Und es gärt weiter
Die nächsten drei Tage waren von fieberhaften Beratungen gekennzeichnet. Der Staatsmann widmete seine besten Talente der Bildung eines Dorfrats und benützte zu diesem Zweck seinen durchaus nicht begeisterten Sekretär. Wieder wurde er zur »Dampfwalze Dulnikker«, der dynamischen Kraft, die ein ganzes Dorf hinter sich herzuziehen vermochte. Diese wundersame Genesung war zum Teil seiner Entdeckung eines bequemeren Weges als den Balkon zu seinem zweiten Stelldichein mit Malka zu verdanken. Auch dieses Stelldichein prägte sich der Seele des Staatsmannes ein, obwohl es sich vom ersten insofern unterschied, als Malka in warmen Kleidern kam und auch ein Wollknäuel mitbrachte, aus dem sie einen grünen Pullover zu stricken anhub. Dulnikker hatte das Alter von 43 erreicht, sein Stern war aufgegangen, und er war zum stellvertretenden Parteisekretär ernannt worden, trotz der Opposition Shimshon Groidiss’, als ein schlafloser Hahn Malka aufweckte und beide die Hütte verließen, um in den Morgennebeln zu verschwinden. Das hielt ihn in keiner Hinsicht von seinen Bemühungen ab, die »oberste, den Dorfwillen repräsentierende Instanz« zu errichten.
»Es ist wirklich nicht recht, daß wir beide die Räte auswählen, statt es das Dorf selbst tun zu lassen«, versicherte Dulnikker in der Gegenwart seines gähnenden Sekretärs, »aber ich glaube, wir können uns noch nicht auf diese Bauern verlassen, denen selbst die minimalste politische Erfahrung abgeht.«
Zev deutete an, daß ja auch der Staatsmann zum erstenmal im Leben einen Dorfrat wählte, aber Dulnikker beruhigte ihn und sagte, Zev wäre überrascht, wenn er sähe, wie leicht das sei. Man brauche dazu nur die verschiedenen Klassen im Dorf, die sozialen Ebenen mit ihren unterschiedlichen und entgegengesetzten politischen Bestrebungen zu unterscheiden. Nach dieser kurzen, jedoch pointierten ideologischen Aufklärung begannen sie, die Bauern nach der obenerwähnten Skizzierung einzuteilen. Drei Stunden später hörten sie verschwitzt und enttäuscht mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit auf.
»Gott steh uns bei!« Dulnikker war höchst erstaunt. »Es gibt überhaupt keine Unterschiede zwischen ihnen! Sie sind alle gleich!«
»Stimmt!« bemerkte Zev. »Sie sind alle Bauern, stammen alle aus Rosinesco, bauen Kümmel, besitzen Kühe und tragen Schwarz.«
»Von einem Gummistempel gezeugt«, stöhnte der Staatsmann. »Der Inbegriff politischer Rückständigkeit!«
»Schauen Sie, Dulnikker: Das Endziel jeder sozialistischen Partei ist, die Unterschiede zwischen den Menschen niederzureißen.«
»Natürlich ist es das Endziel, aber in diesem elenden Dorf stehen wir doch erst am Anfang!«
Sie gingen an eine neue Klassifizierung und sonderten die Bauern aus, die einer zweiten Beschäftigung nachgingen. Dulnikker meinte, daß der Barbier — als Bürgermeister de facto — den natürlichen Kern der herrschenden Partei darstelle, während der Schuhflicker naturgemäß die mächtige Opposition der arbeitenden Menschen repräsentiere.
»Das stimmt nicht«, kicherte der Sekretär. »Der Schuhflicker hat einen alten Mann in seiner Werkstatt angestellt.«
»Schön«, sagte Dulnikker, »dann soll er die Kleingewerbetreibenden darstellen. Darauf kommt es wirklich nicht an. Wir brauchen diese Unterscheidungen nur für uns, um das Ganze in eine Perspektive zu bringen. Die Dorfbewohner können solche Feinheiten nie begreifen. Wen haben wir sonst noch?«
Zev schlug den Tierarzt als Sprecher der Dorfintelligenz vor, aber Dulnikker, der sich an den Optiker aus Frankfurt am Main erinnerte, erhob Einspruch gegen Hermann Spiegel.
»Er repräsentiert das Vieh«, behauptete er. »Ich ziehe ihm bei weitem Elifas Hermanowitsch vor.«
»Der ist auch blöd«, bemerkte Zev. »Erst vor einigen Tagen gab er zu, daß er nie versteht, was der Herr Ingenieur sagt.«
»Wenigstens du, mein Freund, könntest dich zurückhalten, mich Herr Ingenieur zu nennen. Es regt mich auf.«
»Ich habe nur den Wirt zitiert.«
Elifas wurde dank der Majorität von Dulnikkers Stimme trotzdem in den Rat gewählt, als Repräsentant der parteiunabhängigen Rückständigen. Der Staatsmann nominierte auch den Schächter mit der Bemerkung, daß der religiöse Glaube überall eine mächtige Kraft sei. Der Sekretär grinste breit und wagte zu bemerken, daß der Schächter keinen einzigen religiösen Anhänger im Dorf habe. Das erweckte den Zorn des Staatsmannes.
