Von der Stadt aufs Land zurück
Kaum hatten sich die Leute einen Rausch mit Wasser angetrunken, als ihnen eine neue Überraschung vom Staatsmann angekündigt wurde, der verwirrt aus den Feldern herbeigerannt kam und Alarm schlug, daß am Eingang des Dorfes mitten auf der Straße eine Leiche liege. Einige neugierige, entsetzte Männer kehrten mit dem Staatsmann zu der Stelle zurück und entschieden erleichtert, daß die unbekannte Leiche noch lebte. Zwei stämmige Bauern hoben sie auf und trugen sie ins Dorf zum Haus des Tierarztes. Der Mann war ein ausgemergeltes Gerippe in schmutzigen Lumpen. Sein Gesicht war voller Bartstoppeln, und seine glasigen, rotumränderten Augen quollen reglos hinter einer zerbrochenen Brille vor. Dulnikker erriet sofort, daß die kaum erkennbare Gestalt niemand anderer als sein persönlicher Sekretär war, und sein Verdacht wurde durch die gelbe Aktenmappe gestützt, die der Arme in seinen verkrampften Fingern hielt.
Die Schuhflickerstochter rannte zu der Erste-Hilfe-Mannschaft hinaus und warf sich auf das menschliche Wrack, weinend vor großer Freude und vor Staunen, daß Zev freiwillig zu ihr zurückgekehrt war. Eben da begannen seine Augen einige Lebensfunken zu zeigen, und er sah in großer Furcht um sich. Dulnikker schlug seinem Sekretär herzlich auf die Knochen, die ihm aus dem Rücken vorstanden, und fragte ihn sanft: »So bist du also zurückgekehrt, mein Freund?«
Die Frage war sichtlich unnötig, zeitigte jedoch eine seltsame Reaktion. Zev begann am ganzen Leib zu zittern, starrte den Staatsmann an, als sehe er Gespenster, und stopfte sich zwei hagere Finger in die Ohren:
»Aufhören! Um Gottes willen, aufhören!« heulten die Überreste des Ersten Sekretärs. »Ich kann es nicht mehr aushalten! Halten Sie den Mund, Dulnikker, halten Sie den Mund!« Sein Kreischen war so gräßlich und trommelfellzerreißend, daß die Männer Dulnikker flüsternd zuraunten, er möge still sein. Zev warf sich wild herum und fiel seinen Trägern fast aus den Händen. Er wurde erst ruhiger, als man ihn in seinem ehemaligen Zimmer beim Schuhflicker aufs Bett gelegt hatte, wo er durstig zwei Krüge Wasser hinuntergoß. Hermann Spiegel untersuchte ihn und versicherte, daß keine Lebensgefahr bestehe, da er nur einen Sonnenstich erlitten hatte, erschwert durch ungenügende Ernährung.
Was die Leiden des Sekretärs betraf, so wurden sie erst mit der Zeit bekannt.
Nachdem er vom Balkon gesprungen war, rannte er heim, stopfte das Nötigste in seine Aktenmappe und fegte wie ein Wirbelsturm zum Lagerhaus. Er erinnerte sich nicht, wie man zur Landstraße kam, hoffte jedoch, daß das Brot und der Saft ausreichen würden, bis er irgendwie auf den Tunnel in der Felswand stieß. Daher ging er auch nach Einbruch der Dunkelheit noch weiter und richtete sich nach den Sternen, um seinen Weg zu finden. Er wählte den Großen Bären, weil er sich aus seinen Pfadfinderzeiten erinnerte, daß dieses Sternbild immer am nördlichen Himmel erscheint. Der Sekretär bahnte sich seinen Weg durch das Unterholz in die entgegengesetzte Richtung zum Großen Bären, um südwärts zu gelangen.
