Eine Stimme vom Himmel

Der erste politische Krawall in Kimmelquell dauerte ungefähr zwei Stunden — so lange, wie müßige Bauern vorhanden waren. Viele Teilnehmer waren verletzt, aber nur zwei ernstlich: der Polizist — der sich in die Schlägerei eingemischt hatte, um ernste Zwischenfälle zu verhindern — und der Tierarzt, den ein Barbiernik auf den Schädel haute, weil er ihn irrtümlich für seinen Schwager, einen Schuhflickernik, gehalten hatte. Mischa wurde in sein Zimmer über dem Schankraum gebracht, wo er von der Gattin des vermißten Krankenwärters höchst erholsam gepflegt wurde, während Hermann Spiegel auf dem Schlachtfeld blieb und von der aufgebrachten Menge niedergetrampelt wurde. Als der Zusammenstoß vorbei war, verließen beide Gruppen den Kulturpalast als Sieger. Die Bauern, körperlich verwundet, zerstreuten sich unter gegenseitigen Drohungen, die über Nacht einen überraschenden Ausdruck auf den Hauswänden fanden:

KEINE FÜNFTE KOLONNE! schrieben entschlossene Hände. NIEDER MIT DER FÜNFTEN KOLONNE!

Natürlich führte das Projekt »Malt das Schlagwort des Tages« zu weiteren, wenn auch beschränkten Ausbrüchen von Feindseligkeiten zwischen den mit Kübel voll Tünche und einer Menge Farbe beladenen Mannschaften. Am nächsten Tag war die Atmosphäre schon so geladen, daß die unschuldigste Bemerkung über die in Frage stehende Säule genügte, um jedes gewöhnliche Gespräch zu zerstören. Die Bauern, die bisher eine überraschende Selbstbeherrschung bei Gewaltanwendungen an den Tag gelegt hatten, waren jetzt ebenso schnell bei der Hand, ihre festen Fäuste spielen zu lassen, so daß es schien, als verdoppelten sie sich automatisch, wann immer die Wörter »Kolonne« oder »Säule« auftauchten. Die Lage wurde so gespannt, daß die Friedliebenden und Apathischen unter den Dorfbewohnern aufhörten, die aufreizende Zahl »fünf« zu verwenden und statt dessen vorsichtigerweise »zwischen vier und sechs« sagten, um niemandem Ursache zu geben, böse auf sie zu werden. In der darauffolgenden Zeit war es ratsam, sich nicht ins Freie zu wagen, und an den meisten Häusern waren tatsächlich die Fensterläden geschlossen — die Frauen saßen angstvoll hinter versperrten Türen und sehnten sich nach dem Ende des Belagerungszustandes.

Salman Hassidoff war ständig nervös, und infolge seiner häufigen Gallenanfälle wurde sein Gesicht äußerst mager und verfallen.

»Vielleicht riskiere ich mein Leben, aber ich gebe bei dieser fünften Säule nicht nach!« pflegte er einem Kunden zu verkünden, während er sein Rasiermesser mit geradezu widerlichem Vergnügen schärfte. »Für andere Leute mag die fünfte Kolonne ein bloßer Pfosten sein, aber für mich ist sie ein Symbol!«

Daraufhin sprang die lauernde Klinge des Barbiers jeweils dem Kunden an die zugeschnürte Kehle, und er fragte:

»Was ist Ihre Meinung, meine Herren? Eine Schweinerei, was?«

Die Antwort lautete ausnahmslos bejahend.

Der Barbier informierte Dulnikker beim Mittagessen über den Ausgang der Versammlung.

»Kolonne fünf?« murmelte der Staatsmann — und dann wälzte er sich vor brüllendem Gelächter auf seinem Bett. »Ich sterbe vor Lachen! Salman, mein Freund … Kolonne fünf … fünfte Kolonne … fünfte Säule … einfach großartig …«

Die Flasche Rotwein, mit der sich Hassidoff Dulnikkers ewige Dankbarkeit erwarb, hatte ebenfalls ihren Anteil an der guten Laune des Staatsmannes, aber der Bürgermeister, der ihm mit saurem Gesicht gegenübersaß, überging diese Kleinigkeit.

»Ich sehe nicht ein, was da so komisch ist«, bemerkte der Barbier düster. »Es stimmt, ich habe kein einziges Wort in Ihrem Leitartikel verstanden, Ingenieur, aber ich möchte ums Leben gern wissen, warum da dieser Satz am Ende mit einer fünften Säule war! Der ganze Artikel erwähnte, glaube ich, vorher kein einziges Mal eine einzige Säule! Statt zu lachen, erklären Sie mir bitte vielleicht, worum das Ganze geht, ha? Wirklich, Dulnikker! Der Mensch wird doch noch wissen dürfen, wofür er eigentlich kämpft!«

»Man braucht nicht alles zu verstehen: Es genügt zu wissen, daß wir recht haben.« Der Staatsmann lachte und begann in neu aufwallender Fröhlichkeit, mit den Händen auf dem Kissen herumzudreschen, bis seine Hosenknöpfe unter dem Druck seines Bauchs, der in so wenigen Tagen gigantische Ausmaße angenommen hatte, in alle Richtungen davonflogen.

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Inzwischen waren bei Zemach Gurewitsch drüben fieberhafte Diskussionen über das notwendige Vorgehen im Gang, um die Komplotte des Barbiers abzuwehren. Eine Handvoll Loyalisten waren um die Person des Schuhflickers versammelt, unter ihnen der Brunnenwächter und Ofer Kisch. Der Schneider hatte sich erst vor wenigen Tagen dem Schuhflickerblock angeschlossen, hatte jedoch um Gurewitschs willen bereits Blut und Schweiß geopfert. Ofer Kischs ideologische Bekehrung zur Weltanschauung des Schuhflickers war völlig spontan erfolgt. Geschehen war folgendes: Sie trafen einander auf der Straße, der Schneider senkte die Augen und sagte:

»Ich weiß, Ingenieur Gurewitsch, daß Sie noch immer böse auf mich sind, weil ich das arme Kätzchen getötet habe, aber ich hätte gern eine Chance, um Ihnen zu beweisen, daß mein einziges Anliegen das öffentliche Wohl ist. Geben Sie mir nur eine winzige Gelegenheit, mein Vergehen gutzumachen.«

»Dazu gibt es nur einen Weg, Genossen«, erwiderte Ingenieur Gurewitsch, nachdem er die Sache eine Zeitlang erwogen hatte. »Kommen Sie mit allen Ihren ›Dreitürniks‹ auf meine Seite, und dann wollen wir weitersehen.«

»Danke. Sie sind wirklich gut zu mir, Gurewitsch«, sagte der Schneider. »Jetzt haben wir also nur die praktische Seite zu regeln …«

Nach einem verhältnismäßig reibungslosen Handeln kamen beide Seiten zu einer Vereinbarung: Der Schuhflicker versprach Kisch fünf Tnuva-Pfund pro Tag bis zum Wahltag, sowie zwei Paar Schuhe in vorzüglichem Zustand und einen sicheren Sitz im Ständigen Dorfrat. Da dieses übergeneröse Angebot beträchtlich besser war als das Angebot des Barbiers, schlossen beide Seiten einen ewigen Bund und unterzeichneten das Abkommen. In ihren Herzen.