»Bitte, hör mit diesem dummen Lachen auf«, sagte Dulnikker wütend. »Du weißt sehr gut, daß ich ein Sozialist bin, der keinen Deut für die Einhaltung längst überlebter religiöser Bräuche gibt, daß ich Schweinefleisch esse, kein Käppchen trage und nicht eine Spur von dem Unsinn einhalte, den man mich in meiner Jugend gelehrt hat. Aber als Jude sprechend, dulde ich keine so abfälligen Bemerkungen über einen jüdischen Schächter, der durch das Hauptrabbinat geweiht wurde!«
»Verzeihen Sie mir, Dulnikker.«
»Ich kann es dir nicht verzeihen, mein Freund. Dieser primitive Haß um seiner selbst willen gegen alle traditionellen jüdischen Werte und diese Verhöhnung unserer heiligen Thora sind typisch für einen antisemitischen Schweinefleischfresser. Nicht jedoch für einen Zionisten, gleichgültig, wie sehr er auch Atheist ist!«
Der Sekretär hielt den Mund, weil er wußte, daß das gefährliche Stadium des Adernschwellens auf der Stirn seines Herrn und Meisters erreicht war. Erst als sich der Anfall legte, bemerkte Zev höflich, daß sie, da die Räte endlich zu jedermanns Befriedigung gewählt waren, in Erwartung ihrer nahenden Abreise aus Kimmelquell ihre Koffer packen konnten.
»Unsere Taube«, sagte der Sekretär hoffnungsvoll, »ist jetzt bestimmt schon bei der Tnuva angekommen.«
»Wer weiß«, bemerkte Dulnikker, noch immer zornig, »diese gebrauchten Tauben sind nie sehr stark. Außerdem fallen sie nach einem Flug von 50 oder 60 Kilometern wie ein Stein zu Boden.«
»Nein, Dulnikker. Unsere Taube war eine starke.«
Dulnikker runzelte die Stirn.
»Solange wir hier sind, werden wir für das Wohl des Dorfes weiterarbeiten«, sagte er mit warnender Stimme. »Daher bitte ich dich, unverzüglich allen Betroffenen einen Brief zu senden:
›Mein Herr, wir beglückwünschen Sie zu Ihrer Wahl durch die Einwohner von Kimmelquell (Ober-Ostgaliläa) in ihren Provisorischen Dorfrat. Sie werden hiermit eingeladen, kommenden Mittwoch um Punkt 3.30 Uhr in der Ratskammer des örtlichen Gasthofes zu erscheinen, um an der ersten Sitzung des Provisorischen Rates unter Ausschluß der Öffentlichkeit teilzunehmen.
Tagesordnung:
1. Ratifizierung des Dorfrats.
2. Die Oberste Kommunalkörperschaft wird die Frage der Besetzung des Bürgermeisters entscheiden.
Streng geheim. Um pünktliches Erscheinen wird gebeten. Schwarzer Anzug erwünscht.‹
«
»Praktisch tragen sie nie was anderes als Schwarz«, unterbrach der Sekretär den Staatsmann, aber dieser hieß ihn schweigen und beschloß sein Diktat mit: »Datum! Unterschrift!«
»Wessen Unterschrift, Dulnikker?«
»Juristisch gesprochen habe ich kein Recht, das Dorf zu vertreten. Also unterzeichne den Brief mit einer allgemeinen Unterschrift wie etwa ›Direktion‹.«
»Schön«, sagte der Sekretär zuvorkommend und schrieb: »Direktion, Abtlg. Ingenieurwesen.«
»Noch etwas«, fuhr Dulnikker fort. »Ich bin durchaus nicht glücklich, daß wir nur vier Mitglieder für den Rat finden konnten. Die gerade Zahl ist unbefriedigend, weil sich dadurch Stimmengleichheit ergeben kann. Daher brauche ich ein Zünglein an der Waage.«
»Vielleicht den Kärrner?«
»Statt eines unabhängigen Unternehmers wäre mir irgendein Kommunist oder extremer Linker lieber, um den Rat auszubalancieren. Hat dieses Dorf keine ausgebeuteten Arbeitskräfte oder Angestellte?«
»Soweit ich weiß, bin ich der einzige.«
»Hör zu witzeln auf, Zev! Ich kann meinen Krankenwärter nicht in den Rat einsetzen.«
»Ich bin Ihr Sekretär, Dulnikker.«
»Natürlich. Wer hat das je geleugnet?« wollte Dulnikker wissen. »Ich glaube, ich kann vielleicht meinen Kommunisten in dem Gehilfen des Schuhflickers bekommen! Jetzt hör mit dem dummen Gelächter auf, mein Freund, und notiere dir, daß ich morgen in der Schusterwerkstatt vorsprechen muß.«
»Ganz wie Sie meinen, Dulnikker«, erwiderte der Sekretär. »Ich jedenfalls gehe jetzt packen.«
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Dulnikker warf einen Blick in die Schusterwerkstatt, und als er sah, daß der Gehilfe allein war, betrat er die dunkle Kammer. Der Staatsmann studierte aufmerksam das verwitterte Gesicht des bleichen alten Mannes, der, den zahnlosen Mund voller Nägel, an seiner Werkbank arbeitete. »Er ist alt genug, um der Vater des Schusters zu sein«, überlegte Dulnikker. »Aber statt so geehrt zu werden, wie es ihm gebührt, muß er sich von früh bis spät ausbeuten lassen.«
»Guten Morgen, Genossen«, begrüßte der Staatsmann den Arbeiter und fügte mit wohlüberlegter Diplomatie hinzu: »Ist mein Schuh schon fertig?«
»Nein«, erwiderte der Alte schrill mit seinem unverkennbaren rosineskanischen Akzent. »Sie haben uns keine Reparatur gebracht, Herr Ingenieur.«
»Natürlich nicht.« Dulnikker steuerte das Gespräch in die richtigen Bahnen: »Wie kann ich mir eure Preise leisten?«
»Bitte richten Sie sich das mit Salman.«
»Nein, Genossen. Dafür seid ihr zuständig!«
»Warum?«
Diese naive Frage entfesselte einen Redeschwall Dulnikkers, der rapid auf den unglücklichen nichtorganisierten Arbeiter herunterprasselte.
