Es gärt
Bei Tagesanbruch kehrte Dulnikker in sein Bett zurück, geschwächt und schwindlig, dennoch voll angenehmer Erinnerungen an ein unvergeßliches Erlebnis. Diese Nacht in der strohgedeckten Hütte übertraf mit ihrer lebendigen Erquicklichkeit alle Vorstellungen. Der Staatsmann sagte sich, daß es allein um dieser leidenschaftlichen Nacht willen wert gewesen war, zur Erholung nach Kimmelquell zu kommen.
Als Dulnikker zum Ort des Stelldicheins gekrochen kam, hatte er Malka schon wartend vorgefunden. Sie saß in der efeuüberwucherten Hütte in einem rosa Nachthemd und begrüßte den Staatsmann mit ihrem üblichen ermutigenden Lächeln. Dulnikker atmete schwer, und trotz der kalten Nacht spürte er eine seltsame Wärme in sich. Er breitete die Decke auf dem Boden aus und setzte sich neben Malka auf die aus dicken Ästen gezimmerte Bank.
»Ihr Hals ist sehr schmutzig«, sagte die Frau. »Sind Sie auf den Rücken gefallen?«
»Kann schon sein«, erwiderte Dulnikker etwas beleidigt. »Ich habe keinen Fallschirm mit.«
Malka begann, den Lehm mit einem kitzelnden Kratzen abzuschälen.
»Sie haben einen schönen dicken Nacken«, flüsterte sie, während sie drauflosarbeitete.
»Ja, in meiner Familie haben meine engsten Verwandten alle den gleichen dicken Nacken«, erwiderte Dulnikker männlich stolz. Dank der Entdeckung der Dicke seines Nackens durchflutete seinen Körper plötzlich eine neue warme Welle. Der Staatsmann rückte der Frau ein bißchen näher, und von diesem Punkt an entwickelte sich alles vollkommen natürlich. Malka erschauerte durch seine Nähe, schloß die Augen und lehnte den Kopf an die Schulter ihres Galans. Eine Weile saßen sie in heiligem Schweigen wie zwei Götzendiener da — trunken von der kalten Pracht der zwinkernden Sterne. Dulnikker erkannte mit einem erschreckten Zusammenzucken, daß sie außer der leichten Hülle nichts anderes trug, und diese neue Entdeckung ließ sein Herz stocken.
»Malka«, flüsterte er in die feuchte Nachtluft, »ich bin kein Jüngling mehr, mein Frühling ist vorbei, und mein Haar wird langsam grau. Aber glaube mir, Malka, von der ersten Stunde an fühlte ich, wie uns eine spontane, fast mystische Anziehung zueinander zog …«
Dulnikkers Herz öffnete sich von der Gewalt seiner Worte. Malka beugte den Kopf zurück, ihr schwarzes Haar fiel in Wellen auf ihre Schultern, und ihre Lippen öffneten sich leicht.
»Ein solches Gefühl hat ein Mann nur in entscheidenden Augenblicken seines Lebens«, fuhr Dulnikker flüsternd fort. »Seine Seele steht still, und der Flügelschlag des Schicksals wird hörbar. Ich erinnere mich nur an ein einziges Mal, daß ich ihn so deutlich hörte wie jetzt in deiner Gegenwart, Malka. Wenn ich mich recht erinnere, fand das zu Beginn eines besonders heißen Sommers statt, als ich noch ein schmucker Jüngling war: Zvi Grinstein ließ mich ins Parteihauptquartier kommen und fragte mich, ob ich bereit sei, die Leitung einer Propagandakampagne zur Verdoppelung der Mitgliederzahl zu übernehmen. Damals — damals hatte ich ein Gefühl, als sei ich kein von einer irdischen Frau geborener Mensch. Ich hatte das Gefühl, daß ich irgendein Vogel sei, ein Vogel, der steil himmelwärts fliegen wollte. Stelle dir das vor, Malka: Ich, der junge Verkaufsleiter des Parteiblattes — und Zvi Grinstein!« Hier unterbrach sich Amitz zu einer kurzen, aber dramatischen Pause.