Der Schneider arbeitete wirklich schwer, um die Aufrichtigkeit seiner Reue zu beweisen.

»Ingenieur Gurewitsch«, wandte er sich mitten in der fieberhaften Diskussion an seinen Führer, »was tun wir, wenn die Barbierniks losgehen und diese fünfte Säule bauen?«

»Was wir tun werden?« stöhnte der Schuhflicker, als ihn ein Hustenanfall fast erstickte. »Ich werde Ihnen sofort sagen, was wir tun, meine Herren!«

Gurewitsch langte in den Speiseschrank nach einer Flasche Wein, einem halben Brotlaib und Würsten, womit er in Richtung Hühnerstall verschwand, der hinter einer hohen Hecke hinten im Garten verborgen stand. Kurz nachher kehrte Gurewitsch mit leeren Händen zurück, schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie:

»Demonstration!«

Die Organisation der Aktion wurde Ofer Kisch übertragen — Zeugnis des großen Vertrauens, das sich der Schneider in den Augen des Schuhflickers erworben hatte. Den Anweisungen Gurewitschs folgend entwarf er sofort Schilder, auf denen in überdimensionalen Rosinesker Großbuchstaben stand:

HÄNDE WEG VON DER FÜNFTEN KOLONNE!

WIR DULDEN KEINE FÜNFTE KOLONNE!

DIE POCKEN ÜBER DIE FÜNFTE KOLONNE!

Dann versammelte der Schneider alle Brunnenkrieger unter seinem Fähnchen am Dorflagerhaus und gruppierte seine feiertäglich gewandeten Bauern zu jenen geordneten Reihen, die wütenden Demonstranten entsprechen. Hier traf Ofer auf den Widerstand der meisten Teilnehmer, sich zusammen mit den »Dreitürniks« aufzustellen, die automatisch mitgekommen waren. Die Bauern behaupteten, daß sie, die Steuerfreien, sich nicht mit den Unberührbaren vermischen würden, nicht nur, um ungeschriebener sozialer Gesetze willen, sondern auch, weil die »Dreitürniks« im Lauf der Zeit verarmt waren und ihre armselige Gewandung der Gelegenheit nicht angepaßt war. Dem Schneider gelang es jedoch, die heikle Situation unter Kontrolle zu halten. Er erklärte den Steuerfreien, daß die »Dreitürniks« zu dem einzigen Zweck mit eingesetzt wurden, um die schweren Schilderpfosten zu tragen; das sprach ihren Verstand und ihre Herzen an.

Bevor sich die höchst eindrucksvolle Prozession auf ihren Weg begab, schenkte der Schneider den Kämpfern etwas verbale Ermutigung.

»Wir haben absolut verläßliche Berichte«, begann er, »daß der kahle Barbier plant, jeden Augenblick den fünften Pfosten aufzustellen, trotz dagegenstehender Warnungen! Deshalb werden wir jetzt durch die Dorfstraße marschieren und diesen Schurken daran erinnern — durch den Krach, den wir beim Zertrümmern aller Fensterscheiben machen —, was für ein Schicksal Verräter erwartet! Außerdem: Ich fühle mich verpflichtet, meine Herren, Sie darauf hinzuweisen, daß dieser Protestmarsch etwas sehr Gefährliches ist. Wer Angst hat, soll hierbleiben, um die anderen nicht zu stören. Vorwärts, marsch!«

Zum Ruhm des Dorfes sei es gesagt, daß von der ganzen großen Menge nicht einer die Reihen im Stich ließ, mit Ausnahme des Schneiders, der neben dem Lagerhaus stehenblieb, um die Demonstranten nicht zu stören. Sein Blick folgte der Prozession von hier aus.

Der Massenaufmarsch begann sehr nett. Die Dörfler kamen aus den Häusern, erstaunt über die Gewaltigkeit des schönen Anblicks mehrerer Dutzend feierlicher Bauern, die in fast ordentlicher, aber äußerst steifer Haltung auf die Behausung des Barbiers zumarschierten und unter der Leitung des Brunnenwärters unaufhörlich brüllten:

»Nieder mit Fünf! Nieder mit dem kahlen Barbier, dem Säulenheiligen! Nieder mit dem Barbier Fünf!«

Die Stimmung der Demonstranten war wirklich gut, aber dem kahlen Barbier gelang es, rechtzeitig alle seine Fensterläden zu versperren und es damit unmöglich zu machen, was der interessanteste Teil des Protestmarsches zu werden versprach. Aber die Leute waren nicht bereit, so leicht aufzugeben, besonders nicht, solange ihnen die Worte des Schneiders über das Schicksal der Fensterscheiben noch in den Ohren klirrten. Als die Demonstration den Rand des Dorfes erreicht hatte, klaubten die Demonstranten Steine mittlerer Größe von der Straße auf und zerschmissen jede einzelne Fensterscheibe im Haus des Schuhflickers, um den kahlen Barbier daran zu erinnern, »was für ein Schicksal Verräter erwartet«.

Die stürmische Tat, so glorreich in ihrer Massenbarbarei, verfehlte nicht ihr Ziel. Der Barbier, der die ganze Zeit neben der Tür seines Ladens stand und alles durch die Spalten seiner Fensterläden mitangesehen hatte, flüsterte seiner Frau zu:

»Zum erstenmal dämmert mir, was hier vorgeht: sie glauben, daß ich eine fünfte Säule aufrichten will, wobei ich keine Ahnung habe, was ich mit den ersten vier machen soll! Ich sage dir, die sind alle geistig zurückgeblieben! Eine fünfte Säule! Wozu? Was für eine idiotische Idee, Madame!«

Um also keine Zeit zu verlieren, verließ der Bürgermeister seine Festung durch ein Loch in dem ausgebrannten Hinterflügel. Er schlich durch die Gärten zu dem Haus des Bauunternehmers, der einer seiner Anhänger war. Am Schluß ihrer Konferenz stahlen sich beide mitten in der Nacht zum Gemeindeamt, rückten die Schreibtische beiseite und errichteten in der Mitte des Fußbodens, genau mitten zwischen den vier Betonsäulen — eine Verschalung für einen fünften Pfosten, in die sie Zement gossen.