»Wieviel bekommen Sie für ein gewöhnliches Besohlen?«
»Ungefähr dreißig Agoroth.«
»Und wie viele Reparaturen machen Sie im Durchschnitt täglich?«
»Vielleicht drei.«
»Das kommt auf ungefähr ein Pfund pro Tag! Sie arbeiten fünfundzwanzig Tage im Monat. Nun, das kommt auf fünfundzwanzig Pfund im Monat. Stimmt’s?«
»Ich weiß nicht.«
»Wie hoch ist Ihr Monatsgehalt?«
»Weiß nicht.«
»Bekommen Sie vierzig Pfund?«
»Die bekomme ich.«
»Aha!« brüllte Dulnikker. »Und wer steckt den Unterschied ein, ha?«
»Weiß nicht.«
»Das ist es ja gerade, Genossen! Ihr habt überhaupt kein Klassenbewußtsein. Und dann wacht ihr eines schönen Tages auf und entdeckt, daß die Jahre an euch vorbeigegangen sind, daß selbst eure wenigen übriggebliebenen Zähne wie Herbstblätter verweht sind. Und dann werdet ihr alle kommen und ›Dulnikker, Dulnikker, Dulnikker‹ schreien. Aber dann wird es zu spät sein!«
»Aber«, stammelte der Alte verzweifelt und rückte von seinem Besucher ab, »aber Sie haben uns wirklich keinen Schuh zur Reparatur gegeben, Herr Ingenieur.«
Dulnikker ging auf den Arbeiter zu und stand wie ein dräuender Schicksalsbote vor ihm. »Ihr müßt für euch denselben Lebensstandard verlangen, den Zemach Gurewitsch aufrechterhält!«
»Nein! Nein!« rief der erschrockene Alte flehend. »Bitte, Herr Ingenieur, bitte, verlangen Sie das nicht von mir! Ich kann nicht so schwer arbeiten wie Zemach. Er ist noch jung und kann auf das Feld gehen, aber ich komme gerade nur mit meiner Arbeit in der Werkstatt zurecht.«
Der Staatsmann wischte sich den Schweiß von der Stirn. In dem engen Raum war es ausgesprochen heiß.
»Ihr seid schwach, Genossen!« rief er. »Deshalb verdient ihr einen kürzeren Arbeitstag! Wie viele Stunden am Tag arbeitet ihr jetzt?«
»Soviel ich mag.«
»Das ist zuviel! Der Schuster beutet euer Pflichtgefühl als Arbeiter aus! Er weiß sehr gut, daß euer Gewissen euch zwingen wird, so lange zu arbeiten, solange ihr noch einen Finger rühren könnt. Und was ist das Resultat? Ihr beginnt zu husten, und ihr ertrinkt im Abgrund von Armut und Hunger. Nein, Genossen! Ihr müßt Zemach Gurewitsch informieren, schwarz auf weiß, daß ihr unter keinen Umständen so viel arbeiten werdet, wie ihr mögt. Von nun an, Genossen, werdet ihr eine Stunde weniger arbeiten! Und wenn das der Schuster ablehnt, werdet ihr unverzüglich einen Streik ausrufen!«
»Ja, unverzüglich … einen Streik … Herr Ingenieur.«
Allmählich wurde Dulnikker böse, weil er im Unterbewußtsein witterte, daß der Arbeiter die Grundtatsachen des Problems noch immer nicht begriffen hatte.
»Streiken bedeutet, mit der Arbeit aufhören«, erklärte er schreiend. »Und wollen Sie bitte diese Nägel aus dem Mund nehmen! Sie könnten sie ja schlucken!«
»Nur wenn ich bei der Arbeit gestört werde, Herr Ingenieur.«
»Keine Angst, Genossen! Wenn Gurewitsch vom Feld heimkehrt, steht ihr auf, mutig und gerade, und sagt ihm auf meine Verantwortung: ‘Zemach Gurewitsch, von nun an werde ich um eine Stunde weniger arbeiten!’ Der Schuster wird das ablehnen, und ihr werdet ihn von einer Arbeitsniederlegung informieren.«
»Oh, Gott!«
»Keine Angst, Genossen! Zemach Gurewitsch braucht euch, Zemach Gurewitsch wird euch nie mit leeren Händen wegschicken! Er wird euch eine halbe Stunde anbieten; ihr werdet dreiviertel verlangen, und ihr werdet höchstens zehn Minuten nachgeben! Im Fall einer völligen Ablehnung — streikt ihr! Ihr müßt euch organisieren, Genossen. Ihr müßt einen bescheidenen Streikfonds beiseite legen. Nur so werdet ihr imstande sein, euch in eurem Kampf gegen die Industrieunternehmer sicher zu fühlen. Verstanden?«
»Ich verstehe, ich verstehe«, sagte der Alte, mit dem Rücken an die Wand gepreßt, und nickte. »Jetzt gehen Sie ganz ruhig nach Hause, Herr Ingenieur, und ich kümmere mich um alles hier. Es wird schon alles gut werden.«
»Nein, Genossen«, erklärte Dulnikker und setzte sich auf den zweiten Schemel. »Ich beabsichtige zu warten, bis der Schuster heimkommt. Jetzt kann ich Ihnen ja ruhig sagen, daß ich beabsichtige, Sie, mein Freund, in den Dorfrat aufzunehmen! Das ist der Prüfstein, Genossen!«
Der Alte zuckte die Achseln und arbeitete mit einem bekümmerten Ausdruck weiter. Gelegentlich warf er dem starr dasitzenden Dulnikker einen ängstlichen Blick zu, aber es fiel kein Wort. Nach einer Weile hörten sie den schweren Schritt des Schuhflickers. Er trat ein, begrüßte Dulnikker und band seinen Schurz um.