»Gott der Allmächtige!« flüsterte er in die geheimnisvolle Dunkelheit. »Wer hätte je gedacht oder vorausgesagt, daß der Sohn des armen Hausierers eine solche Bedeutung im Heiligen Land erlangen würde? Es stimmt, mein lieber Vater — Friede seiner Seele — setzte große Hoffnungen in mich. Denn während die anderen Schulkinder auf der Straße spielten, pflegte ich im Heder zu sitzen, Humesh zu studieren und nicht herumzurennen, weil ich viel zu dick war. Aber gleichzeitig war ich hübsch wie ein kleiner Engel mit meinen krausen Seitenlocken — würdig des Pinsels eines van Gogh. Die Leute wollten mich immer hochheben und meine Pausbacken mit Küssen überschütten. Zu meinem großen Kummer war ich gezwungen, mit meinem Studium an der Jeshiva aufzuhören, bevor ich meinen Rabbinergrad erreichen konnte, weil wir plötzlich nach Palästina auswanderten, wo wir eine schwere Zeit knochenbrechender Arbeit durchmachten. Heute mag es Ihnen lächerlich klingen, Madame, aber einst arbeitete Amitz Dulnikker als gewöhnlicher Markthelfer. Ich bin auf jene kurze Zeit der körperlichen Arbeit stolzer als, sagen wir, auf den Literaturpreis für die Veröffentlichung des ersten Bandes meiner gesammelten Leitartikel. Kehren wir jedoch zum Thema zurück, um die Dinge nicht durcheinanderzubringen. Es war mein Glück, bald eine Anstellung als erster Diener bei dem verstorbenen Rabbi Zuckermann von Jerusalem zu finden. Mein Gehalt war minimal, dennoch war es eine intellektuelle Beschäftigung, eines gebildeten Mannes würdig. Er war ein lieber Mensch, voll frommen Eifers, zugleich aber ein aufgeklärter, fortschrittlicher geistiger Führer und tief im Herzen ein vorbildlicher Zionist. Einmal — ich muß Ihnen das erzählen, Madame — kam ein Schächter, dem man nicht erlaubt hatte, an Rosh Hashanah Shofar zu blasen, zu ihm. Der arme Kerl jammerte: ›Rebbe, Rebbe, warum läßt man mich nicht an Rosh Hashanah blasen?‹ Und was erwiderte der Rebbe, meine Herren? ›Ich habe gehört — ähm —, daß du nicht in der Mikve untergetaucht bist!‹ Der Schächter begann sich zu entschuldigen: ›Rebbe, das Wasser war kalt. Oj, war das kalt, Rebbe!‹ Und der Rebbe erwiderte: ›Oif Kalts blust men nischt!‹ Ha, ha, ha … Der verstorbene Rabbi Zuckermann war ein sehr kluger und geistreicher Mann, obwohl ich nur kurz in seinen Diensten blieb, um mich einer der zionistischen Arbeiterbewegungen anzuschließen. Erlauben Sie mir, Freunde, mit einem Gefühl der Genugtuung zu bemerken, daß dieser Schritt einen Wendepunkt in meinem Leben darstellte. Ich begann zweimal wöchentlich für das Parteiorgan zu schreiben. Siedlungen! In jedem Artikel wiederholte ich mein Schlagwort: Siedlungen! Entweder wir werden eine unabhängige jüdische Landwirtschaft haben, oder es wird auf der Welt überhaupt keine Landwirtschaft geben! Gott, war ich damals kühn! Als der verstorbene Rabbi Zuckermann hörte, daß ich Zionist geworden war, verfluchte er mich schrecklich und entließ mich; und von da an verdiente ich mir mein Leben mit Hebräisch-Unterricht. Selbst damals war ich schon gezwungen, immer alles selber zu machen, und daher gründete ich aus eigener Initiative mit einigen anderen Genossen zusammen den Kibbuz Givat Tushija. Aber jener Teil meiner Memoiren gehört, glaube ich, zu den Annalen unserer historischen Wiedergeburt. Wir kultivierten, meine Damen und Herren, jene Wüstengebiete wie die Irren, weil wir alle der Romantischen Schule angehörten, und wenn der anonyme Korrektor im Stab des Parteiorgans nicht plötzlich tot umgefallen wäre, dann wäre ich vielleicht mehr als zwei Jahre im Kibbuz geblieben. Nachher forderte mich Zvi Grinstein auf, wie du dich vielleicht erinnerst, ihn zu besuchen, und in jener Stunde von so großer Tragweite, Genossen, war ich ein Mann von neunundzwanzig Jahren der Selbsthingabe und Standhaftigkeit.«
Der junge Dulnikker hatte das 35. Lebensjahr erreicht, viele Kämpfe durchgestanden, viele Erfolge zu seiner Ehre verbucht, als Malkas regelmäßiger Atem seine Laufbahn für einige Sekunden unterbrach. Der Kopf der Frau war hinuntergerutscht und ruhte nun auf der Brust des Staatsmannes. Dulnikker ignorierte ihren tiefen Schlaf und setzte seinen Vortrag weitere zehn Minuten fort, nach denen auch ihn die Müdigkeit überkam. Seine Augenlider wurden schwer, seine fleißige Zunge wurde schläfrig und machte dem tiefen Schnarchen Platz, das seiner Kehle entströmte.