Gegen Mitternacht beschloß Zev, einige Minuten zu rasten, und brach am Fuß eines Baumes zusammen. Als er aufwachte, war es 4 Uhr 30 nachmittags, und der junge Mann war entsetzt, als er entdeckte, daß der Große Bär spurlos verschwunden war. Unverzüglich öffnete er seine geräumige Aktenmappe, verschlang den Brotlaib und goß die Flasche Saft auf einen Zug hinunter. Aber sein Hunger ließ nicht nach. Er sah seine Aktenmappe durch und entdeckte die »extrastarke« Brieftaube, die er völlig vergessen hatte, in den Oberteil seines Pyjamas eingewickelt und halb erstickt. Mit Hilfe eines abgebrannten Streichholzes schrieb der Sekretär auf ein zerknittertes Stück Papier:
»Bin auf der Flucht zum Tunnel durch die Wälder. Sendet sofort Expedition. Kräfte lassen nach. Verhungere.«
Er unterzeichnete mit Dulnikkers Namen, so daß sich Schultheiß beeilen würde, den Lastwagen hinauszuschicken, und fügte zwecks erhöhter Glaubwürdigkeit hinzu: »Sendet auch Reporter.«
Der Sekretär band der Taube die Notiz mit einem Stück Faden aus seinem Rockaufschlag ans Bein. Dann warf er den Vogel in die Luft, aber der fiel schlapp ins Gras zurück. Zev glättete der Taube die Federn, redete ihr leise gut zu und warf sie immer wieder in die Luft, bis der fliegende Kurier Mut faßte und schwerfällig zu flattern begann. Genau in dem Augenblick aber schoß dem Sekretär eine praktische Idee durch den Kopf, und er begann dem Vogel nachzujagen. Endlich brachte er ihn herunter, röstete die »extrastarke« Taube auf einem offenen Feuer und aß sie mit erschreckendem Genuß einschließlich des Marks in den Knochen ganz auf.
Nach seiner Mahlzeit setzte der Jüngling, gesättigt und etwas erholt, seine Flucht fort. Er ging Hügel und Kämme hinauf und hinunter, überquerte ausgetrocknete Flußbetten und erklomm Felsblöcke. Bei Tageslicht schleppte er sich dahin, indem er sich nach seinem Orientierungssinn richtete, und nachts wieder anhand des Großen Bären. Am dritten Tag hörte er verrückte, wirre Geräusche und sah Nebel vor seinen Augen. Der Sekretär kroch jedoch weiter. Und am vierten Tag seiner Flucht näherte er sich endlich bewohntem Gebiet. Aber bevor er sich vergewissern konnte, wo er war — auf seinem Weg zu den weißen Häusern irgendeiner kleinen Siedlung —, brach er bewußtlos zusammen.
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»Herr Ingenieur, Herr Ingenieur!« Dwora rannte zwischen den Kühen hindurch und kam atemlos auf ihn zu. Dulnikker stand hastig auf, um sie zu begrüßen.
»Ich komme!« rief er dem Mädchen zu. »Sag Zev, mein Mädchen, daß ich das Vieh heimtreibe und gleich bei ihm drüben bin.«
»Das ist es ja gerade, Herr Ingenieur«, sagte Dwora verwirrt, als sie sich neben ihm niedersetzte, »Sie dürfen ihn nicht besuchen …«
»Um Gottes willen! Hat er etwas Ansteckendes?«
»Nein. Körperlich ist er nicht so krank«, erwiderte das Mädchen. »Der Doktor sagt, es kommt alles von der Sonne, und daß es ihm bald besser gehen wird, aber vorderhand tobt er einfach, und manchmal fängt er ohne jeden Grund an, gellend zu schreien: ›Hören Sie schon auf damit, Dulnikker! Halten Sie den Mund!‹«
»Das habe ich ihn auch schreien gehört«, murmelte der Staatsmann verständnislos.
»Er will immer, daß Sie zu reden aufhören, Herr Ingenieur, obwohl Sie gar nicht aufhören könnten, etwas zu tun, weil Sie ja nicht einmal da sind, nur daß Zev eben glaubt, Sie seien da. Verstehen Sie?«
»Nein!«
»Seien Sie nicht böse auf mich, Herr Ingenieur, ich wiederhole nur, was ich gehört habe. Zev sitzt so gebrochen und verloren in seinem Bett, starrt mit seinen verglasten Augen direkt vor sich hin und wiederholt endlos …« Hier zog das Mädchen ein Stück Papier aus seiner Rocktasche und las zitternd: »›Die besten Wünsche für ein gutes und schönes Neues Jahr der Arbeit und des Schaffens, der Produktivität und Macht, der Vereinigung konstruktiver Kräfte, der Festigung der Wirtschaft, dem Aufblühen der Wüsten, der Überwindung der Geburtswehen, der Entwicklung unserer Bewegung, der Verherrlichung der Macht der Arbeit, der jüdischen Brüderlichkeit, Masseneinwanderung und Assimilierung und Absorbierung und Verwirklichung und Vision und Eroberung und des dauernden Friedens und der Wahrheit -‹ und einen rechten Strom ähnlicher Dinge, so daß ich sie nicht alle niederschreiben konnte. Nachher beginnt er zu schreien: ›Hören Sie auf damit, Dulnikker!‹ und beginnt zu weinen, und ein paar Minuten später fängt er wieder von vorn an.« Dulnikker schwieg entsetzt.