»Jetzt!« flüsterte Dulnikker dem zögernden Arbeiter zu. »Ich stehe hinter euch!«
»Höre, Zemach«, sprach der Alte den Schuhflicker demütig an und gestikulierte entschuldigend, »der Herr Ingenieur will, daß ich heute eine Stunde weniger arbeite.«
»Fein«, sagte der Schuster, »es ist heute ohnehin nicht viel zu tun.«
Die Adern an Dulnikkers Schläfen begannen wieder zu schwellen.
»Nein!« schrie er heiser. »Nein! Nicht nur heute! Von heute an!«
Der Schuhflicker sah ihn erstaunt an.
»Schön«, sagte er und setzte sich mit einer fragenden Grimasse auf den leeren Schemel.
»Schneiden Sie keine Grimassen, mein Freund! Dieser alte Mann ist voll berechtigt, eine Stunde weniger zu arbeiten!«
»In Ordnung!«
»Täglich!«
»Herr Ingenieur« — Zemach Gurewitsch war außer sich —, »natürlich kann mein Vater arbeiten, wann es ihm paßt! Sie brauchen mich nicht die ganze Zeit daran zu erinnern, daß die Werkstatt ihm gehört!«
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Das Stelldichein in der Hütte hatte einige Tage nicht stattgefunden, weil sich Dulnikker verkühlt hatte. Der Staatsmann nieste sehr oft, und dank seiner tropfenden Nase klang seine Stimme wie die eines Wildenterichs. Aber betrachtete man es genau, so rettete ihn seine Verkühlung vor einem schlimmeren Schicksal. Wäre sie nicht gewesen, hätte ihn Elifas Hermanowitsch am frühen Mittwoch morgen nicht in seinem Bett angetroffen.
»Wer ist da?« Der Staatsmann wachte bei der Berührung der Hand des Wirts auf. »Wer stört mich?«
»Ich«, kam Elifas’ Stimme aus der pechschwarzen Finsternis. »Stehen Sie bitte auf, Herr Ingenieur, es ist alles so vorbereitet, wie Sie es haben wollen. Der Dorfrat wartet auf Sie.«
Der Staatsmann fuhr zusammen. »Was? Aber ich habe sie für drei-dreißig eingeladen.«
»Stimmt«, erwiderte der Wirt. »Es ist jetzt drei-dreißig.«
Dem Staatsmann wirbelte es im Kopf. »Guter Gott«, murmelte er, »habt ihr geglaubt, der Dorfrat würde sich nachts um halb vier versammeln?«
»Es ist nicht nachts. Es ist halb vier morgens«, korrigierte ihn Elifas. »Es tut mir sehr leid, Herr Ingenieur, aber in dem Geheimbrief stand nicht, daß Sie es für Nachmittag gemeint haben.«
»Jedenfalls«, knurrte Dulnikker, als er sich die Decke wieder über den Kopf zog, »unterrichten Sie bitte die Räte von ihrem peinlichen Irrtum.«
»Unmöglich, Herr Ingenieur, das ganze Dorf ist unten …«
Diese originelle Wendung der Ereignisse konnte nur Dulnikker selbst überraschen. Die Einladungen, die der Krankenwärter persönlich an die Gewählten verteilt hatte, wurden trotz der düsteren Geheimhaltungspflicht innerhalb von Stunden Allgemeingut der Öffentlichkeit.
Alles in allem billigten die Dorfbewohner die Initiative, die von der »Direktion, Abtlg. Ingenieurwesen« an den Tag gelegt wurde, und sie billigten einhellig die glänzende Idee, die strittigen Fragen zwischen dem Barbier und dem Schuhflicker durch einen Kampf von Mann zu Mann zu bereinigen, besonders da in den Dörfern ihrer Ahnen in Rosinesco der Dorfvorsteher ebenfalls von Zeit zu Zeit gezwungen gewesen war, seinen Gegnern seine körperliche Tüchtigkeit vor Augen zu führen. Die Dorfbewohner waren vom Ingenieur selbst angenehm überrascht, weil sie nie geahnt hätten, daß sich ein so verweichlichter Stadtfrack so leicht an das bäuerliche Naturgesetz anpassen konnte. Sie billigten auch seine Wahl einer frühen Morgenstunde, wodurch die Teilnehmer instand gesetzt waren, ungestört an ihr Tagewerk zu gehen.