Dulnikker erwachte durch Malkas erschrockenen Aufschrei.
»Oh, Himmel!« rief die Frau aus und sprang auf. »Es ist schon fast Sonnenaufgang!«
Dulnikker packte ihr rosa Nachthemd.
»Wann kommst du wieder?« fragte er stürmisch. Die Frau warf ihm einen völlig verblüfften Blick zu und lief davon. Der schläfrige Staatsmann wollte ebenfalls zu seinem warmen Bett zurückeilen. Als er jedoch unter seinem Balkon angelangt war, entdeckte er, daß er seinen Bademantel nicht erreichen konnte, um an ihm emporzuklettern. Daher kehrte er wieder in die strohgedeckte Hütte zurück, um abzuwarten, bis er in Ruhe die knarrende Treppe emporsteigen konnte, ohne das Mißtrauen Elifas’ zu wecken.
Kaum hatte sich Dulnikker auf der Bank niedergelassen, als er ein schwaches Rascheln hörte, das aus dem Garten vor dem Haus des Schuhflickers dem Wirtshaus gegenüber kam. Langsam kroch der neugierige Staatsmann zur Hecke, spähte durch ihr Laub und war niedergeschmettert. Im Licht der frühen Morgendämmerung nahm er zwei schattenhafte Gestalten wahr, die vorsichtig zu Zemach Gurewitschs Haus zurückkehrten und es betraten.
Es war Zev, mit einer gefalteten Decke unter dem Arm, begleitet von der kleinen Dwora.
Dulnikkers wütender Blick folgte ihnen. Er hatte sich sofort zusammengereimt, was im Garten des Schuhflickers vor sich gegangen war: »Zev hat Fräulein Dwora den Kopf verdreht, ist dann nachts in den Garten hinausgegangen, und dann …«
Konnte der Sekretär ihr bis zum Tagesanbruch seinen Lebenslauf erzählt haben? Nein, dazu hatte Zev noch nicht lange genug gelebt. Dulnikker verstand allmählich, warum sein Sekretär jetzt immer so schläfrig dreinsah. Er verführte Mädchen bei Nacht!
Dulnikker kletterte so entsetzt und so sehr in düstere Gedanken versunken die Treppe hoch, daß er sich erst in letzter Minute daran hinderte, wieder das Schlafzimmer des Wirts zu betreten. Er fiel wie ein Holzklotz auf sein Bett, streckte sich genießerisch in Erwartung angenehmer Träume aus und schlief sofort ein.
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Der Zeiger der Sonnenuhr hatte seinen Schatten gerade auf die Ziffer 10 geworfen, als Dulnikker von einem fröhlichen Lärm erwachte, der aus dem Garten kam. Er stolperte mit noch halb geschlossenen Augen auf den Balkon hinaus und entdeckte die Zwillinge, die unten standen und über den Anblick des Bademantels lachten, der noch immer am Geländer festgebunden war und im Morgenwind heftig flatterte.
»He, Ingenieur«, schrie Hajdud, »Majdud sagt, es ist ein Fetzen. Ist es nicht eine Fahne für den Bürgermeister?«
Dulnikker versuchte auch diesmal nicht, das Geschwätz der Fratzen zu ergründen. Er tat, als habe er sie nicht gehört, und versuchte unter ständigen Selbstvorwürfen den verknüpften Ärmel aufzubinden.
»Sieht so aus, daß der Mantel schon trocken ist!« sagte er absichtlich laut. Aber zu seinem großen Ärger gelang es ihm erst nach einem längeren Kampf der Fingernägel, den Knoten aufzumachen, da der Mantel mit Tau vollgesogen war. Anschließend ging er schläfrig, jedoch angenehm ermattet, in den Speisesaal hinunter, entschlossen, von seinem Sekretär für dessen unverantwortliches Tun eine ausführliche Erklärung zu verlangen.