»So ist das, Herrn Ingenieur.« Dwora zuckte die Achseln und fuhr flehend fort: »Ich verstehe das nicht ganz, aber wenn es auch nur diese einzige Möglichkeit gibt, dann bitte ich Sie sehr, Herr Ingenieur, wirklich schon damit aufzuhören, Zev leidet so, daß es unerträglich ist, es mitanzusehen.«
»Was kann ich dagegen tun, Madame? Er spinnt!«
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Der Tierarzt befahl, Zev in seinem dunklen Zimmer einzusperren und ihn nicht zu stören, wenn er den Herrn Ingenieur sprechen höre. So begannen sich nach einer Woche »die besten Wünsche für ein gutes und schönes Neues Jahr« langsam zu verflüchtigen. Die Bauern gewöhnten sich schnell daran, daß der Krankenwärter wieder im Dorf war, insbesondere, da andere Ereignisse auftauchten, die um ihre Aufmerksamkeit buhlten.
Die Dorfbewohner wurden sich zum Beispiel einer ungewöhnlichen Entwicklung bewußt. Das Tnuva-Geld wurde geheimnisvollerweise langsam aus dem Verkehr gezogen, und sie entdeckten, daß sie nur noch lokale Währung besaßen. Diese Entwicklung klärte sich auf, als Zemach Gurewitsch mit einer vollen Wagenladung Büroausrüstung aus Haifa zurückkehrte. Sie war der Liste entsprechend erstanden worden, die mit Rat und Hilfe des Ingenieurs zusammengestellt worden war. Das geschah in einer öffentlichen Sitzung des Provisorischen Dorfrats, die in Gegenwart der Kühe unter freiem Himmel abgehalten wurde. Der Schuhflicker brachte außerdem einen Besitz mit, der das nagende Verlangen der Bauern erregte und ihre Eifersüchteleien zu einem Höllenfeuer entfachte. Er lud ein glänzend poliertes Fahrrad vom Tnuva-Lastwagen ab und stellte es vor seine Schusterwerkstatt. In jenen Tagen fragten sich viele, wieso es sich ein einfacher Dorfschuster leisten konnte, diesen Drahtesel zu kaufen, aber das war bloßes Gerede, in das jeder kommt, der für das öffentliche Wohl arbeitet.
Der Karteikasten, der schwere Stahlsafe und die zwei Schreibtische wurden auf den Sand zwischen die vier einsamen Pfeiler des Stadtamtes in spe gestellt, und um sie herum wurde die übrige teure Ausstattung verstreut. Die Dorfbewohner versammelten sich immer wieder um den Prunk, beschnupperten neugierig die seltsamen Stühle, die man heben und senken konnte, wenn man einen Knopf drehte, und besonders beeindruckt waren sie von den Gummikissen, die man zuerst mit dem Mund aufblasen mußte, bevor man sich draufsetzen konnte. Auf den Schreibtisch und in ihrem Laden hatte Frau Hassidoff große Briefordner sowie Schreibblöcke verschiedener Größe prachtvoll angeordnet, Bleistifte, deren eines Ende blau und deren anderes Ende rot schrieb, ein Lineal, ein Radiergummi(!), einen geflochtenen Papierkorb, ein Messer ohne Griff, ein Stück Schwamm(?), eine kleine Briefwaage(?), ein erstaunliches Instrument, mit dem man Löcher stanzen konnte, und — endlich — einige Gummistempel und einen Löschblattroller(!), einen echten Bleistiftspitzer, eine Rechenmaschine mit Kugeln, eine Tischglocke und noch mehr.