Das Geheime an der Sache hielt die Dörfler natürlich nicht davon ab, schon um Mitternacht dem Wirtshaus zuzustreben. Einige Leute bezogen schon früher am Abend Stellung in der Nähe der Fenster, um garantiert eine gute Sicht zu haben. Andere hatten Stühle und Schemel mitgebracht, während die Kinder auf den Schultern ihrer Väter saßen und Majdud und Hajdud beneideten, die das Glück hatten, alles durch das Schlüsselloch der Küchentür mitansehen zu können. Der Ausgang des bevorstehenden Zweikampfes war umstritten. Einige behaupteten, der Schuster sei größer und schwerer, während andere meinten, seine Lahmheit sei ein Nachteil, und die Aufmerksamkeit ihrer Nachbarn auf die Festigkeit der Gemeindekörperschaft des Barbiers lenkten.
Der Speisesaal des Wirtshauses, von einem Dutzend Kerosinlampen erleuchtet, war selbst durch die Fenster ein prachtvoller Anblick. Elifas Hermanowitsch und seine Frau hatten sich lobenswert bemüht, den Raum auf Glanz zu bringen. Auf die Bitte des Ingenieurs hin hatten sie an einem Ende des Saals einige umgestülpte Holzkisten und auf dieses provisorische Podium den Präsidialtisch gestellt. Außerdem verteilten sie auf dem Tisch Gläser, Obstsaft, Kuchen, Zettel, Bleistifte und sogar einen mittelgroßen Hammer — mit Empfehlungen vom Schuhflicker. Ein breiter, von Nelken umrahmter Streifen Packpapier hing über dem Podium. Darauf stand in riesigen roten Buchstaben eine Schlagzeile, die der Herr Ingenieur verfaßt hatte: »EINE GESUNDE STADTVERWALTUNG — GRUNDLAGE EINER GESUNDEN REGIERUNG. ZVI GRINSTEIN.« Das Spruchband setzte lebhafte Argumente der Menschenmenge in Gang, weil es nicht ganz klar war, warum dieser Zvi Grinstein die Grundlage der Regierung sein sollte, wenn man bedachte, daß keiner dieses Namens im Dorf lebte.
Die streitenden Parteien kamen nacheinander zum Wirtshaus und wurden von der Menge begeistert empfangen. Zuerst kam der hinkende Schuhflicker, der einen schwarzen Festanzug trug. Er zerrte eine in einen Mantel gewickelte Gestalt mit geschlossenen Augen hinter sich her, die sofort an dem nächstgelegenen Tisch niedersank und einschlief. Nach der von einem Ohr baumelnden Brille und der gelben Aktentasche in der einen verkrampften Hand zu schließen, so rechnete sich die Menge aus, muß das der Krankenwärter des Ingenieurs sein. Nach ihm traf der Schächter ein, den Kopf mit einem ungewöhnlich großen und dekorativen Käppchen bedeckt. Er wurde mit besonderen Hochrufen von den Schulkindern begrüßt, die sich freuten, ihren Lehrer zu sehen. Der dritte Mann war zur Überraschung der Menge ein kleines Individuum plumpen Schrittes, namens Ofer Kisch, der Dorfvagabund, den Dulnikker nach dem vergeblichen Versuch, den Vater des Schuhflickers zu organisieren, »in tiefstem Elend« entdeckt hatte. Ofer Kisch war Schneider von Beruf, da jedoch seit Jahren niemand Schneiderarbeit bestellt hatte, war der arme landlose Kerl gezwungen gewesen, sich sein Leben als Amateurspaßmacher bei Hochzeiten und als Totengräber zu verdienen. Angesichts letzterer Funktion verursachte sein Erscheinen im Wirtshaus, was den Ausgang des Kampfes betraf, eine ziemliche Bewegung im Publikum. Als letzter kam der Barbier in Begleitung seiner Frau, die — da die Einladung an Einzelpersonen gerichtet waren — offiziell zur Privatkrankenschwester ernannt worden war. Beide betraten das Wirtshaus hastig und gespannt.
Alle Räte saßen um den Saal herum, hatten keine blasse Ahnung, was vor sich ging, und kraulten die Katzen, die zwischen ihren Beinen herumwanderten. Es war ihnen allen schwergefallen, ihre Schläfrigkeit zu bekämpfen, daher waren sie erleichtert, als Elifas auftauchte und den Ingenieur mitschleppte. Dulnikker taumelte die Treppe hinunter, ebensosehr von seiner Verkühlung wie von seinem Schlafmangel bedrückt. Der Staatsmann war schrecklich müde, bezog aber Trost vom Anblick seines Krankenwärters: Verglichen mit dem Aussehen des halbtoten jungen Mannes sah Dulnikker geradezu energiegeladen aus. Der Staatsmann befriedigte seinen Wunsch nach Rache, weil sich sein Verhältnis zu Zev dank eines kurzen Gesprächs besonders abgekühlt hatte. Dulnikker hatte seine rechte Hand gefragt, ob er von Anfang an gewußt habe, daß der Alte, der im Hintergrund der Schuhflickerwerkstatt dahinmoderte, sowohl der Vater des Schuhflickers als auch der Besitzer der »Firma« persönlich war?
»Natürlich hab’ ich’s gewußt«, erwiderte Zev. »Ich wohne beim Schuhflicker.«
»Warum hast du mir das denn nicht erzählt, wenn ich fragen darf?«
»Sie haben mich nie gefragt, Dulnikker.«
Jetzt näherte sich Dulnikker seinem schlummernden Sekretär und rüttelte ihn kräftig. Es bedurfte noch einiger ordentlicher Rüttler, um wenigstens eins seiner Augen aufzubekommen.