»Genossen«, beabsichtigte er ihm entgegenzuschleudern, »ein Mann, der unfähig ist, seine Triebe zu beherrschen und ein Sklave seines Fleisches wird, sollte besser auf seine Berufung zum Dienst an Volk und Partei verzichten!«
Auch Malka sah etwas müde aus, aber als sie Dulnikker sein ausgiebiges Frühstück servierte, sah sie ihn träumerisch an und drückte ihm leidenschaftlich den Arm.
»Joj!« staunte die Frau. »Wo haben Sie es gelernt, so hübsch und so viel zu reden, Herr Dulnikker? Und so viele Fremdwörter, und in einem Zug. Ich hab’ noch nie so reden gehört.«
Wieder wogte die gleiche warme Welle in Dulnikker hoch. Noch immer spürte er Malkas Kopf an seiner Brust. Er stand auf und trat zu ihr.
»Komm heute nacht wieder hin, Malka«, flüsterte er heiser. »Ich werde auf dich warten.«
»Pst, mein Mann!«
Sehr verwirrt begann Dulnikker in der Küche herumzuwandern, als suche er etwas. Er stieß gegen den Schächter und verwickelte ihn sofort in ein Gespräch. Er erzählte ihm einen Witz über einen Schächter, dem verboten worden war, Schofar zu blasen, und fragte ihn, wie viele gottesfürchtige Mitglieder übrigens seine Gemeinde zähle.
»Nur eines«, erwiderte der Schächter und deutete mit einem traurigen Lächeln auf sich.
»Das ist nicht viel«, spottete der Staatsmann, »aber auf eine solche Gemeinde können Sie sich wenigstens verlassen.«
»Weiß ich? Es ist schwer, in einem Ort fromm zu bleiben, der keine Synagoge hat, nicht einmal eine schundige.«
»Das ist ja großartig«, sagte der Staatsmann in einem professionell scherzenden Ton klagend. »Für eine Synagoge ist kein Geld da, aber der Bürgermeister fährt in einem Wagen herum! Einfach wundervoll!«
Der Schächter blickte ihn überrascht an.
»Verzeihung, Herr Ingenieur«, erwiderte er, »aber sind denn nicht Sie es gewesen, der den Karren für ihn gemietet hat?«
»Na und? Hat man ihn gezwungen, den Wagen von mir anzunehmen?«
Die klare Logik des erfahrenen Staatsmannes traf ins Schwarze. Der Schächter klopfte auf den Busch. »Herr Ingenieur, würden Sie mir helfen, eine Synagoge zu bauen?«
»Ich würde Ihnen gern Ihr Ansuchen bewilligen, meine Herren, aber ich habe kein Budget für andere dringende Bedürfnisse als die des Bürgermeisters.«
»Ich kann kein Bürgermeister werden, Herr Ingenieur, ich bin Schächter.«
»Na und? Ist der Schächter weniger als der Barbier? Im Gegenteil! Salman Hassidoff tut, was für ihn am besten ist, und Sie, Herr Rabbi tun, was für Gott am besten ist.«
»Da ist viel Wahres dran«, meinte der Schächter, »aber ich bin kein Rabbi.«
»Praktisch sind Sie einer! Sie sind ein Rabbi de facto!«
Hier ließ Dulnikker den aufgeregten Schächter stehen, weil sein Sekretär mit den Spuren der nächtlichen Ausschweifung im Gesicht im Speisesaal erschien. Kühn näherte sich Dulnikker, pflanzte sich vor ihm auf und sagte leicht hüstelnd:
»Ich möcht mit dir reden, mein Freund Zev.«
Der Sekretär setzte sich mit aufreizender Fassung nieder.
»Ja, Dulnikker. Was gibt’s?«
Der Politiker beugte sich über den Tisch, das Gesicht nahe an Zev, und betonte jedes Wort:
»Ich meine die Ereignisse heute nacht, Genosse!«
»Keine Sorge, Dulnikker«, antwortete der Sekretär, während er sich Butter aufs Brot strich, »nur ich und Dwora haben euch beide im Garten gesehen. Beruhigen Sie sich, es wird nicht weiterdringen.«
»Danke«, murmelte Dulnikker und begann sein weiches Ei aufzuklopfen.