Die Mitglieder des Provisorischen Dorfrats weideten ihre Augen höchst befriedigt an den Errungenschaften der Bürotechnologie. Nicht zu vergessen die schwindelerregenden Stühle und die angenehm klingende Glocke, die eine nie versiegende Quelle des Vergnügens für die Dorfräte war. Häufig setzten sie sich instinktiv hinter die Schreibtische und versuchten, eine entsprechende Miene aufzusetzen. Der einzige Gedanke, der ihr Vergnügen umwölkte, war die Frage: Was sollte man mit all den glänzenden Dingen anfangen? Gerade zu einer Zeit, da die Zahl der Arbeitslosen im Dorf anstieg, weil der größte Teil der Kümmelernte verfault war. Es war schwierig, festzustellen, ob das auf den späten Herbstregen oder die Vernachlässigung der Felder zurückging. Tatsache jedoch blieb, daß die Dorfbewohner noch nie eine so unbedeutende Menge Kümmel eingesammelt hatten wie in diesem Jahr.
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Sowie Dulnikker von »der katastrophalen Situation der landwirtschaftlichen Produktivität« hörte, befahl er den Provisorischen Dorfrat zu einer Notstandssitzung zusammen. Das war wirklich unnötig, weil der Provisorische Dorfrat in letzter Zeit ohnehin in Hassidoffs neuem Stall immer wieder einberufen worden war, ohne daß der Vorsitzende verständigt wurde. Ungeduldig eröffnete Dulnikker die Notstandssitzung, obwohl der Zählappell enthüllte, daß der Schuhflicker noch nicht eingetroffen war. Gurewitsch hatte sich seit neuestem die Gewohnheit zugelegt, wegen seines Fahrrads zu spät zu Versammlungen zu kommen: Da er wegen seines lahmen Fußes nicht schnell gehen konnte, fiel es ihm schwer, auch noch das Fahrzeug mitzuschleppen.
»Meine Herren!« begann der Staatsmann mit lauter Stimme. »Wie waren die Ergebnisse der diesjährigen Ernte?«
»Sehr armselig, Herr Ingenieur«, erwiderte der Barbier ohne eine Spur Scham. »Wir haben die Tnuva vielleicht mit einem Zehntel unseres üblichen Ertrags beliefert.«
»Großartig!« explodierte Dulnikker. »Einfach wunderbar! Herr Hassidoff, der Bürgermeister von Kimmelquell, informiert mich heiter und zufrieden, daß es ihm gelungen ist, die Produktivität des Dorfes in den ersten Monaten seiner Amtszeit zu ruinieren und sie auf ein Zehntel herabzusetzen! Ich habe mehr als einmal gegen Ihren Mangel an Reife Verwahrung eingelegt, meine Herren, aber das ist einfach zuviel!«
»Eine Sekunde, Ingenieur«, fiel der Barbier ein, »Sie werden schon verzeihen, aber wir haben es eilig. Es stimmt, daß die Ernte sehr mager war, aber andererseits ist das der Grund, warum der Kümmelpreis in unserem Land so hoch gestiegen ist, daß uns die Tnuva für ein Zehntel der üblichen Ernte fünfmal mehr bezahlt hat, als sie uns je bisher für unsere beste Ernte gegeben hat.«
Dulnikker war sprachlos.
