch lebe, habe ich noch nie eine so vernünftige Begründung gehört. Bravo!«
Der Barbier schielte vor Verblüffung.
»Nun ja«, murmelte er, stolz lächelnd, »manchmal kommt das bei mir vor.«
»Jetzt hört aufmerksam zu, Genossen.« Dulnikker enthüllte das Motiv, das ihn aufgerüttelt hatte. »Es ist vernünftig, daß Sie sich nicht hundertfünfzigmal wiederholen wollen. Sie brauchen es nur einmal zu sagen, in Anwesenheit von hundertfünfzig Leuten. Daher, meine Herren, müssen Sie lernen, Reden zu halten!«
»Nein, Herr Ingenieur, das kann ich wirklich nicht.«
»Es wird Ihnen sehr schön gelingen! Natürlich nicht ohne Unterricht, das ist nicht zu leugnen. Aber der Haken dabei, Genossen, liegt darin, daß euch in diesem Dorf ein entsprechender Ort fehlt, wo man öffentliche Reden halten könnte.«
»Vielleicht auf der Straße?«
»Auf der Straße kann man die Menge nicht zusammenhalten. Was not tut, ist ein Kulturzentrum mit einem vernünftigen Fassungsraum, nach den Gesetzen der Akustik erbaut. Ehrlich gesagt, ist mir eine solche Halle gleich von Anfang an abgegangen.«
Der Provisorische Dorfrat nahm den Vorschlag eines »Kulturpalastes« (um die Wortprägung des Sekretärs zu benützen) bei der Gegenabstimmung durch einstimmige Enthaltung an und ging daran, für ihn ein großes Grundstück gegenüber dem Büro des Bürgermeisters bereitzustellen. Das zur Finanzierung des Projekts benötigte Geld? Der Rat suchte es von den zwölf »Dreitürniks« einzuheben, indem er jeden mit einer einmaligen Zwangssteuer von 30 Pfund belastete. Steueraufseher Kisch brachte jedoch seine Meinung vor, daß die Erhebung der neuen Steuerlast auf Schwierigkeiten stoßen würde.
»Seien wir objektiv, meine Herren!« meinte auch der Vorsitzende. »Warum müssen wir darauf bestehen, nur von jenen wenigen Bürgern Steuern einzuheben?«
»Sehr einfach, Herr Ingenieur.« Ofer Kisch klärte die Einstellung des gesamten Rats: »Diese Burschen kennen wir bereits, wir brauchen unseren Weg zu ihnen nicht zu suchen. Möglich, daß Satan sie ein-, zweimal gebissen hat. Aber das Wichtigste: Sie sind über das erste Stadium hinaus, wo sich der Steuerzahler aufführt, als ziehe man ihm die Haut ab. Diese Leute sind bereits an die Steuern gewöhnt, Herr Ingenieur, und ich habe keine Lust, mit neuen wieder von vorne anzufangen. Wozu soll ich?«
»Schön«, meinte Dulnikker, »aber sie werden im Lauf der Zeit wirtschaftlich schwach werden und verarmen.«
»Was meinen Sie damit?« protestierte Gurewitsch. »Sind sie Kinder? Keine Sorge, Herr Ingenieur, alles könnte bestens laufen, wenn es nicht die abnormalen Leute gäbe, die das Bürgermeisteramt versehen …«
»Selber abnormal!« schrie Frau Hassidoff. Und ihr Gatte fügte genußreich hinzu: »Schwein!«
»Platzen sollste!«
Dulnikker schlug mit seinem Hammer wild auf den Präsidialtisch und verwarnte seinen Sekretär, daß »indiskretes Gelächter das Zeichen mangelnder Geistigkeit« sei. Das half ihm jedoch nicht, die Wut des beleidigten Barbiers zu besänftigen.
»Ich sage Ihnen auf der Stelle, warum sie nicht bereitwillig zahlen!« schimpfte der kleine Mann. »Weil sie Zemach Gurewitsch aufhetzt!«
»Nu und?« explodierte der Schuhflicker. »Hetz sie also selber auf!«
»Nein«, erklärte der Barbier, »ich tu’ etwas anderes! Ich werde eine Gummistampiglie bestellen!«
Allmählich wurde die Sache den übrigen Räten klar. Salman Hassidoff behauptete, daß niemand gern zahle, wenn er für sein Geld keine anständige Quittung bekomme. Wenn man zum Beispiel die Tnuva bezahlte, brachte einem der Chauffeur immer eine Quittung, die oben und unten abgestempelt war, und sogar das Datum war draufgestempelt. Wenn der Rat eine offiziell gestempelte Quittung ausgeben könnte, dann würde sich die Haltung der Steuerzahler sofort vollkommen ändern. Das Argument des Barbiers klang sehr überzeugend.