Neben der frischen fünften Säule schritt der Gemeindewächter mit einem riesigen Knüppel in der Hand auf und ab. Das setzte den Behauptungen ein für allemal ein Ende, daß der Wächter fürs Nichtstun bezahlt werde.

Am nächsten Morgen lief Salman Hassidoff heftigen Schritts zur Eisentür und tobte den Ingenieur an:

»Sagen Sie, Dulnikker, wozu füttere ich Sie eigentlich, wenn der hinkende Schuhflicker uns immer einen Schritt voraus ist?«

Das war richtig. Der Schuhflicker hatte wieder einmal eine lobenswerte Initiative gezeigt. Aus Ästen und Faserplatten hatte Gurewitsch einen kleinen Wagen gebaut, vor den er einen weißen Esel spannte. Mit dem fuhr er durch die Straßen, über sich ein großes Schild, und auf dem stand:

SCHAUT, ONKEL ZEMACH IST EIN LUSTIGER GESELL!

FAHRT MIT DEM KOMMENDEN BÜRGERMEISTER VON KIMMELQUELL!

Die Dorfjugend war hingerissen von diesem Unternehmen, besonders da das Vergnügen für sie kostenlos war. Die Fratzen standen Schlange an der Endstation des Eselkarrens und warteten, bis sie zu einer Runde in dem Karren drankamen. Außerdem sang ihnen der Kutscher — Ingenieur Gurewitsch — während der Fahrt sogar funkelnagelneue Kinderlieder vor (»Wo zum Teufel hat er die gelernt?«) und verteilte eine Menge Kaugummi. Es sickerte sogar durch, daß Mami und Papi ohne ihre Sprößlinge auftauchten und behaupteten, letztere seien »indisponiert«, und verlangten, daß ihnen der Schuhflicker sowohl die Kaugummi als auch »ein, zwei Runden« gewähre.

»Mein lieber Herr Ingenieur«, bat der Barbier verwirrt, »denken Sie sich etwas genauso Gutes aus — oder ich schwöre, ich ermorde Sie auf der Stelle, Dulnikker!«

»Habt ihr denn nicht ein eigenes Gefährt, Genossen?«

»Sie Genie! Wollen Sie, daß ich den hinkenden Schuhflicker nachäffe?«

»Einen Augenblick, meine Herren!« protestierte der Staatsmann. »Wie kann ich mich konzentrieren, wenn Sie unaufhörlich schwätzen?« Dulnikker leerte ein Glas Wein, und die Räder seines Elektronenhirns begannen knirschend herumzuwirbeln. Etwas später strahlte sein rundes Gesicht auf, und er spuckte heraus:

»Ich hab’s! Ein Karussell!«

»Nu, sehn’ Se, es gelingt Ihnen ja, wenn Se’s wirklich versuchen!« jubelte der Barbier und reichte seinem Mentor ein Päckchen Keks. Plötzlich verschwand die Freude aus seinem Gesicht. »Es ist großartig, stimmt, aber ich hab’ kein Geld mehr, Dulnikker. Das Schatzamt des Dorfes ist vollkommen leer, und meine Ersparnisse hab ich für alles mögliche sonst verbraucht.«

»Mein Beileid, meine Herren«, erwiderte Dulnikker kalt. »Wer keine Mittel hat, ist viel besser dran, er bleibt außerhalb der politischen Arena.«

Das Karussell wurde doch errichtet, mitten auf der Straße genau gegenüber dem Wirtshaus. Es bestand aus einem einzigen hohen in den Boden gerammten Mast mit fünf(!) rohen Bänkchen, die auf kleinen Holzrädern um den Mast liefen. Ein riesiges, an die Mastspitze genageltes Schild lautete:

DREHT EUCH SICHER RUNDHERUM,

ONKEL SALMAN BLEIBT BESTIMMT BÜRGERMEISTER!

Reimen war nie die starke Seite Dulnikkers. Aber das Herumdrehen war wirklich gesichert, da »Dreitürniks« verwendet wurden, um die mit jubelnden Fratzen beladenen Bänke zu schieben. Der Barbier hatte diese technische Einzelheit durch die üblichen Kanäle — den Gemeindesekretär — organisiert, der den zehn »Dreitürniks« (einer starb und wurde bedauernd von Steueraufseher Ofer Kisch begraben) einen offiziellen, schriftlichen Befehl dahingehend übersandte, daß die Adressaten über Dorfratsbeschluß verpflichtet waren, das Karussell zwei Tage lang in der Richtung der Zeiger an der Armbanduhr des Bürgermeisters zu schieben. Dementsprechend wurde die Dorfstraße zum echten Entzücken der örtlichen Jugend zu einer Art Vergnügungspark, obwohl sie häufig mit den Erwachsenen zu ringen hatten, die sich aller Sitze auf den Bänken bemächtigten und trotz der Regenschauer ein fröhliches Wildwestgeheul losließen, um die jeweiligen »Dreitürniks vom Dienst« zu größerer Eile anzuspornen.

Die gute Laune der Bürger führte zu einer Erhöhung der Nachfrage nach starkem Schnaps, und seltsamerweise kaufte auch der Barbier einige Flaschen Wein. Elifas Hermanowitsch war jedoch mit dem Ansteigen seines Geschäfts nicht zufrieden. Das nerventötende Kreischen des Karussells drang ihm wie Dolche in die Ohren, bis der Wirt eines Tages zur Gartentür vor seinem weißen Haus hinaustrat und die fröhlich Tobenden anschrie:

»Das macht euch Freude, was? Ein Zirkus! Aber ich werde euch kein Karussell bauen, ich werde keine Eselskutsche bauen. Von mir bekommt ihr keinen einzigen Heller, um mich in den Dorfrat zu wählen!«

»Ei, nett«, erwiderten die Leute. »Was also wollen Sie eigentlich von uns?«

Sie überließen den Wirt seiner Trübsal und strebten dem anderen Ende des Dorfes zu, um zu sehen, welche Fortschritte das Brunnenbohren machte. Das war eine weitere »glänzende Idee von dem hinkenden Schuhflicker, hol ihn der Teufel«! In einer der Pausen der Winterregenfälle erschien eine Mannschaft von Arbeitern und stellte einen riesigen leiterähnlichen Bau neben der Straße auf, die zu den Weiden führte. Neben dieser Anlage stand das allgegenwärtige Schild, das in diesem Fall lautete:

DER DORFBRUNNEN ZEMACH GUREWITSCH

Die Versuchsbohrung begann diesen Mittwoch, da der Bürgermeister de facto emeritus, der kahle Herr S. Hassidoff, sündhafterweise die öffentlichen Bauten vernachlässigte und das Dorf zum Tode durch Verdursten verurteilte!