»Geld ist nicht alles, Genossen«, stammelte er. »Worauf es ankommt, ist das Prinzip.«
»Entschuldigen Sie, Ingenieur«, protestierte Hassidoff. »Ich kann Ihnen nicht folgen. Was ist falsch daran, wenn man für weniger Arbeit mehr verdient?«
Dulnikkers Gesicht lief rot an, und seine Stirnadern quollen vor und zitterten. Diese Lümmel hatten noch nie in einem so unverschämten Ton mit ihm zu sprechen gewagt! Der Staatsmann hatte schon seit einiger Zeit eine geheime Abneigung gegen den unbegabten kleinen Barbier zu spüren begonnen, der um keinen Deut besser war als die übrigen Dorfbewohner, der jedoch, sowie er zufällig Chef der Gemeindeverwaltung geworden war, sich von Geburt an vom Schicksal für die Stellung bestimmt hielt. Dulnikker bemerkte mit Ekel, daß sich der Barbier mit wütender Hartnäckigkeit an seinen Titel und sein Fahrzeug klammerte, als fürchte er, daß sein Rücktritt das Dorf in Bankrott stürzen würde. Überdies hatte Hassidoff von dem Tag an, als ein ambitionierter junger Mann aus dem Dorf zu seinem Sekretär ernannt worden war, neue Gewohnheiten entwickelt. Erstens verlangte er, daß sein Sekretär ihm wie ein Schleppenträger überallhin folge und auf jeden Ton lausche, den er, der Bürgermeister de facto, äußere. Und noch mehr, die Leute sahen öfter als einmal seinen Adjutanten neben seinem Karren einherlaufen und entsprechend Hassidoffs neuem Brauch, »alles schriftlich« Befehle niederschreiben. In seinem Verlangen, die Berge Papier und den Rest der modernen Ausstattung seines Büros zu benützen, stellte der Bürgermeister fast allen mündlichen Kontakt mit der Öffentlichkeit ein. Wenn seine Kunden neugierig wurden und sich erkundigten, wann der Tnuva-Lastwagen das nächstemal käme, schwieg der Barbier plötzlich eisern und antwortete dann mit Verschwörermiene: »Sie bekommen die Antwort schriftlich.« Und sein Sekretär notierte unverzüglich den Namen des Antragstellers, dem er — innerhalb von zwei Tagen — mit einem der zwölf »Dreitürniks« ein Blatt Papier übersandte, auf dem stand: »Am Mittwoch«. Diese Mitteilung war vom Sekretär unterzeichnet und gestempelt, der dann auf dem persönlichen Karteiblatt des Dorfbewohners vermerkte, daß letzterer schriftlich verständigt worden war.
»Und diesen abnormalen Bürokraten habe ich zum Bürgermeister gemacht!« stöhnte Dulnikker leise mitten in der Notstandssitzung. Eben als er sich bereit machte, mit dem machtlüsternen Hassidoff zu streiten, betrat einer der Gemeindeboten die Ratskammer und überreichte dem Barbier einen Zettel.
»Meine Herren!« Hassidoff sprang auf. »Gurewitsch ersucht, daß wir sofort zu ihm kommen. Es ist anscheinend eine wichtige Angelegenheit, da er mir einen Brief schickt.«
Seit wann konnte der Schuhflicker schreiben? Der Staatsmann nahm dem Barbier den Zettel aus der Hand und sah eine primitive Zeichnung — ein Gekritzel in Form eines großen Schuhs, auf den kleine menschliche Figuren zuliefen, und drei große Ausrufungszeichen.
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Vor dem Haus des Schuhflickers hatte sich eine Menschenmenge versammelt und drängte sich an den Fenstern, um zu sehen, was drinnen vorging, aber nach den Gesichtern zu schließen, fiel es anscheinend allen schwer zu glauben, was sie sahen. Die Karawane der Dorfräte bahnte sich ihren Weg durch die Neugierigen, sie warfen einen Blick nach innen, und auch sie erstarrten verblüfft.
Was hatten sie gesehen? Mitten im Zimmer stand die kleine Dwora in einem weißen Kleid, neben sich den Krankenwärter in seinem üblichen Aufzug. Zev war etwas dicker geworden, und seine blauen Flecken waren größtenteils verschwunden. Vor den jungen Leuten stand Ja’akov Sfaradi, der etwas aus einem Gebetbuch las. Das Bild wäre unvollständig, ließe man den Schuhflicker aus: Er hatte sich neben der Tür aufgepflanzt, unter seinem Arm ragte der Lauf eines Jagdgewehrs hervor und war unverrückt auf den Krankenwärter gerichtet.
Nachdem sich die Dorfräte an der ungewöhnlichen Szene satt gesehen hatten, gingen sie um das Haus herum und rüttelten an der Tür, aber sie war versperrt. Ofer Kisch, der Neugierigste im Dorfrat, klopfte ungeduldig, und wenige Sekunden später wurde sie von Gurewitsch geöffnet.