»Das ist eine gute Idee«, begeisterte sich Elifas. »Was mich betrifft, könnt ihr dem Chauffeur sagen, er soll eine Gummistampiglie mit Blumen rundherum bestellen.«
»Ich verlasse mich in Angelegenheiten des Geschmacks nicht auf den Chauffeur«, fing der Barbier wieder zitternd an und rückte näher zu seiner Frau. »Ich glaube«, fügte er hinzu, »ich werde gezwungen sein, selbst zu fahren …«
Einen kurzen Augenblick hing tödliche Stille über dem Ratszimmer. Selbst die Katzen hörten wegen des plötzlichen Schweigens auf, zwischen den Beinen der Abgeordneten herumzustreifen, und starrten verwirrt zu den Leuten hinauf. Der Schuhflicker war der erste Rat, der reagierte. Schäumend vor Wut sprang er auf den Tisch und donnerte auf den erschrockenen Barbier hinunter:
»Zum Teufel! Du, Salman Hassidoff, wirst keine Dorfgelder zu Reisen benützen, das verspreche ich dir!«
»Ich fahre«, flüsterte der Barbier unsicher. »Ich werde fahren!«
»Das wirst du nicht!«
»Doch.«
»Nein!«
»Doch.«
Krach! Mit ohrenbetäubendem Lärm brach der Präsidialtisch unter den zunehmend kraftvollen Hammerschlägen des Vorsitzenden zusammen. Aus den Splittern erhob sich Dulnikker, das Gesicht rot wie eine Rübe, aber sein staub- und wuterfüllter Kehlkopf vermochte keinen einzigen klaren Laut hervorzubringen. Zev sah, daß nur schnelles Handeln seinen Herrn und Meister vor nicht wieder gutzumachendem Schaden bewahren konnte.
»Aber Herr Gurewitsch«, fragte er in das lange Schweigen hinein, »liegt denn so viel daran, wer die erste Reise unternimmt?«
Das Schweigen verdichtete sich. Zemach Gurewitsch kletterte vom Tisch herunter und grübelte eine Weile vor sich hin.
»Das ist etwas anderes«, sagte er schließlich. »Soll also Salman als erster fahren.«
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Eines Morgens fuhr also der Barbier im Lastwagen der Tnuva ab, nachdem man eine Ladung Baumaterial in Hassidoffs Hof abgeladen hatte. Salman war der Gelegenheit entsprechend in einen tadellosen schwarzen Anzug gekleidet, und sein Gesicht strahlte vor Freude. Alle Dorfbewohner hatten sich versammelt, um ihn zu verabschieden, mit Ausnahme des Schuhflickers, dessen kleinliche Augen es nicht ertragen konnten, die Aufregung der Dorfbewohner über »die Fahrt des Barbiers de facto, um ihr Geld auf blöde Stempel zu verschwenden«, mitanzusehen. Der Schächter wünschte Hassidoff im Namen des Provisorischen Dorfrats eine erfolgreiche Reise und murmelte sogar einen geräuschvollen Segenswunsch, weil er, der Schächter, vom Vorsitzenden zum Geschäftsführenden Bürgermeister ernannt worden war. Es stimmte, der Barbier würde nur vierundzwanzig Stunden fortbleiben: Er solle am nächsten Tag mit der Zementladung zurückkommen. Dennoch übergab er sicherheitshalber die Zügel der laufenden Geschäfte dem Schächter — einschließlich eines versiegelten Briefumschlags, den der Tnuva-Chauffeur für »Den Bürgermeister« gebracht hatte. Der Barbier hatte ihn wegen seiner angeborenen Abneigung gegenüber versiegelten Umschlägen nicht zu öffnen gewagt. Der große Lastwagen fuhr unter lauten Hochrufen der schreienden Volksmenge an, während der Barbier immer wieder den Kopf aus dem Fenster der Fahrerkabine hinausstreckte, um den allmählich fernerrückenden Feiernden zuzuwinken. Nach zwei Windungen der krummen Straße ließ Salman Hassidoff den Wagen anhalten und half seiner Frau aus ihrem Versteck hinter den dicken Planen der Ladefläche heraus und auf den Sitz neben sich im Fahrerhaus, damit sie es für den Rest ihrer langen Reise bequem hätte.
Der Barbier und Abgesandte kehrte am nächsten Tag nicht nach Kimmelquell zurück. Ebensowenig kehrte er am folgenden, noch am dritten Tag zurück. Dem Schächter gelang es jedoch durchaus, seine Pflichten als Geschäftsführender Bürgermeister getreulich zu erfüllen, und er verhinderte es, daß unerwünschte Aufregungen das Dorf in Hassidoffs Abwesenheit erschütterten, indem er die verzweifelten Bauern überredete, heimzugehen und zu versuchen, sich selbst zu rasieren. Es kann zu seinen Gunsten gesagt werden, daß Ja’akov Sfaradi seine vorübergehende Amtsgewalt zu keinem persönlichen Vorteil ausnützte und sich nicht in den alltäglichen Gang des Dorfes einmischte, mit Ausnahme der äußerst bescheidenen Angelegenheit, dreimal täglich elf Dorfbewohner in sein Haus zu beordern, um ein regelmäßiges Quorum für die Gebete zu sichern, solange der Barbierladen geschlossen blieb.