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Am Nachmittag, als das Vieh von der Weide zurückkehrte, spielten sich Ereignisse ab, die in der Geschichte Kimmelquells noch nie dagewesen waren. Niemand wußte, wie es begonnen hatte. Die Leute sahen, wie die Tür der Schusterwerkstätte aufflog und Zemach Gurewitsch zusammen mit Mischa, dem Kuhhirten, herausstürmte.
»Glaubst du, ich bin ein Narr, Gurewitsch?« schrie der Kuhhirte. »Ich weiß, daß du Dwora verboten hast, mich zu sehen!«
»Ich es ihr verboten?« schrie ihn der Schuhflicker gellend an. »Dwora läuft vor dir davon, Mischa, das ist alles! Warum sollte ich es verbieten?«
»Warum? Du fragst noch, warum?« brüllte der Kuhhirte wütend. »Glaubst du, ich weiß es nicht? Glaubst du, es wird dir durchgehen, daß du alle möglichen Schranken zwischen uns aufrichtest, nur weil ich ein Mann der materiellen Hilfsmittel bin?«
»Was?«
»Ja, ja, du hast richtig gehört, Zemach Gurewitsch! Gott sei Dank habe ich Augen im Kopf! Glaubst du, daß du das Recht hast, dich einzumischen, nur weil du Mittel produzieren kannst?«
»Ich schwöre, er ist betrunken!« kreischte der Schuhflicker. »Schau, daß du weiterkommst, bevor ich mich vergesse!«
Der Kuhhirte war fuchsteufelswild. »Sag du mir ja nicht, was ich tun soll, Gurewitsch! Noch bist du nicht Bürgermeister!«
Der Schuhflicker sprang hoch, als hätte ihn eine Schlange gebissen. Seit zwei Tagen war er überzeugt, daß der Bürgermeister-Barbier unnötig vor seiner Werkstatt herumfuhr, um ihn zu provozieren. Gurewitsch ballte die Fäuste und ging wütend auf den Kuhhirten los.
»Ich werde früher Bürgermeister sein, als du denkst!« schrie er. »Selbst wenn es einigen Leuten nicht paßt!«
Dulnikker beobachtete die Auseinandersetzung mit kaum unterdrückter Genugtuung. »Endlich ein etwas menschlicher Ton«, sagte er zu seinem Sekretär. »Es sieht zwar aus, als sei es nicht mehr als ein persönlicher Kampf zwischen zwei Einzelmenschen, aber meiner bescheidenen Meinung nach ist dieser Konflikt der erste Vorbote einer gesunden politischen Gärung im Dorf Kimmelquell!«
»Unser Vorbote«, bemerkte der Sekretär nervös, »müßte jetzt schon bei Manager Schultheiß eingetroffen sein.«
»Dessen kann man nicht so sicher sein«, erwiderte Dulnikker. »Ich habe irgendwo gelesen, daß sich in diesem Sommer die Raubvögel ungeheuer vermehrt haben.«
Hermann Spiegel kam herbeigelaufen und fragte atemlos:
»Worüber streiten sie?«
»Über das Bürgermeisteramt«, erwiderte Dulnikker. »Natürlich.«
»Lächerlich«, bemerkte der Tierarzt. »Erst gestern abend habe ich zufällig das Thema mit meiner Frau besprochen. Sie meinte, ich würde einen perfekten Bürgermeister abgeben, wegen meiner wunderbar klaren Handschrift. Ich habe ihr gesagt: ‘Was redest du da, mein Schatz? Das könnte ich gerade brauchen!«’
»Warum nicht?« fragte Dulnikker. »Selbst ein Intellektueller könnte einen guten Bürgermeister abgeben. Oder haben nur Handwerker das Recht, in Kutschen herumzufahren?«
»Meinen Sie wirklich, Herr Ingenieur?« überlegte Hermann Spiegel und eilte zu den Streitenden hinüber, obwohl sich die Menge inzwischen mangels Handlung zerstreut hatte.
»Immer muß ich alles selber machen!« erklärte der Staatsmann befriedigt. »Ich werde jetzt den Schuhflicker besuchen und ihm einige elementare Dinge erklären.« Er drehte sich nach seinem Sekretär um. »Sag mir, mein Freund Zev, als ich dir die Idee mit dem Karren das erste Mal auseinandersetzte, hast du da geglaubt, daß sie ermutigende Entwicklungen erzeugen würde?«
»Nein, Dulnikker. Wirklich nicht.«
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Zev und die kleine Blonde kletterten langsam einen schmalen Pfad hinauf, der sich durch den Tannenwald schlängelte. Der langarmige Sekretär schien das Mädchen unter seiner Achselhöhle zu tragen, während Dworas große Augen an seinem Gesicht hingen.