Nieder mit dem Säulenbarbier!

Nieder mit der fünften Säule!

Nieder mit der 5!

Auch die Bohrarbeiten waren sehenswert. Auf dem leiterähnlichen Gerüst standen zwei mächtige Bauern, deren kräftige Hammerschläge auf einen langen Mast niederfielen, dessen eines Ende scharf gespitzt war. Da sich jeder Versuch als fruchtlos erwies und der gesegnete Wasserstrahl aus den Tiefen der Erde nicht hervorbrach, entfernten die Bohrenden den Pfosten, schleppten das Gestell einige Schritte weiter und begannen mit einer Ausdauer und Geduld ohnegleichen erneut mit ihrer Versuchsbohrung. Salman Hassidoff wanderte verbissen zum Bohrfeld hinaus, von Pfeilen geleitet, die, an Pfosten genagelt, alle Interessierten die ganze Straße entlang bis zum Bohrfeld wiesen:

ZUM ZEMACH-GUREWITSCH-BRUNNEN,

TASSEN SIND MITZUBRINGEN!

Nach dem Besuch des Barbiers bei den Bohrern erlitt Dulnikkers Speisekarte ernstliche Einschränkungen. Hassidoff informierte ihn während eines neuen Gallenanfalls, daß er ihm solange nicht einmal einen Löffel kalter Suppe geben würde, so lange der Schuhflicker aus Mangel an Konkurrenz so glorreich vorwärtsschritte.

»Als ich dort war, waren sie noch nicht auf Wasser gestoßen, aber ich hatte den Eindruck, daß sie jeden Augenblick das Wasserniveau erreichen konnten«, jammerte der Barbier, als er sich an seine Frau lehnte, um nicht in Ohnmacht zu fallen. »Wenn wir ihnen nicht etwas Außergewöhnliches bieten können, sind wir verloren, Dulnikker!«

»Hören Sie, mein Freund Salman, vielleicht möchten Sie auch einen Brunnen bohren?«

»Genie! Warum habe ich ihn dann mein ganzes Leben lang bekämpft?«

»Herr Ingenieur!« Frau Hassidoff fiel plötzlich vor dem Staatsmann in die Knie: »Geben Sie uns Elektrizität!«

Dulnikker schälte das schamlose Frauenzimmer von sich ab und wartete etwas, um den Barbier für seine »impertinente Sprache« zu strafen. Die Hassidoffs lagen ihm buchstäblich zu Füßen, und ihre flammenden Augen blickten in stummem Flehen zu dem Staatsmann auf.

»Schön«, verkündete Dulnikker leutselig. »Es besteht kein Grund, warum ich Joskele Treibitsch nicht ein paar Zeilen schreiben könnte. Innerhalb einer Woche werden Sie die Masten hier haben.«

»Was für Masten?«

»Für die Elektrizität …«

Der Barbier und seine Frau tanzten vor unbeschreiblicher Freude. Dutzende von Jahren hatte das Dorf die Regierungsämter mit Ansuchen um Strom bombardiert, die unbeachtet geblieben waren. Der Staatsmann riß die Vorderseite eines Zigarettenpäckchens ab und kritzelte mit Bleistift darauf:

»Joskele, ich bitte Dich, so bald wie möglich ein Stromnetz für Kimmelquell zu errichten. Grüße an Schula. Dein …«

»Bitte geben Sie uns die Adresse, lieber Herr Ingenieur, und ich schicke es sofort noch heute mit dem Nachmittags-Lastwagen der Tnuva ab.«

»Eine Sekunde!« Dulnikker rieb sich die Nase. »Bevor ich diesen Brief unterzeichne, will ich eine feste Verpflichtung Ihrerseits hinsichtlich meiner Mahlzeiten haben. Also: Gekochtes Kalbfleisch, rohen Blumenkohl und Karotten, Rettich, Kuchen und schließlich, aber weit entfernt von endlich, roten Tokayer! Außerdem will ich einen Heizofen haben, weil mich die Kälte ärgert und ich nicht mit einer Verkühlung heimzukehren wünsche, wenn die Wahlen endlich vorbei sind.«

»Bitte, unser lieber Ingenieur, ein Wort genügt«, erwiderte Hassidoff honigsüß.

Als er hinausging, hob er die Hand und sagte: »Fünfte Kolonne!« — nunmehr sein üblicher Gruß.

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Die Dinge gingen weiter wie gewohnt.

Eines Morgens fand man den Gemeindeamtswächter in einem Tümpel seines eigenen Blutes liegen, und die Bruchstücke der fünften Säule lagen rings um ihn verstreut. Diese niedrige Provokation veranlaßte die »Kolonniks« zu einer blitzartigen Antwort. Keine halbe Stunde nach der Entdeckung der barbarischen Zerstörung leerte der Barbier einen Sack Zement auf einen der Schreibtische aus. Unverzüglich wurde die fünfte Säule in der Mitte des Büros gegossen. Außerdem wurde sie breiter und höher als die ursprüngliche errichtet, um der Öffentlichkeit zu zeigen, daß Gewaltanwendung den Glauben der »Kolonniks« an die soziale Gerechtigkeit nur erhöht hatte.

Diesmal setzte der Barbier eine Wache von drei muskulösen Männern um die nasse Betonsäule ein. Aber noch in derselben Nacht überwältigte eine organisierte stärkere Macht eine Handvoll Loyalisten, die nach einer verhältnismäßig kurzen Knüppel- und Taschenmesserschlacht davonliefen. Darauf zerlegten die Rohlinge die Holzform und die frischgegossene Säule, sie quoll heraus und warf sämtliche Büromöbel um.