»Laßt mich schlafen«, stöhnte Zev. »Bitte sagen Sie ihnen, sie sollen nachmittags wiederkommen.«
»Unmöglich, mein Freund Zev.« Dulnikker rieb sich sehr vergnügt die Nase. »Ich habe sie für jetzt eingeladen!«
»Für jetzt?« Der Sekretär wurde noch ein bißchen munterer. »Haben Sie wirklich drei Uhr dreißig nachts gemeint?«
»Nicht nachts, morgens, mein fauler, schläfriger Freund!« höhnte Dulnikker. »Ich schlage vor, ihr wacht auf, Genossen, damit ihr ordnungsgemäß das Protokoll führen könnt.«
»Hol’s der Teufel!« fluchte Zev. »Wozu brauchen wir diesen ganzen Mist?«
»Muß ich dir Rechenschaft über mein Tun ablegen?« entgegnete der Staatsmann kühl. »Wenn du gegen konstruktives Handeln bist, werde ich dich von der aktiven Teilnahme an der Debatte befreien. Alles, was du zu tun hast, ist, das Protokoll zu führen, nichts weiter! Hallo, Genossen, was geht hier vor?«
Dieser fast hysterische Schrei bezog sich auf Salman Hassidoff und Zemach Gurewitsch, die auf dem Fußboden herumrollten und abgerissene Schlachtrufe blökten.
Es war eine ganz natürliche Entwicklung. Als der Schuhflicker merkte, daß der Ingenieur mit seinem Krankenwärter kostbare Zeit mit internen Diskussionen vertat, stand er auf und nahm die Sache selbst in die Hand. Er zog sein schwarzes Jackett aus, hinkte zum Tisch des Barbiers hinüber und fragte:
»Bereit, Salman?«
Hassidoff zog sich wortlos aus, und im nächsten Augenblick waren sie in der Arena und in einen mächtigen Kommunalkampf verwickelt. Der Barbier war wendiger und packte Gurewitsch an der Gurgel, diesem jedoch gelang es, Hassidoff mit einem Tritt seines lahmen Beins in dessen Magen abzuschütteln. Die Dörfler draußen standen auf den Fußspitzen und drückten sich die Nasen an den Fensterscheiben platt; die leichter Erregbaren unter ihnen begleiteten jede Wendung der Entscheidungsschlacht mit begeisterten Zurufen. Einen Augenblick schien es, daß der Schuhflicker die Oberhand hatte, weil er den Kopf des Barbiers in einem Würgegriff hielt, aber in letzter Sekunde gelang es Hassidoff, ein Tischbein zu packen, und der Tisch schleifte überallhin mit, wohin Gurewitsch den Barbier zerrte.
Amitz Dulnikker sah all dem vom Podium aus zu. Sein Gesicht war krebsrot, die Augen fielen ihm fast aus dem Kopf, und seiner Kehle entrang sich ständig wildes Grunzen und sinnloses Knurren. Als der Staatsmann merkte, daß mit seinen Stimmbändern etwas nicht stimmte, hob er den Hammer und begann wild auf den Tisch einzuschlagen, aber seine Bemühungen fruchteten nichts gegen den Lärm der Menge draußen. Die einzige Anwesende, die ihren Gefühlen freien Lauf ließ, war das Heldenweib, das ständig kreischte:
»Gib’s ihm, Salman! Gib’s ihm!«
Salman hatte die Unterstützung seines Weibes grausam nötig, denn er lag auf dem Bauch, der Schuhflicker kniete auf seinem Rücken und trommelte ihm mit den Fäusten auf den Kopf. In diesem Stadium der Schlacht mischte sich eine neue Stimme in den allgemeinen Lärm: Der Sekretär brach in ein heulendes Hyänenlachen aus und wand sich auf seinem Stuhl. Mittlerweile war es dem Barbier gelungen, der Kommunalkörperschaft des Schuhflickers zu entrinnen und wie ein wütender Stier mit Kopfstößen zum Angriff überzugehen. Eifrig sprang der Schneider auf und begann die Tische beiseite zu rücken. Jetzt endlich fand Dulnikker die Sprache wieder.
»Idiot, was machst du da?« fragte er Ofer Kisch.
»Platz«, erwiderte Ofer Kisch. In diesem Augenblick gaben die dünnen Beine des Präsidialtisches unter Dulnikkers Hammerschlägen nach und brachen zusammen. Der plötzliche Krach ließ die Kämpfer einen Augenblick ihren Griff lockern. Dulnikker machte sich die kurze Flaute zunutze, sprang über die Ruinen seines Tisches und stürmte in die Arena.
»Huligane!« brüllte er und warf sich mit ausgebreiteten Armen zwischen die Kämpfer. Beide waren jedoch schon längst jenseits aller Beherrschung ihrer Reaktionen und setzten den Kampf fort, ohne auf den Staatsmann zwischen ihnen zu achten. Dulnikker zappelte wie ein Fisch im Netz. Zum Glück gelang es ihm, mitten in einem dreifachen Salto einer der streunenden Katzen auf den Schwanz zu treten, und das ohrenzerreißende Gekreisch des Tieres brachte die Kämpfer augenblicklich zur Vernunft.