»Hörst du die Vögel zwitschern?« fragte sie begeistert. Der Sekretär versicherte ihr, daß er den Lärm höre, er sei ja nicht taub.
»Sie zwitschern nicht nur«, versicherte er ihr, »sie beflecken einem auch die Kleider.«
»Ihr Stadtfräcke sucht in allem immer nur das Schlechte.«
»Im Gegenteil, mein Huhn, wir suchen uns das Gute heraus.«
Um zu beweisen, daß es ihm ernst damit sei, nahm Zev seine Brille ab, lehnte das Mädchen gegen einen Baumstamm und küßte es auf die Lippen. Da dies seine einzige Zerstreuung im rückständigen Kimmelquell war, war es nur natürlich, daß die beiden ihren Weg erst nach einer langen Pause fortsetzten.
»Warum seid ihr hergekommen?« fragte Dwora.
»Der Ingenieur kam zur Erholung.«
»Das stimmt nicht. Der Ingenieur ist nicht zur Erholung gekommen, er ist gekommen, um das Dorf aufzuhetzen.«
»Möglich. Das ist sein Geschäft.«
»Geschäft? Warum lassen ihn das die Leute tun?«
»Vielleicht, weil sich die Leute gern aufhetzen lassen.«
Sie hatten eine kleine, bewachsene Waldlichtung erreicht. Dwora setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm, und Zev legte sich zu ihren Füßen hin.
»Weißt du, Zev, der Pappi benimmt sich seit neuestem so seltsam«, klagte das Mädchen, während es genußvoll Zevs Haare zauste. »Plötzlich hat er sich entschlossen, anstelle des Barbiers Bürgermeister zu werden. In den letzten Tagen ist er nicht zur Arbeit hinausgegangen, er bespricht sich nur immer mit dem Herrn Ingenieur, und nachher sitzt er stundenlang in seiner Werkstatt und ›klärt‹. Es ist einfach nicht mit ihm zu reden. Du weißt ja, wie dickköpfig er ist!«
»Wie soll ich das wissen?«
»Er ist störrisch wie ein Maulesel. Ich weiß, es ist nicht nett, daß ich meinen Vater einen Maulesel nenne, aber was er vorhat, ist schrecklich. Gestern abend kam er vom Herrn Ingenieur heim und sagte mir: ›Ich muß beweisen, daß ich wirklich für das öffentliche Wohl arbeite, nicht wie Hassidoff, der keine Ahnung vom Rasieren hat!‹ Wir saßen da und haben den ganzen Tag geklärt. Ich habe verschiedenes vorgeschlagen, was wir wirklich brauchen, wie zum Beispiel mehr Kinder im Dorf oder kühleres Wetter, aber erst am Abend hatten wir eine gute Idee: Es gibt nicht genug Wasser im Dorf. Der Papa war schrecklich glücklich, und ich hab’ sofort ein großes Schild in Großbuchstaben machen müssen: ›WIR WERDEN SO LANGE NICHT GENUG WASSER HABEN, SOLANGE DER BARBIER BÜRGERMEISTER IST. WENN ICH BÜRGERMEISTER BIN, WERDE ICH FÜR EINEN GROSSEN BRUNNEN MITTEN IN DER STADT DE FACTO SORGEN.‹ Und jetzt will der Papa diese Ungeheuerlichkeit in der Werkstatt aufhängen, damit es jedermann sehen kann. Wieso lachst du so? Es ist gar nicht komisch!«
Zev wälzte sich vor Vergnügen.