Am Morgen war die Verschalung wieder aufgebaut und die fünfte Säule neuerlich gegossen worden. In dieser Nacht hielten zehn »Barbierniks«, mit Hacken bewaffnete Bauern, die Wache. Sie versuchten ihre frierenden Glieder an einem Feuer zu wärmen, das mit Karteikarten genährt wurde, aber der Regen, der in Abständen fiel und wieder aufhörte, löschte es von Zeit zu Zeit.

Zum Glück der Säule vollzogen sich Veränderungen, die den Brennpunkt des Kampfes in ein völlig neues Zentrum verlagerten. In der Morgendämmerung schlitterte der Tnuva-Lastwagen vor den Hof des Barbiers. Unter dem Drohen eines nahenden Gewitters wurde eine große Kiste abgeladen und in Hassidoffs Haus getragen. Der Barbier war äußerst aufgeregt, als er die Kiste aufbrach und mit Hilfe des Chauffeurs die neue Geheimwaffe herauszog.

Es war ein kleiner Generator, der von einem Kerosin-Motor betrieben wurde, und er war durch ein Drähtegewirr mit einem Holzkasten verbunden, aus dem weitere mehrfarbige Drähte herausführten.

Salman Hassidoff hob die Flasche roten Tokayers hoch, die er als Lohn eigens für diese Gelegenheit gekauft hatte, und rannte — hustend vor Freude — zum Ende des Kuhstalls.

»Herr Ingenieur, mein geliebter Freund«, er umarmte den Staatsmann herzlich, »der Lautsprecher oder wie immer Sie das nennen, ist soeben eingetroffen!«

Dulnikker spürte, wie sich sein Herz hob, als wäre eben ein großartiger alter Freund auf Besuch herübergekommen. Ein echter Lautsprecher! Lieber Himmel! Seit mehr als drei Monaten hatte er kein Mikrofon mehr in Händen gehalten. Der bloße Gedanke daran genügte, um den Staatsmann trunken zu machen. Aber auf alle Fälle trank er auch einen Schluck Tokayer, nur um sicherzugehen.

»Laßt mich versuchen, Genossen!« bat er den Barbier innig.

»Wo ist er?«

»In meinem Haus.« Hassidoff wurde ernst. »Dulnikker, Sie dürfen unter keinen Umständen hier heraus. Aber ich glaube, die Drähte sind lang genug …«

Der Barbier ließ seinen Wohltäter einen Augenblick allein und rannte zu seinen Kumpanen zurück. Er bezahlte den Chauffeur teils in bar, teils mit der Armbanduhr, die er sich nachdenklich vom Handgelenk streifte. Die Mannschaft hob den Motor auf einen Tisch im Nebenzimmer und füllte seinen Tank mit Kerosin. Der Motor begann lärmend zu rattern, so daß jeder Gegenstand im Zimmer klapperte, und spuckte dicken Rauch aus. Aber der Barbier und seine Frau husteten weiter, trunken vor Freude. Dann bat Hassidoff den Chauffeur, »das Dingsda, in das man hineinredet«, zu montieren, und letzterer begab sich daran, die elektrischen Drähte mit dem Generator zu verbinden. Es dauerte lange, bis er die nötigen Verbindungen hergestellt hatte, aber als er fertig war, rannte Hassidoff sofort mit dem Mikrofon in den Kuhstall, den langen Draht hinter sich herziehend.

Dulnikker, krank vor freudiger Erwartung, war es inzwischen gelungen, die Flasche leerzutrinken. Das Klappern des Motors schien ihm mit seinen Herzschlägen identisch zu sein. Der Staatsmann riß dem Barbier das geliebte Instrument aus der Hand und küßte es fast. Dann räusperte er sich mehrmals, bekam einen leichten Schluckauf und sprach mit seligem Lächeln ins Mikrofon.

»Probe«, hörte man seine Donnerstimme im Freien, »eins, zwei drei, vier. Es funktioniert!«

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Die Kimmelqueller wurden Zeugen eines übernatürlichen Ereignisses, das den Juden Tausende Jahre verwehrt geblieben war:

Mit eigenen Ohren hörten sie die Stimmen vom Himmel.

Das begab sich an einem regnerischen, düsteren, ungewöhnlich schwülen Tag. Die Winterstürme hatten das Dorf zum erstenmal mit voller Stärke getroffen. Der Donner rollte und grollte, und Blitze durchtränkten die winzigen Häuser mit blendendem Licht. Mit Ausnahme der Gruppe, welche die Säule bewachte, war alles daheim und blickte mißmutig aus den Fenstern in den Regen hinaus. Diejenigen, die zu übersinnlichen Wahrnehmungen neigten, spürten etwas in der Luft, und tatsächlich erhob sich am Morgen eine Stimme, die zwischen den Häusern widerhallte — eine lärmende, stürmische Stimme, keiner irdischen gleich, die von oben und aus allen Richtungen zugleich kam, mitten unter einem seltsamen Pfeifen und Quietschen — als sei der Tag des Jüngsten Gerichts ins Dorf gekommen.

»Eins, zwei, drei, vier«, sprach die Stimme vom Himmel mit einer Spur slawischen Akzents, »eins, zwei, drei, vier. Es funktioniert! — Stimmt für meinen Freund Salman! Der Schuster ist unaussprechlich impertinent! Möge die fünfte Säule ewig stehen! Funktioniert tadellos, was? Also wie wär’s, meine Herren, ich verdiene doch noch ein Glas, wie?« So dröhnte die Stimme an jenem düsteren Morgen, begleitet von einem Donnerschlag, der die Herzen erbeben ließ. Die Dorfbewohner waren durch die Gewalt ihres gruseligen Erlebnisses höchst nervös. Ein frommes Erzittern schickte auch den letzten von ihnen zu seinem Kleiderschrank, um den Hut aufzusetzen und seinen schändlich verstaubten Psalter hervorzuholen. Die Türen sprangen auf, und die Bauern stapften durch den Regenguß zum Haus des Schächters.

