Es findet sich ein Weg

Es war die erste Nacht, in der Dulnikker geschlafen hatte. Der Staatsmann lag als ein Haufen am Fuß der Treppe und schlief ohne eine einzige Pille tief und gesund, bis er ungefähr bei Sonnenaufgang durch das sanfte Streicheln seines zerzausten Haares geweckt wurde. Malka, die früh aufgestanden war, um die Kühe zu melken, war in der Finsternis über Dulnikker gestolpert.

»Herr Dulnikker, Herr Dulnikker«, hauchte sie ihm warm ins Ohr, »ich hoffe, Sie haben sich nicht schlimm wehgetan.«

Der Staatsmann öffnete die Augen, konnte sich aber nicht zusammenreimen, was los war. Er warf der Frau einen äußerst törichten Blick zu und versuchte aufzustehen; aber wenn er auch nur eines seiner angeschlagenen Glieder rührte, gab es ihm einen schmerzhaften Stich.

»Heiliger Himmel!« staunte Malka, als sie den zerrissenen und zerlumpten Anzug des Staatsmannes bemerkte. »Sie schauen ja gräßlich aus, Herr Dulnikker! Ich habe nicht gewußt, daß ihr so wild gerauft habt! Oj, ihr Männer, ihr Männer!« Sie seufzte befriedigt. »Ihr seid doch alle gleich.«

»Madame«, stammelte Dulnikker, »erlauben Sie mir, diesen verhängnisvollen Irrtum aufzuklären …«

»Da gibt’s nichts aufzuklären, Herr Dulnikker«, sagte Malka lächelnd. »Das nächste Mal werden Sie vorsichtiger sein und es mir vorher sagen. Wie kann ein Mann in Ihrem Alter so verrückt sein?«

Ein seltsames Zittern durchlief den Staatsmann, ein undeutliches, perlendes Gefühl, anders als alles, was er seit mehr als dreißig Jahren erlebt hatte; das heißt, seit jenem Augenblick, als er zum regionalen Parteisekretär ernannt worden war. Vorher war sein jugendlicher Geist intakt und er imstande gewesen, den jungen Damen Zeit zuzuteilen. Seit jener Ernennung hatte jedoch der Gegenstand für ihn zu existieren aufgehört. Dulnikker pflegte bei jedem gewagten Witz, der in der Parteihierarchie erzählt wurde, herzlich zu lachen, aber dieser ganze Sektor des Lebens hatte in seinem Gemüt eine absolut abstrakte Eigenschaft angenommen. »Und jetzt glaubt dieses große, dicke Frauenzimmer — schlimmer, ist überzeugt —, daß ich …« Dulnikker betrachtete Malka von einem funkelnagelneuen Gesichtspunkt aus: Nein, man hätte nicht geglaubt, daß sie Zwillinge geboren hatte. Plötzlich wurde der Staatsmann von dem Wunsch gepackt, der Frau etwas Süßes und dennoch sehr Geistreiches zu sagen.

»Es hat nichts zu bedeuten«, murmelte er schließlich. »Was war, das war.«

Malka begrüßte diese einfallslose Bemerkung mit einem verständnisvollen Lächeln, legte ihre vollen, runden Arme um Dulnikker und zog ihn hoch. Unter stechenden Schmerzen kletterte der Staatsmann, an die schwingenden Hüften der Frau gelehnt, die Treppe hoch. Mischa, der Kuhhirte, schlief noch immer. Malka ging zum Bett des Staatsmannes und schlug es auf. Plötzlich dämmerte es Dulnikker, daß noch nie eine Frau in seiner Gegenwart ein Bett gemacht hatte. Dann fiel ihm freilich ein, daß Gula genau das Abend für Abend seit Dutzenden von Jahren machte. Schließlich fuhr ihm die idiotische Vorstellung durch den Kopf, daß seine Frau ein Mann sei. Aus irgendeinem Grund versuchte er ein Bild heraufzubeschwören, wie Gula vor ihrer Ehe ausgesehen hatte, und entdeckte, daß er sich eine völlig Fremde vorstellte.

»Ich danke Ihnen aus Herzensgrund, Madame.«

»Nennen Sie mich Malka.«

Wieder erschien das gleiche alberne Lächeln in Dulnikkers Gesicht. Er bedeckte das Knie mit der rechten Hand, weil dort ein ziemlich großes Stück Stoff fehlte.

»Elifas ist ein reißendes Tier«, versicherte ihm die Frau. »Ich schlage vor, Sie lügen ihn an und sagen, Sie seien irrtümlich in mein Zimmer gekommen.«

Nachdem die Frau gegangen war, ging der Staatsmann wieder schlafen, und als ihn die Sonne weckte, war er allein im Zimmer. Trotz seiner immer schlimmer werdenden Schmerzen stand Dulnikker auf und wusch sich hastig in der Tonschüssel, die der Wirt für ihn besorgt hatte. Dann ging er wieder ins Bett, um stumm zu leiden. Das Auftauchen von Elifas unterbrach seine seltsamen Gedanken.