»Fabelhaft!« keuchte er zwischendurch. »Gärung!«
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»Was soll denn das, Genossen?« schrie Dulnikker Zemach Gurewitsch gellend an, als er das Schild an der Wand las. »Was für einen Zweck soll denn das eigentlich haben, wenn ich fragen darf?«
»Eine Art schriftlicher Verständigung«, stammelte der Schuhflicker. »Haben Sie mir denn nicht selbst gesagt, Herr Ingenieur, und ich zitiere: ›Wasser ist eine feine Idee, aber Sie werden sie dem Dorfpublikum zur Kenntnis bringen müssen‹? So habe ich mir vorgestellt, daß sie alles darüber lesen.«
»Die Idee eines Plakats ist durchführbar«, meinte der Staatsmann, »aber es müßte gedrängter und pointierter ausgedrückt werden. Sie müssen es zu einem Schlagwort machen!«
»Einem Schlagwort?«
»Ja. So ist es wirksamer, Genossen. Schweigen Sie — ich möchte etwas Ruhe haben.«
Dulnikker versank in Gedanken, während der Schuhflicker und sein Assistent auf ihren Schemeln zu Statuen unendlicher Ehrfurcht erstarrten. Der Staatsmann hob die Augenbrauen zum Zeichen der geistigen Anstrengung, genoß eine Weile das erwartungsvolle Schweigen und verkündete dann seinen Slogan:
DER BARBIER BAUT KEINEN BRUNNEN!
DER SCHUSTER EINEN FEINEN BRUNNEN!
Am nächsten Tag schlenderte Dulnikker allein über die Dorfstraße. Im tiefsten Herzen war er froh, daß sich sein fauler Sekretär in diesen letzten paar Tagen nicht blicken ließ; denn Zevs zynische, verächtliche Einstellung seiner Erziehungskampagne gegenüber hatte den Zorn des Staatsmannes erregt. Dulnikker vermerkte mit tiefer Befriedigung, daß der Karren, komplett samt alternder Eselin und rauchendem Kutscher, noch immer vor Hassidoffs Haus wartete, trotz der Tatsache, daß die Frist, für die ihn Dulnikker gemietet hatte, schon vor einigen Tagen abgelaufen war. Dulnikker vermutete, daß der Barbier nicht gewillt war, auf sein königliches Gefährt zu verzichten, damit ein solcher Schritt nicht den Eindruck machte, als gebe er seinem Gegner Zemach Gurewitsch nach. Und genauso war es: Salman Hassidoff hielt aus Anmaßung an dem Karren fest und bezahlte ihn aus eigener Tasche. Außerdem fuhr er an einem äußerst heißen Tag zu dem direkt gegenüberliegenden Schuhflickerhaus und sagte von oben her zu Zemach Gurewitsch, der neiderfüllt nur mit den Zähnen knirschen konnte: »Morgen schicke ich meinen Kutscher um den Schuh herüber.«
Als Dulnikker den Barbierladen betrat, kehrte die Frau ihren Fußboden genauso, wie sie es getan hatte, als er zum erstenmal aufgekreuzt war. Diesmal jedoch war ihre Haltung dem Staatsmann gegenüber völlig verändert. Dulnikker setzte sich auf den Sessel, stopfte sich das Handtuch in den Kragen und — dann bemerkte er den kleinen Zettel, der am Spiegel klebte:
SCHUSTER BAUT KEINEN BRUNNEN!
DER BARBIER EINEN FEINEN BRUNNEN!
In des Staatsmannes Seele begannen laut die Siegesglocken zu erschallen.
»Verzeihung, mein Freund«, fragte der Staatsmann unschuldig, »was ist denn das?«
»Ich weiß nicht«, flüsterte der verlegene Barbier. »Alle erzählen mir, daß Gurewitsch ein Schild hat, auf dem das Gegenteil steht.« Hassidoff wandte sich bekümmert seiner Frau zu, die ihm unverzüglich zu Hilfe kam:
»Daß es ein Gedicht ist, verstehen wir, Herr Ingenieur«, sagte sie. »Aber wozu der Brunnen?«
»Zufällig weiß ich, was hier vorgeht, Madame«, erwiderte der Staatsmann. »Der Schuster verspricht dem Dorf einen Brunnen, wenn er zum Bürgermeister ernannt wird.«
»Aber in diesen Bergen gibt es unterirdisch doch keinen Tropfen Wasser!«
»Meine Herren, er verspricht nicht Wasser, er verspricht einen Brunnen.«
»Höre, Salman«, brüllte sein Heldenweib, »dann wirst du eben auch einen Brunnen versprechen! Sogar zwei Brunnen! Drei!«