»Narren«, sprach plötzlich die Stimme, anscheinend von noch höher herab, »warum rennt ihr zum Schächter? Dreimal hoch für den Barbier!«

Die Männer blieben verwirrt und wie angewurzelt stehen und traten unglaublich benommen in dem tiefen Schlamm hin und her. Endlich entdeckten sie, daß die erstaunlichen Klänge nicht von oben, sondern unklar aus dem Kästchen in Hassidoffs Fenster kamen. Gleichzeitig drang aus dem Barbierhaus ein Knattern, ähnlich wie das des Tnuva-Lastwagenmotors. Diese Entdeckungen änderten ihren ersten Eindruck entscheidend, der weiter modifiziert wurde, als der Kasten losbrach — diesmal in einer tiefen, von einem Schluckauf unterbrochenen Stimme:

»Hört, Genossen, hört! Der Barbierblock ist euer ureigenster Block. Ihr werdet es nie bedauern, wenn ihr für den Barbier stimmt! Genug von der Herrschaft des Schusters! Stimmt für meinen Freund Salman! Der Barbier liebt nur sein Dorf, aber der Schuster hat seine Seele dem Teufel verkauft!«

»Weiter, Herr Chefingenieur, unser Engel«, baten die Hassidoffs ihren Fürsprecher mit einer Glut, die an geistige Umnachtung herankam. »Sie sind wundervoll, Sie sind wunderschön, Sie sind phantastisch, Herr Chefingenieur! Weiter, bitte, es ist egal, was Sie sagen, nur hören Sie jetzt nicht auf, keine Minute lang! Ich schwöre, ich bringe Sie auf der Stelle um, wenn Sie es tun, bitte, reden Sie weiter, lieber Herr Chefingenieur …«

Frau Hassidoff goß dem Staatsmann noch ein Glas von der roten Flüssigkeit ein, während der Barbier zwischen der Zelle und seinem Zimmer hin und her rannte, um durch das Fenster die hingerissene Menge zu beobachten. Dulnikker strengte sein Elektronenhirn an, um sich ehemaliger Schlagworte zu entsinnen, und sie flatterten in primitiver Unordnung durch den Alkoholnebel:

»Hört, Genossen, hört mich! Kommt her, kommt alle her! Der Schuster hat die Inflation herbeigeführt. Er hat den Schwarzmarkt die Nation ruinieren lassen! Der Barbier ist der Vater seines Dorfes. Ehre deinen Vater, und du sollst alt werden! Der Barbier stellt Aufbau und Absorption dar, Freiheit und Fortschritt, Unabhängigkeit und Frieden — der Schuster ist rein gar nichts. Lang lebe die fünfte Kolonne! Oif Kalts blust men nischt! Der Schuster hat einen Handel mit der Bourgeoisie abgeschlossen! Stimmt für die Fünf! Hassidoff wird regieren! Noch? Schön. Trennung zwischen dem Schächter und dem Staat! Nieder mit dem religiösen Zwang! Der Barbier bedeutet einen Lebensstandard, der Schuster ist wie Shimshon Groidiss! Dreimal hoch für Salman! Dreimal hoch für die Fünf! Dreimal hoch für die Tausendfüßler! Hört! Hört! Eine wichtige Meldung! Eine wichtige Ankündigung …«

Hier schwieg die Stimme kurz, und dann sagte sie plötzlich schnell:

»Hier spricht der Ingenieur«, donnerte der Fensterkasten, »der Barbier hat mich im Kuhstall eingesperrt. Er will, daß ich — Hilfe!«

Es folgte ein etwas unzusammenhängendes Grunzen, und dann kam ein Lärm, als würden Löwen abgeschlachtet, gemischt mit Explosionen. Plötzlich erstarb der Krach, und dieselbe laute Stimme war wieder im Äther und donnerte schnell und schwer atmend:

»Stimmt für den Barbier! Jedermann ist für den Barbier! Lang lebe der Barbier! Kolonne fünf! Funkstille!«

Es war wirklich eine ungewöhnliche Begebenheit. Die Bauern, bis auf die Haut naß und zitternd vor Kälte, warteten noch ein Weilchen, aber da der Wunderkasten des Barbiers Ruhe gab, kehrten sie alle heim und legten ihre Psalten wieder in die Rumpelkammer. Die zwei, drei Stunden nach dem übernatürlichen Ereignis waren die letzte Zeitspanne der Stille in der Geschichte des Dorfes.

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Salman Hassidoffs absolute Herrschaft über die Ätherwellen des Dorfes dauerte nur eineinhalb Tage, obwohl der Barbier seinen Vorsprung voll ausnützte. Seine Alleinherrschaft kam an einem verhältnismäßig angenehmen Nachmittag zu Ende, als die Dorfbewohner alle daheim waren, noch immer geschockt von der Heftigkeit der Wahlrundfunksendungen.

»Stimmt für mich, und ihr werdet mir für diesen Rat danken!« funkte Hassidoff selbst. »Stimmt für die Fünf, den Säulenblock! Ein kleiner Grund, bitte sehr: In den nächsten Tagen wird dank unserem Bürgermeister die Elektrizität unser Dorf erreichen! Ich halte euch nicht mit leeren Versprechungen hin. Ich werde euch eine Menge Elektrizität geben! Nur ein toll gewordener, zurückgebliebener Dummkopf würde für den hinkenden Schuster stimmen! Wir sind alle für den segensreichen Barbier, der uns Elektrizität gegeben hat!«

Und da geschah es.

»Das ist eine Riesenlüge!« brüllte eine nicht weniger himmlische Stimme als die des Barbiers — obwohl tiefer und kränker — aus dem zerbrochenen Fenster des Schuhflickers, begleitet von Anfällen durchdringenden Hustens. »Wir bekommen Strom von dem kahlen Barbier an dem Tag, an dem uns Haare auf den Handflächen wachsen! Es ist alles nur Stimmenbetrug! Die Brunnenbohrung in meinem Namen schreitet trotz der Regenfälle rapide fort. Die Löcher sind bereits voll Wasser! Stimmt für den Schuhflickerblock, den Wasserblock, eure Rettungsleine! Nieder mit den Kolonnen! Nieder mit der Fünf!«

Und so weiter. Die Station des Barbiers wurde so erstaunlich still wie ein Papagei, dem man soeben die Gurgel durchgeschnitten hat, und Hassidoff kam mit zitternden Knien zu Dulnikker gerannt, obwohl er ihm seit dem Versuch des »undankbaren Alten«, das Mikrofon zu benützen, um freizukommen, keinen Bissen Essen mehr erlaubt hatte.

»Lieber Herr Ingenieur«, der Bürgermeister brach in Stöhnen aus, »sie haben auch einen bekommen! Verdammte Diebe! Was tun wir jetzt, bitte?«

»Was wollen Sie von meinem Leben?« flüsterte Dulnikker, der gebrochen auf seinem Bett lag. »Laßt mich in Frieden verhungern, meine Herren!«

»Weib!« brüllte Salman. »Schlachte sofort eine Kuh!«

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Das war jener Tag, an dem alle Vögel aus der Umgebung von Kimmelquell verschwanden.