Dulnikker saß mit einer dicken Staubschicht bedeckt und zerrauft auf dem Boden. »Schluß!« kreischte eine fremde Stimme aus seiner Lunge. »Schluß, ihr Mörder! Ihr verrückten, bösartigen Viecher, jeder einzelne von euch! Schluß, ihr Metzger! Schluß, sage ich! Zev!« schrie Dulnikker plötzlich seinen Ersten Sekretär an, der noch immer gelassen auf dem Podium saß. »Warum rührst du keinen Finger, du Taugenichts, wenn du siehst, daß man mich vor deinen Augen ermordet?«
»Herr Ingenieur, Sie haben mich angewiesen, mich nicht in die Debatte zu mischen«, erwiderte der Sekretär. »Meine Aufgabe ist es, mechanisch Protokoll zu führen, nichts weiter.«
Amitz Dulnikker stampfte auf und brach buchstäblich in Tränen der Enttäuschung aus. Malka umarmte seinen zitternden Körper und führte ihn auf die Rednertribüne. Das Schluchzen des kranken Staatsmannes wirkte auf die Menge genauso wie die Tränen eines Lehrers auf ungebärdige Schüler.
»Was haben wir denn falsch gemacht?« flüsterte Zemach Gurewitsch den übrigen Repräsentanten zu, während er sich seine blauen Flecken rieb. »War denn nicht er es, der uns geschrieben hat, daß die Oberste Kommunalkörperschaft die Bürgermeisterei entscheiden würde? Weshalb weint er also?«
Die Räte glätteten ihre Kleider und kehrten höchst verblüfft auf ihre Sitze zurück. Diese plötzliche Stille löste ein böses Geschrei der Menge draußen aus. Die Bürgerschaft reagierte auf die unerwartete Unterbrechung höchst unmutig mit mißbilligendem Pochen an die Fensterscheiben.
Dulnikker stand auf und stürzte, eine Hand auf seine verletzte Seite gedrückt, wütend zur Tür. Er schob den Riegel zurück und stellte sich dem tobenden Mob.
Er ergoß seine ganze Wut auf sie:
»Ruhe! Sonst schmeiß’ ich euch alle miteinander aus diesem Dorf hinaus!«
Sein vulkanartiger Wutausbruch brachte sie zum Schweigen. Eine einsame Stimme wagte es, ihn respektvoll über das Meer von Köpfen hinweg auf die Tatsache hinzuweisen:
»Entschuldigen Sie, Herr Ingenieur, aber bis jetzt ist noch keiner besiegt worden!«
»Ihr Erbauer von Babel!« zischte der Staatsmann zwischen zusammengebissenen Zähnen und kehrte dem blutdürstigen Gesindel den Rücken. Er versperrte die Tür hinter sich, schneuzte sich mit einem empörten Trompetenstoß und kehrte auf seinen Platz am Präsidialtisch zurück.
»Meine Herren«, rief er dem Rat kummervoll zu, »was um Himmels willen hat sich hier getan?«
Fast die ganze nächste Stunde lang erhielten Dulnikker und Sekretär eine aufschlußreiche Belehrung über »Begriffe und Bedingungen in Kimmelquell und ihre Bedeutung für die Funktionen des Dorfrates als einer kommunalen Körperschaft«. Mit wachsender Bestürzung hörte sich Dulnikker die lokalen Ansichten an und versetzte das Dorf im Geist vom Mittelalter in die Steinzeit zurück.
»Genossen!« sprach er den Rat mit schwacher Stimme an, »zivilisierte Menschen entscheiden Führungsfragen nicht durch Faustkämpfe, sondern durch demokratische Wahlen.«
»Demokratische Wahlen?« wiederholten die Räte unter viel schnellem Blinzeln. »Wozu?«
»Weil die Dorfbewohner — sie und nur sie — entscheiden dürfen, wer sie regieren darf, Genossen.«
»Herr Ingenieur«, platzte der Schuhflicker flehentlich heraus, »ist unser System nicht einfacher?«
Dulnikker war am Ende seiner Geduld angelangt und warnte Gurewitsch unter energischen Hammerschlägen, daß er keinerlei provokante Zurufe dulden würde.
»Meine Herren!« wandte er sich scharf an seinen Sekretär. »Warum nehmen Sie kein Protokoll auf?«
»Entschuldigen Sie, Dulnikker, aber das habe ich doch!« protestierte der andere höflich und las dem Dorfrat unverzüglich vor, was er auf ein Stück Papier gekritzelt hatte: »Nach Ankunft des Vorsitzenden fand ein Kommunalkampf de facto zwischen zwei provisorischen Ratsmitgliedern statt, den Herren Zemach Gurewitsch und Salman Hassidoff. Verletzt wurde ein Anwesender: der Herr Ingenieur.«
Nach Verlesung des Protokolls verbeugte sich der Sekretär und setzte sich feierlich nieder. Dulnikker beherrschte sich bewundernswert und dankte dem jungen Taugenichts für seinen Fleiß. Dann erhob sich der Staatsmann, legte seine Uhr vor sich auf den Tisch, zog eine Rolle Papier aus der Tasche und ergriff das Wort. »Ehrenwerter neuer Dorfrat«, eröffnete Dulnikker die Inaugurationsrede, die er vor zwei Tagen vorbereitet hatte. Er sprach ruhig, aber mit weitausholenden Gesten und keinerlei Zeichen von Müdigkeit oder Niedergeschlagenheit. »Ich muß mich streng beschränken, weil es schon spät wird, aber bevor ich meine Rede auf ein bloßes Mindestmaß zusammendränge, fühle ich mich verpflichtet, ein Wort zur Begrüßung an die höchste Vertretung der Dorfinteressen zu richten — an den ersten Dorfrat der Geschichte von Kimmelquell seit der Zerstörung des Zweiten Tempels!«
Hier hielt der Staatsmann inne, um dem Publikum zu erlauben, in lauten Beifall auszubrechen, aber nur Malka applaudierte — einmal.