»Nützt nichts, Madame.« Der Staatsmann schüttelte traurig sein Haupt. »Der Schuster hat die Glaubwürdigkeit a priori für sich. Daher wird man ihm eher glauben.«
»A priori?«
»A priori.«
»Warum?«
»Weil er die Opposition ist. Er tritt mit der Regierung in Konkurrenz.«
»Das ist eine Schweinerei!« schrie der Barbier himmelwärts. Sein Weib begann dem warmen, menschlich so mitfühlenden Ingenieur ihr Herz auszuschütten. »Schauen Sie, Herr Ingenieur«, sagte Frau Hassidoff weinerlich, »jetzt auf einmal wollen sie alle Bürgermeister de facto werden, nur weil es Mode ist. Und trotzdem haben wir bis jetzt nicht einmal gewußt, daß wir einen Bürgermeister haben.«
»Sie haben recht, Madame«, entschied Dulnikker. »Das Seniorat Ihres Gatten ist unbestreitbar.«
»Hörst du, Salman? Der Herr Ingenieur sagt auch, daß du irgendein Seniorat hast.«
»So?« brüllte Hassidoff, und sein Blick war mörderisch. »Was will also dieser dreckige Kerl, der die Schuhe so flickt, daß man nicht in ihnen gehen kann? Was will er eigentlich?«
»Eine Regierungsumbildung«, erklärte Dulnikker und fügte höchst erheitert hinzu: »Benützen Sie nicht Ihre Zunge, Herr Hassidoff; benützen Sie auch Ihre Klinge!«
Das Rasiermesser in Salman Hassidoffs Hand tanzte tatsächlich wie das Schwert in der Hand eines nervösen Fechters. Der Barbier errötete bis zum Scheitel seines kahlen Schädels.
»Salman«, jammerte die Frau, »denk daran, was dir Hermann Spiegel gesagt hat! Du darfst dich nicht aufregen! Diese ganze Bürgermeisterei de facto ist deine Gesundheit nicht wert.«
»Recht hast du, Weib«, keuchte Hassidoff. »Ich trete zurück, und damit hat sich’s!«
»Zurücktreten?« Frau Hassidoff richtete sich hoch auf. »Niemals!«
»Aber meine Herren, meine Herren«, beruhigte sie Dulnikker sanft. »Um Himmels willen, wohin sind wir geraten? Was ist mit diesem soliden Dorf geschehen?«
»Herr Ingenieur, Sie sind ein zu gütiger Mensch, um so etwas zu verstehen«, bemerkte die Frau. »Seit neuestem hat sich hier eine Menge verändert!«
»Jedenfalls möchte ich gern helfen. Bitte informieren Sie mich, meine Herren, wie hier der Bürgermeister gewählt wird.«
»Er wird nicht gewählt«, klärte ihn der Barbier auf. »Bisher hat sich das immer ungefähr so abgespielt: Wenn sie mich zuviel belästigt haben, hab’ ich zu schreien angefangen, daß ich genug habe, und von jetzt an soll jemand anderer die Liste zusammenschreiben. Dann sind sie alle über mich hergefallen und haben behauptet, daß ich fehlerlos hebräisch schreibe und daß ich viel mehr Zeit habe, weil ich nicht immer warten muß, bis ich beim Barbier drankomme. So war’s, wie sie mich immer gewählt haben.«
»In jedem Fall muß das Wahlsystem unverzüglich geändert werden«, verkündete Dulnikker. »Nicht länger soll ein blindes Schicksal eine so gewichtige Frage entscheiden; sie wird einem fairen Wettkampf auf Gemeindebasis unterzogen.«
»Fein!« rief der Barbier. »Ich bin bereit dazu!«
»In nächster Zukunft werden wir einen Provisorischen Dorfrat einberufen, als oberste Instanz, welche die Interessen des Dorfes repräsentiert«, fuhr Dulnikker fort, seinen Geheimplan zu erläutern. »Von nun an, meine Herren, wird nur eine Gemeindekörperschaft festsetzen und entscheiden, wer Bürgermeister von Kimmelquell wird!«
»Gemeindekörperschaft?« wunderte sich Frau Hassidoff. Der Gatte brachte jedoch das feige Frauenzimmer sofort zum Schweigen.
»Keine Sorge, Weib«, sagte er und richtete sich zu seiner vollen Höhe auf. »Ich bin zwar nicht groß gewachsen, aber ich fürchte mich nicht vor dem hinkenden Schuhflicker!«
»In welchem Fall wir anscheinend einer Meinung sind«, versicherte Dulnikker befriedigt und verließ den Laden in bester Laune. Salman Hassidoff trat vor den Spiegel und ließ seine Muskeln spielen.
»Fein«, rief er seiner Frau kraftvoll zu, »lassen wir also die stärkste Körperschaft der Gemeinde entscheiden!«