Zuerst widerstanden die Vögel dem gegenseitigen verbalen Gedonner. Als es jedoch offenkundig wurde, daß sich die Stürme des Himmels wirklich gelegt hatten, das dörfliche Getöse jedoch niemals enden würde, flogen die Vögel in weniger lärmende Regionen. Wie man sagen könnte, »die Situation war kritisch«. Während der verhältnismäßig friedlichen Periode, als nur der Barbier sendete, vergingen die Nächte in einem Anschein von Schlaf. Jetzt aber warfen sich die unglücklichen Dorfbewohner auf ihren Betten herum, überzeugt, daß sie um Mitternacht von Zemach Gurewitschs heiserem Husten aus ihnen hinausgeschleudert würden, und dann würde eine Ansprache folgender Art folgen:

»Jetzt bist du also still, du häßlicher Affe? Jetzt hast du nichts mehr zu bellen, was?«

»Halt den Mund, du lepröses, hinkendes Schwein!« Hassidoff ließ die Fensterscheiben erzittern: »Stimmt für Block fünf!«

Das Problem wurde durch den unaufhörlichen Regenguß erschwert, der die Dorfbewohner davon abhielt, den Vögeln vorübergehend in den Schutz der Wälder zu folgen. Auf jeden Fall wurden jedoch die Häuser neben den beiden einander gegenüberliegenden Rundfunkstationen schleunigst von ihren Bewohnern geräumt, die bis nach den Wahlen zu Verwandten oder gütigen Mitbürgern zogen. Aber selbst diese paar Unglücklichen bezogen nur kurzlebige Vorteile aus ihrer Flucht. Zwei Tage vor »dem Tag« trat eine leichte Wetterbesserung ein, die Sonne lächelte hinter den Wolken hervor, und plötzlich tauchte der Schuhflicker in der Dorfstraße auf. Er saß in seinem Karren, von seinem ganz weißen Esel gezogen, während hinter ihm die kleine Kerosinmaschine fröhlich und getreulich knatterte, und er selbst sich das »Dingsda« vor den Mund hielt und im Fahren mächtig hineindonnerte. Nicht nur, daß der Schuster Jiddisch sprach — ein Präzedenzfall, den in den vielen letzten Jahren noch niemand zu setzen gewagt hatte —, es gelang ihm auch, die Substanz seiner Worte dem beweglichen Charakter seiner Rednerbühne anzupassen:

»Hört! Hört! Alle ihr Bewohner am Stadtrand! Der Schuster schützt eure Interessen gegen den kahlen Barbier, dessen luxuriöses Heim sich immer mehr zur Stadtmitte ausbreitet! Es wird keine fünfte Säule in Kimmelquell geben! Der Schuster als Bürgermeister! Hört! Hört! Ihr, die ihr am Stadtrand wohnt! Der Schuhflicker ist …«

Die Dorfbewohner wurden des endlosen Lärms so müde, daß sie den Mut aufbrachten und beschlossen, die Trommelfellattentäter zum Schweigen zu bringen. Als sie sich jedoch den Rundfunkstationen näherten, wurden sie mit einem derart schweren Trommelfeuer von Schlagzeilen bombardiert, daß selbst die mutigsten Angreifer vor dem Gedonner um ihr Leben rannten. Jetzt, da der Schuhflicker die Reichweite seiner Sendungen bis an den »Stadtrand« erweitert hatte, packten die Flüchtlinge ihre Siebensachen und schlichen in ihre Häuser in der Dorfmitte zurück, wo sie jetzt denjenigen Zuflucht boten, die bisher ihre Gastgeber gewesen waren.

Mitten in der fahrenden Rundfunksendung kam eine plötzliche Wendung zum Besseren, die den Bürgern Erlösung versprach: Der ganz weiße Esel wurde von dem ohrenbetäubenden Krach wahnsinnig, das friedliche Tier begann durchzugehen und jagte dabei mit dem hin und her schlenkernden Karren außer Hörweite. Die Erleichterung, die sich dank der Rebellion des Esels über das Dorf zu senken begann, war verfrüht. Eine halbe Stunde später war der Karren wieder auf der Straße, die Ohren des Esels mit Watte verstopft und um sie ein breites Halstuch gewunden, um die Leiden des armen Tieres zu erleichtern. Der Schuhflicker selbst brauchte keine Ohrenstöpsel, weil sein Gehör in den letzten paar Tagen sowieso gelitten hatte.

»Ihr, die ihr in den letzten drei Häusern rechts lebt, zu euch spreche ich!« Gurewitsch teilte das Lager der Wähler mit erstaunlichem Instinkt auf. »Was wollt ihr: Süßwasser oder eine mistige fünfte Säule? Der Schuhflicker bringt euch Vorteile. Der Barbier ist kahl und bankrott!«

Die bewegliche Rundfunkbude arbeitete nur kurze Zeit ungestört. Danach konnte man eine große Geschäftigkeit im Hof des Barbiers bemerken — oder sie aus der seltsamen Stille seines Rundfunkkastens erraten. Seine alternde Eselin kam, vom Bürgermeister persönlich kutschiert, aus dem Hoftor, folgte dem Karren des Schuhflickers und zog die ganze notwendige Apparatur — einschließlich der Frau Hassidoff, die auf dem Wagen stand und in titanischer Wut in dem hartnäckigen Rosenesker Dialekt kreischte:

»Ihr, die ihr in den letzten drei Häusern rechts wohnt! Vergeßt ganz schnell, was der hinkende Schuhflicker keift! Der Barbier verschafft euch Elektrizität! Lange lebe Salman Hassidoff und seine Fünfer!«

Wie jede Massenpropaganda, verlangte auch dieses Unternehmen einzelne Opfer von der Menge. Als die zwei Rundfunkkarren einander so nahe kamen, daß der Barbier den ganz weißen Esel auf den Kopf schlagen konnte, lief plötzlich eine Frau aus einem Haus. Sie stopfte sich die Finger in die Ohren und schrie: »Genug! Genug!« Und stolpernd lief das unglückliche Weib durch die Straße auf das Haus des Tierarztes zu.