Vier Tage nach seiner Abfahrt erschien der Lastwagen der Tnuva wieder im Dorf und parkte direkt neben Hassidoffs Hof. Die Passanten, die sich schnell ansammelten, waren Zeugen einer unvergeßlichen Szene, als die Frau des Barbiers aus der Fahrerkabine herauskletterte und ein goldgerahmtes Ölgemälde mit sich schleppte, das kunstvoll gemalt alle möglichen bunten Früchte und eine Violine und eine schön gebundene Bibel zeigte. Die kühneren unter den Neugierigen schlichen sich an das blendende Wunder heran und fragten den Barbier, was für ein Vermögen ihn das gekostet habe, aber Frau Hassidoff antwortete auf der Stelle, daß das ihre und ihres Mannes Privatangelegenheit sei.
Natürlich konnte jedoch eine Vollsitzung des Dorfrats diese »Affäre« in seiner Tagesordnung nicht übergehen und mußte daher auf Anweisung des Ingenieurs eine neue Kommission, Untersuchungsausschuß genannt, einsetzen, die folgende Mitglieder umfaßte: Gurewitsch, Kisch, Sfaradi, Hassidoff und Hermanowitsch.
Der Ausschuß studierte die nicht näher aufgeschlüsselte Rechnung zwecks Deckung seiner Reisespesen, die der Barbier vorlegte, und fand sie äußerst kompliziert.
»Sag, Salman, ist in dieser Summe der Preis des Gemäldes enthalten?«
»Ja«, antwortete Hassidoff schlicht. Dieses Über-Bord-Werfen überkommener Maßstäbe der Ethik und des Anstandes veranlaßte die Abgeordneten, verständnislos in die Richtung des Vorsitzenden zu blinzeln. Der Herr Ingenieur zögerte selbst lange, bis er zu einer Schlußfolgerung kam:
»Es steht klar geschrieben: Du sollst einem Ochsen nicht das Maul verbinden, so er da drischt. Das Gemälde muß als Ausgabe betrachtet werden.«
Gurewitsch gab jedoch nicht nach und suchte den maulkorblosen Ochsen bei den Hörnern zu packen.
»Sei dem so!« kreischte er. »Aber was hat drei Tage gedauert?«
»Einen Gummistempel machen dauert so lange«, erklärte das Barbiermitglied des Untersuchungsausschusses, aber seine Antwort befriedigte die meisten Kommissionsmitglieder nicht.
»Warum hast du deine Frau mitgenommen?«
»Ich mußte sie mitnehmen«, entschuldigte sich Hassidoff. »Es ist schwer für einen Mann, drei Tage allein zu leben.«
»Egal«, bemerkte Ofer Kisch, »zeig uns den Stempel.«
»Es gibt keinen Stempel«, antwortete der Bürgermeister de facto schmerzlich und fügte hinzu: »Ich hatte nur für einen Tag Geld mitgenommen, so daß ich nach drei Tagen nicht genug Geld in der Tasche für einen Stempel hatte.«
»Sehr fein!« Gurewitsch pfiff durch die Zähne. Er war weiß wie die Wand, und seine Nasenflügel bebten. »Morgen fahre ich einen Stempel kaufen!«
»Unnötig«, bemerkte der Barbier sanft, »auf meinem Weg nach Tel Aviv entdeckte ich, wie wir die Kosten eines Stempels sparen können. Wir ziehen einfach die Steuern der Steuerzahler von dem Geld ab, das ihnen die Tnuva für ihre Kümmelernte zahlen soll.«
Sein Vorschlag war für den Untersuchungsausschuß zu glänzend, als daß man imstande gewesen wäre, Hassidoffs vergebliche Reise zu mißbilligen. Daher schluckten die Ausschußmitglieder die bittere Pille und verziehen dem Barbier. Aber die Tatsache, daß Frau Hassidoff bei der ganzen Verhandlung mit einem violetten breitkrempigen Hut auf dem Kopf dasaß, über dem eine riesige, regenbogenfarbene Pfauenfeder flatterte — das war etwas, das keines der Mitglieder verwinden konnte.
An diesem Abend schmückten geheimnisvolle Hände die dritte Wand des Lagerhauses mit folgender Frage:
WOMIT KAUFTE DER BARBIER SEINER FRAU EINEN TRUTHAHNHUT?
Gleich am nächsten Tag trug die vierte Wand eine schicksalsschwangere Erwiderung:
WAS LIESS DEN BAUCH DER SCHUHFLICKERSTOCHTER ANSCHWELLEN?