»Entschuldigen Sie, meine Herren, daß ich Sie nicht persönlich zur Hochzeit eingeladen habe, aber es war unmöglich, die Zeremonie gerade in diesem Augenblick zu verlassen«, entschuldigte er sich, ohne die Augen von Zev zu wenden. »Der Krankenwärter hat sich endlich entschlossen, meine Tochter zu heiraten.«
Die Dorfräte drückten sich in das Zimmer und reihten sich an der Wand entlang auf. Trotz ihrer Einfachheit ging die Zeremonie sehr langsam vonstatten. Auf die Frage des Schächters, ob sie den Burschen Zev heiraten wolle, erwiderte Dwora mit einem klaren, überzeugenden »Ja«. Als jedoch die Frage dem Bräutigam gestellt wurde, hüllte er sich in ein sehr bedeutungsvolles Schweigen und senkte die Augen in hoffnungsloser Halsstarrigkeit, bis ein metallisches Klicken, das die Lösung des Sicherheitsschlosses anzeigte, ihn eindringlich an seine Pflicht erinnerte.
»Schön«, flüsterte der Sekretär und unterzeichnete das Dokument, das der Schächter ihm vorhielt, während sein Gesicht von der schicksalhaften Tat in Schweiß ausbrach. Bei der Unterzeichnung des Ehekontrakts applaudierte der Tierarzt stürmisch, während Gurewitsch senior, gelbsüchtig wie immer, sehr schwach »Masel tow« ausrief und seine Enkelin und ihren Gatten küßte. Gurewitsch junior sperrte das Sicherheitsschloß und versteckte das Gewehr hinter dem dreitürigen Kleiderschrank. Dann hinkte er zu seinem jungen Schwiegersohn, drückte ihm einen schmatzenden Kuß auf die Stirn, umarmte ihn mit seinen kräftigen Armen und verkündete so laut, daß selbst die Zuschauer draußen günstig beeindruckt waren:
»Wer immer Zemach Gurewitschs Tochter heiratete, heiratete keine Bettlerin! Ich werde meinem Schwiegersohn drei Dunam fruchtbaren Kümmelbodens überschreiben, sowie die Gemeindeverwaltung ihr Grundbuchamt eröffnet.« Nach der Verlautbarung des Schuhflickers, die fraglos ein Beweis seiner Gutherzigkeit war, beeilten sich alle Anwesenden, ihm zu dem freudigen Familienereignis zu gratulieren. Selbst der Barbier drückte ihm die Hand — ein Ereignis, das eine gesellschaftliche Sensation bedeutete.
Die kleine Dowra erblickte Dulnikker, drängte sich zu ihm durch und hängte sich an seinen Hals.
»Ich bin so glücklich, Herr Ingenieur!« jubelte die junge Frau. »Zuerst wollte Zev nichts vom Heiraten hören, aber heute versicherte ihm der Papa, daß er ihn wie einen Hund niederknallt, und da stimmte er zu. Ich habe doch immer gewußt, daß er mich liebt.«
Der Staatsmann streichelte ihr blondes Haar in väterlicher Zuneigung, während er unentwegt ein Auge auf seinen Sekretär hielt, der sich die allgemeine gute Laune zunutze machte und ins Nebenzimmer floh. Dulnikker folgte ihm auf dem Fuß und öffnete die Tür, bevor Zev sie versperren konnte. Einen kurzen Augenblick standen Staatsmann und Sekretär schweigend Aug in Aug, dann ließ Zev die Türklinke los, fiel mit dem Gesicht aufs Bett und begann mit seinen Füßen wild draufloszutrommeln.
Der Staatsmann legte ihm die Hand auf die bebenden Schultern.