»Renne nicht, Bilha«, hustete der Kasten des Schuhflickers, »kümmer dich nicht um das Jajern der kahlen Barbierin! Ich verspreche dir, kleine Bilha, es wird mindestens zehn Jahre lang keine fünfte Säule geben! Hörst du mich nicht, Bilha?«

Anscheinend hatte Bilha den Lautsprecher des Schuhflickers ganz gut gehört, denn es war deutlich zu merken, daß sie noch schneller zu rennen begann. Gerade da knallte der Barbier mit seiner Peitsche und eilte ihr nach.

»Höre ja nie auf einen hinkenden Schuhflicker, kleine Bilha!« verkündete Frau Hassidoff. »Alle Frauen in Wehen in diesem Dorf stimmen für die Fünf! Der Barbier ist der beste Freund der schwangeren Damen! Gib dem Barbier die Mehrheit!«

»Lache herzlich, Bilha, lache!« Der Schuhflicker näherte sich von der anderen Seite und verstärkte die Lautstärke an seinem Kasten. »Wage ja nicht, für den kahlen Barbier zu stimmen, sonst bekommst du Fünflinge! Dein Block ist der Brunnenblock! Verstanden, Bilha?«

Es war die erste Frühgeburt, die sich mitten auf der Straße von Kimmelquell ereignen sollte.

___________

Das Glück lächelte dem Dorf zu, und das Gewitter, das der Nordwind hereinblies, fegte die beiden Kampfwagen von der Straße. Die Krieger kehrten in ihre Häuser zurück, von denen aus sie die Schlacht mit stationärem Gedonner weiterführten. Noch nie war soviel Regen auf das Dorf heruntergefallen, aber es kann auch die Stärke des Lärms gewesen sein, die das so erscheinen ließ.

Der Tnuva-Chauffeur sprang mitten in den Wolkenbrüchen aus dem Lastwagen und eilte in Hassidoffs Haus. Sein schwerer Regenmantel schützte ihn kaum. In solchen Zeiten war der Chauffeur sehr glücklich, daß er die Tnuva verlassen und sich einen eigenen Lastwagen gekauft hatte, da sich der alte von der Tnuva in einem solchen Schlamm nicht von der Stelle gerührt hätte.

»Kolonne Fünf!« begrüßte der Chauffeur den Barbier, als er ihm das funkelnagelneue Jagdgewehr mit Munition überreichte. Im Tausch gegen die Bewaffnung gab ihm Hassidoff zwei schwarze Anzüge und den Haarschneideapparat. Der Chauffeur eilte sofort hinaus, um das Zeug in die Fahrerkabine zu stopfen, denn er hatte es eilig, zum Schuhflicker hinüberzukommen. Bevor er ging, fügte er jedoch hinzu: »Ich glaube, der Wadi ist voll Wasser. Glauben Sie nicht, daß ihr die Dämme überprüfen solltet?«

»Natürlich sollten wir das, Genossen! Wir kümmern uns sofort darum!« erwiderte der Barbier brüllend, denn er und seine Frau waren fast taub. Er bat sein Heldenweib, den Kerosin-Motor aufzuwärmen. Nunmehr war Salman Hassidoff einem Galeerensklaven ähnlich geworden, der unter der Peitsche den Erschöpfungszustand erreicht hat und die Ruder nur noch mit einer automatischen Reflexbewegung handhabt. Das ehemals massive Männchen war zu einem Schatten seines früheren Ich geworden, sein Gesicht eingesunken und grünlich infolge seiner häufigen Gallenanfälle. Kam hinzu, daß der Wahltag vor zwei Tagen gekommen und wieder gegangen war, ohne die Spur von einer Wahl.

Der Barbier nahm das Mikrofon auf und begann mit schwacher Stimme zu senden:

»Hört! Hört! Hier spricht die Fünf! Der Barbier kümmert sich um die Sicherheit des Dorfes! Der Barbier hütet die Dämme! Stimmt für die Säule! Stimmt für den kahlen Barbier! Hört! Hört! …«

Hassidoff hielt inne, um Atem zu holen, wußte jedoch, daß die Antwort bald durch die Luft donnern würde.

»Märchen für dumme Kinder!« stöhnte der Kasten des Schuhflickers. Dann kam ein erstickender Hustenanfall und: »Was versteht der Barbier von Dämmen: Der einzige Garant der Festigkeit unserer Dämme ist der Brunnenblock! Stimmt für die Dämme! Euer Block ist gegen die Fünf.«

»So also läuft der Hase!« stöhnte der Barbier. Mit letzter Kraft lud er sein neuerworbenes Gewehr. Dann kroch er vorwärts und zielte auf das Fenster des hinkenden Schuhflickers. »Mir scheint, immer muß ich alles selber machen«, murmelte Hassidoff, als er auf den Hahn drückte.

Nach dem scharfen Knall der Flinte fiel das Dorf in eine verhältnismäßige Stille, und nur das hartnäckige Rauschen des Regens war zu hören. Aus dem Kuhstall kamen gelegentlich kräftige Fußtritte und wütendes Fäustehämmern gegen die Eisentür.

»Ruhe, Schmarotzer!« heulte Hassidoff. »Wir sind im Kriegszustand! Wir haben in den letzten Tagen auch nicht gegessen!« Dann drehte er sich um und beklagte sich bei seiner Frau: »Er tut nichts, als sich vollstopfen, wie Shimshon Groidiss! Wozu brauchen wir ihn?«

Auch die Frau war einem Zusammenbruch nahe, aber sie zwang sich, weiterzuarbeiten, »nur um es diesem hinkenden Gurewitsch zu zeigen«. Sie wies auf die Sandsäcke, die der hinkende Schuhflicker in sein Fenster gelegt hatte, und Hassidoff stöhnte sarkastisch in sein Mikrofon:

»Großer tapferer Brunnenblock! Verstecke dich nur hinter deinen Sandsäcken! Die Hand der Säule wird dich doch erreichen!«

Peng! Die Kerosinlampe oben verschied unter tausend Scherben.

»Huligane!« heulte Hassidoff, als er sich auf den Fußboden warf. »Wir müssen sofort Sandsäcke haben, um die Fenster zu blockieren. Inzwischen antwortest du ihnen, Weib!«

»Nur der Barbier handelt in Dämmen«, flüsterte das Heldenweib, als es mit fest geschlossenen Augen regungslos auf dem kalten Fußboden lag. »Der Barbier bewacht die Dämme! Damm! Verdammt! Stimmt für Salman! Euer Block — Brunnen …«

»Der Schuhflicker leitet die Dämme«, hustete Zemach mit ständig schwächer werdender Stimme. »Der hinkende Schuhflicker rettet das Dorf … der fünfte Damm …«