»Erlauchter Dorfrat! Meine Damen und Herren! Alteingesessene und Neueinwanderer!« fuhr Dulnikker fort. »Wir haben uns heute abend hier versammelt, nicht um neue Siedlungen zu gründen; wir haben uns nicht versammelt, um große Industrieunternehmen zu errichten; wir haben uns nicht versammelt, um Ölquellen in den Einöden der Wüste anzubohren; wir haben uns nicht versammelt, um edle, schnelle Pferde zu züchten; wir haben uns nicht …«
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Um ungefähr 11.30 Uhr, als der Schatten des Zeigers der Sonnenuhr fast verschwunden war, wurde Amitz Dulnikker durch einen unerwarteten Herzanfall gefällt und war gezwungen, mitten in seiner Inaugurationsansprache eine Pause einzulegen. Zu der Zeit schliefen schon sämtliche Zuhörer, vielleicht mit Ausnahme Malkas, die etwas Erfahrung im Zuhören erworben hatte. Der eine schlief, den Kopf auf den Arm gelegt, ein anderer offenen Mundes zurückgelehnt. Der Barbier schlief mit offenen, glasigen Augen, die den Sprecher leblos anstarrten. Zev hatte sich die Ohren mit den Fingern verstopft und schlief, das Kinn auf den Rand des Präsidialtisches gestützt, mit einem seligen Lächeln auf den Lippen. Vor den Fenstern stand schon seit Stunden niemand mehr; die Dörfler hatten jedoch eine Kinderwache organisiert, die der Reihe nach häufig durch die Fenster in die Kammer blickten. Dann rannten die Kleinen immer wieder heim und sagten ihren Eltern beeindruckt:
»Redet noch immer!«
Ehrlich gesagt, hatte Dulnikker während der Inaugurationsansprache selbst das Gefühl, daß er zu weit gegangen war und das Publikum schon lange aufgehört hatte zuzuhören. Aber er wußte einfach nicht, wie er den Redefluß aufhalten sollte, der aus seinem Munde strömte; es war ein von ihm unabhängiger Sturzbach, den er nicht unter Kontrolle zu bringen vermochte. Um ungefähr 10 Uhr spürte er einige einzelne Nadelstiche um sein Herz, und die Warnung Professor Tannenbaums schoß ihm durch den Kopf. Aber seine Zunge weigerte sich, seinem Willen zu gehorchen, und der alternde Staatsmann wurde wie Strandgut von der Strömung seiner eigenen Worte mitgerissen.
Als Dulnikker quer über dem Tisch zusammenbrach, verzog sich sein Gesicht, und seine Stimme versickerte. Die plötzliche Stille weckte alle. Malka stürzte sofort an die Seite ihres Galans und flößte ihm etwas lauwarmen Tee ein. Der verwirrte Sekretär sah auf die Uhr, und als er sah, wie spät es war, trat plötzlich ein erschrockener Blick in seine Augen. Er erholte sich jedoch schnell und tätschelte unter protestierenden Seufzern dem hartnäckigen Staatsmann den Rücken. Dulnikker riß sich jedoch schnell zusammen, obwohl seine rote Gesichtsfarbe krankhaft blaß wurde und seine Hand weiter in die Brust verkrampft blieb.
»Also gehen wir heim«, schlug der Schächter vor. Die Dorfräte erhoben sich, der Staatsmann hielt sie jedoch mit einer schwachen Geste zurück:
»Zev«, flüsterte er seinem Sekretär zu, »lies die Resolution vor, mein Freund.«
Zev verdrehte die Augen in stummem Tadel himmelwärts und begann in schwindelerregendem Tempo die grundlegenden Punkte vorzulesen, die er schon früher nach dem Entwurf des Staatsmannes vorbereitet hatte:
»Der Provisorische Dorfrat beschloß in seiner heutigen ersten Sitzung einstimmig:
a) Der Bürgermeister ist die höchste Verwaltungsspitze des Dorfrates.
b) Der Bürgermeister wird von den Dorfbewohnern für eine Zeitspanne von sechs Monaten gewählt.
c) Die ersten verfassungsmäßigen Wahlen werden in zwei Monaten, vom heutigen Tage an gerechnet, abgehalten. Bis dahin bleibt der Status quo de facto und de jure in Kraft.
d) Die Wahl wird geheim und demokratisch erfolgen.«
Die Dorfräte scharrten ungeduldig mit den Füßen herum, die Augen halb geschlossen. Noch nie hatte sie die Arbeit eines ganzen Tages auf den Feldern derart schrecklich ermüdet.
»Irgendwelche Fragen?« sagte Dulnikker schwach, aber der Schächter wollte nur wissen, ob sie schon heimgehen könnten. Der Staatsmann bat sie, das Dokument zu unterzeichnen, und sie kritzelten ihre Namen unter die Resolution, einschließlich des Schuhflickers, der einen Davidstern statt einer Unterschrift zeichnete. Dann liefen sie alle heim und fielen wie die Mehlsäcke auf ihre Betten. Mehlsäcke, die das Pech gehabt hatten, zu kommunaler Größe erhoben zu werden.