»Fein«, sagte er, »fein.«
Zev schüttelte die Hand des Staatsmannes ab, stand auf und starrte seinen Herrn mißgünstig an:
»Glauben Sie, Dulnikker, daß ich mir diesen Zirkus gefallen lasse?«
»Ja, warum nicht? Der bäuerliche Lebensstil ist viel gesünder, Zev. Der landwirtschaftliche Sektor ist nicht von der übrigen Nation zu trennen, in der sich, wie bei einem Tausendfüßler, alle Teile gleichzeitig und harmonisch fortbewegen müssen. In den letzten Jahren haben sich viele Städter in entfernteren Siedlungen ansässig gemacht.«
»Dann machen Sie sich hier ansässig, Dulnikker!« zischte der Sekretär durch die Zähne. »Ich bin nicht bereit, mein Leben in diesem Spucknapf zu verbringen! Oh …«, der schwergeprüfte Jüngling brach wieder auf seinem Bett zusammen, »warum sind wir je hierhergekommen?«
»Warum fragst du das mich?« wütete der Staatsmann. »War ich es, der hierher kommen wollte?«
»Wer denn?« schrie der Sekretär. »Ich vielleicht?«
»Sicher, Zev, mein Junge! Geh nur und leugne, daß du mir unzählige Male gesagt hast, daß ein Mensch von Zeit zu Zeit zur Natur zurückkehren müsse!«
Der Sekretär kam auf ihn zu und zischte ihm ins Gesicht: »Lügen Sie nicht, Dulnikker!«
Der Staatsmann war verblüfft. Amitz Dulnikker — und lügen? Es hätte doch erst vor einem Augenblick gewesen sein können, daß sein Sekretär Wort für Wort gesagt hatte: »Es wird eine vollständige, heilsame Ruhe für Sie in diesem abgelegenen Dorf sein, ohne Presse, ohne Lärm.«
»Zev«, flüsterte Dulnikker traurig, bis in die Tiefen seiner Seele verwundet, »nimm zurück, was du gesagt hast!«
Der Sekretär hielt sein verzerrtes Gesicht, fast Nase an Nase, dicht vor Dulnikkers Gesicht, und wieder flüsterte er voller Wut:
»Schluß damit, Dulnikker. Sind Sie schon so senil, daß Sie glauben, ich brauche Ihre Unterweisung und Ihren Rat? Es ist genau umgekehrt! Wer schreibt Ihre rühmenswerten Reden? Wer quetscht — en gros — Ihre Leitartikel aus sich heraus? Wer sind Sie wirklich? Wieviel wissen Sie? Haben Sie denn überhaupt einen Beruf? Dulnikker lenkt siebzig Unternehmen, Dulnikker ist da und Dulnikker ist dort, Dulnikker stürzt, Dulnikker rennt und telefoniert und bemerkt und läßt fallen und erhebt und nimmt an jedem Tag an einem Dutzend Versammlungen teil, er ist der letzte Schiedsrichter — ohne daß er das geringste bißchen von dem Geschäft versteht, das er sich einbildet! Es ist wirklich komisch, wie die Dinge stehen! Zehntausende Narren studieren jahrelang ihren Beruf und üben ihn dann ihr ganzes Leben lang aus, nur damit am Ende der ehrenwerte Politiker daherkommt und alles Lob erntet — weil er eines kann, was man ihnen, all diesen armen Fachleuten, an ihren Universitäten und Berufsschulen nicht beigebracht hat: Er weiß, wie man über das redet, was sie, die anderen, tun! Ja, das ist es, worin Sie, Dulnikker, ein Fachmann sind! Reden, reden, reden wie eine Langspielplatte, Stunde um Stunde, wie ein Wasserhahn, der sich an seinem eigenen Tröpfeln besoffen hat! Dulnikker kämpft bis zum letzten Blutstropfen, ohne zu wissen, wie ein Gewehr ausschaut! Dulnikker schickt Tausende aus, um Wüsten zum Blühen zu bringen, während er selbst nicht einmal eine Topfpflanze je gegossen hat! Staatsmann! Amitz Dulnikker ein Staatsmann! Sie können ja nicht einmal normal reden. Ihre Zunge ist von Phrasen überwuchert, die Sie nicht einmal richtig anwenden können. Aber das hält Dulnikker natürlich nicht davon zurück, lächerliche Literaturpreise zu bekommen oder alle möglichen Kunstausstellungen zu eröffnen, und alles ist großartig, bis er sich zum Essen niedersetzt: Dann rennt jeder um sein liebes Leben. Sagen Sie mir, Dulnikker, bilden Sie sich wirklich ein, daß Sie normal sind? Haben Sie je bemerkt, daß Sie jeden Menschen im Plural anreden, weil Sie nicht mehr wissen, wie man mit Einzelmenschen redet, sondern nur, wie man Massen anspricht? Haben Sie eine Ahnung, wie oft Sie diesen idiotischen Witz erzählt haben, dessen Pointe ich nie verstanden habe? Jeder lacht Sie hinter Ihrem Rücken aus, Dulnikker, aber Sie, besoffen von Ihrer eigenen Größe, sind unfähig, die Heiterkeit zu merken, die Sie überall begleitet. Lassen Sie mich Ihnen sagen, warum Sie mich ›entdeckt‹ haben: Ich habe damals in unserer Zweigstelle eine Wette abgeschlossen, daß ich Sie mit den lächerlichsten Komplimenten begrüßen kann, und Sie — vor Stolz zerschmelzen. Ich kann mich bis zum heutigen Tage an diese absurden Titel erinnern: ›der Baumeister, der Former, der Avantgardist, das leuchtende Beispiel seiner Generation!‹ Ich würde noch jetzt in Gelächter ausbrechen, Dulnikker, wenn es nicht so traurig wäre. ›Der Verwirklicher, der Eroberer!‹ Und was sonst noch! Sie haben nur eines erobert, Dulnikker: Ihren Platz in der Partei, und selbst dort blockieren Sie den Weg für Männer, die jünger und begabter sind als Sie. Dulnikker kann man nicht beiseite schieben. Dulnikker sitzt noch immer auf demselben Sessel, auf den er durch Zufall vor dreißig Jahren gefallen ist, als wäre er mit Eisenbeton an ihn angeklebt …«
Der Sekretär spie die Worte heraus, als wären sie seit Jahren in ihm eingesperrt gewesen und plötzlich ausgebrochen. Sein Gesicht war blaßgrün, und sein ganzer Körper lehnte gekrümmt an der Wand. Er atmete und krächzte mit einem pfeifenden Stöhnen.
»Wann werden Sie endlich selbst sehen, Dulnikker, wie Sie wirklich sind? Wann werden Sie endlich die Tatsache erkennen, daß Ihre Zeit vorbei ist und nie wiederkehrt? Daß Sie heute nicht mehr als eine übergroße Seifenblase sind, aufgeblasen bis zum Platzen? Warten Sie darauf, bis Sie wirklich platzen?«
Damit brach der Sekretär auf dem Bett zusammen und warf sich in einem Lachkrampf quer darüber, der sich in leises Weinen verwandelte. Der Staatsmann hatte sich den tobenden Ausbruch mit düsterer Miene angehört, gemischt aus Entsetzen und Übelkeit. Aus irgendeinem Grund wurde sein Gesicht nicht rot, auch seine Stirnadern quollen nicht vor. Sein Gesicht schien eher eingesunken und unermeßlich alt zu sein. Er trat einen Schritt an das Bett heran und klammerte sich an dessen Gitter, um nicht hinzufallen.
»Zugegeben, daß ich heute eine zu stark aufgeblasene Seifenblase bin«, sagte er leise zitternd, »zugegeben, daß ich heute nicht mehr gebraucht werde, irgendein alter Narr, dessen Rücken dazu da ist, daß man hinter ihm lacht. Aber zu sagen, daß ich nie etwas Aufbauendes geleistet hätte? Daß ich nur schwätze? Wer hat dieses Land aufgebaut, wenn nicht die Dulnikkers?« Die Stimme des Staatsmannes brach, und Tränen stiegen ihm in die Augen. »Warum hast denn du, mein junger, praktischer Freund, warum hast du diesem Taugenichts von Altem so glatt geschmeichelt, daß du ihn vollständig getäuscht hast? Warum hast du seine Gunst gesucht? Nur um dich in der Partei hochzuarbeiten? Dann bist du, mein begabter, nützlicher Freund, schlimmer als so ein Träumer wie ich: Du hast einfach einen schwachen Charakter, weil du genau gewußt hast, daß du eine Komödie aufführst, Du, mein Freund Zev, wirst in einigen Jahren genauso sein wie der schmarotzende Mitläufer, den du mir eben beschrieben hast, mit dem winzigen Unterschied, daß er — dieser verrückte Amitz Dulnikker — seine Tage als ein armer Mann beenden wird, dessen Hände rein sind, während du, mein klardenkender Freund, ein niedriger, korrupter Heuchler sein wirst.«
Der Sekretär richtete sich auf seinem Bett auf, und seine Glieder begannen schrecklich zu zucken.
»Dulnikker, hören Sie auf!« kreischte er. »Halten Sie um Gottes willen den Mund! H-a-l-t!«
Dulnikker verließ das Zimmer und bahnte sich still seinen Weg durch die Hochzeitsgäste. Im Vorbeigehen bemerkte er zu Hermann Spiegel: »Mein lieber Tierarzt, mein Krankenwärter bedarf zusätzlicher Aufmerksamkeit.«