»Ich wollte Ihnen wirklich nicht weh tun, mein Herr«, entschuldigte sich der dicke Mann, als er ängstlich das zerschundene, bös zugerichtete Gesicht seines Opfers betrachtete. »Ich bin vielleicht ein bißchen hitzig, wo es um meine Frau geht.«

»Meine Herren«, erwiderte Dulnikker, »seien Sie versichert, daß ich Ihr Zimmer irrtümlich betrat, weil ich es irrtümlich für das meine hielt.«

Nein, das war nicht überzeugend! Der Staatsmann spürte, daß das alles schrecklich falsch klang. »Was kann ich tun?« sagte er sich. »Ich kann eben nicht lügen! Ich bin zu ehrlich.« Also beeilte er sich, den Wirt zu fragen, wie es seinem Sekretär gehe.

»He, Kinder«, rief Elifas aus dem Fenster, »ist der Krankenwärter des Herrn schon da?«

»Er ist nicht mein Krankenwärter«, verbesserte ihn Dulnikker. »Er ist mein Privatsekretär.«

»Ihr Sekretär?« fragte Elifas verständnislos. »Was meinen Sie mit ›Sekretär‹?«

»Wollen Sie jetzt bitte einen Arzt rufen.« Dulnikker schloß müde die Augen. Elifas richtete ihm emsig die Kopfkissen und ging auf Fußspitzen hinaus. Sofort schlichen die Zwillinge herein und begannen ihr Ritual des Anstarrens. Dulnikker beschloß, die Provokation zu ignorieren und so zu tun, als schliefe er. Bald hörte er zwei Kinderstimmen:

»Er heißt Dulnikker.«

»Warum?«

»Ich weiß nicht. Der Papa sagt, er ist fast ein Ingenieur.«

»Wann ingenieurt er?«

»Wenn er redet.«

Das Gehirn des Staatsmannes arbeitete auf vollen Touren, aber er war nicht imstande, sich aus dem Gespräch etwas zusammenzureimen. Zu seiner großen Erleichterung verscheuchte Zev die Kleinen, als er eintrat. Er trug ein mit Leckerbissen beladenes Tablett, das er vor Dulnikker hinsetzte.

»Empfehlungen von Frau Malka«, berichtete er. »Aber Sie sehen ja wie ein Wrack aus, Dulnikker! Sind Sie wirklich die Treppe heruntergefallen?«

Der Staatsmann empfand einen seltsamen flüchtigen Wunsch, seinen Sekretär zu empören und zu verblüffen. Er zog Zev dicht an sich heran:

»Ich kehrte etwas deprimiert heim, als ich heute nacht zurückkam«, flüsterte er schalkhaft. »Kurz gesagt, ich ging in Malkas Zimmer.«

»Ich verstehe«, reagierte der Sekretär sofort. »Sie haben sich im Zimmer geirrt, Dulnikker.«

»Der Schmerz ist unerträglich«, stöhnte der leidende Staatsmann. »Ich wußte ja gleich, daß das so enden würde. Ich hoffe nur, daß uns der Wächter nicht erkannt hat.«

»Ich glaube, schon.«

»Guter Gott!« sagte Dulnikker aufs äußerste beunruhigt. »Wir müssen sofort ein Dementi veröffentlichen. Wieso glaubst du das?«

»Nun ja, er brachte heute morgen drei Tauben in die Küche, Dulnikker, damit Sie nicht gehen und sie bei Nacht stehlen müssen …«

Im Zimmer herrschte Stille, nur durch das Schmatzen von Dulnikkers Lippen und das Malmen seiner Backenzähne unterbrochen.

»Seien wir objektiv«, meinte der Staatsmann nach einer nachdenklichen Weile. »So wie die Dinge stehen, war es sehr nett vom Wächter, mir ein so hübsches Geschenk zu bringen. Außerdem mußt du zugeben, daß die Dorfbewohner größtenteils wohlmeinende Juden sind, die — herrschte nicht die Finsternis des Mittelalters in ihnen —, glaube ich, eine solide, ordentliche Gesellschaft in diesem Waldwinkel schaffen könnten …«

»Hauptsache«, bemerkte Zev, Gefahr witternd, »Hauptsache, unsere Taube kommt bald in der Tnuva-Zentrale an.«

»Ich glaube, daß eine bloße Diagnose des Leidens nicht genügt«, fuhr Dulnikker unbeirrt fort. »Ich sage euch, Genossen, ein Minimum an elementaren politischen Begriffen in diese Unglückseligen einzuimpfen — das ist eine Aufgabe, ein wirklicher Schöpfungsakt. Unterbrich mich bitte nicht, mein guter Freund, ich weiß genau, was du sagen willst. Natürlich habe ich nicht vor, diesen primitiven Juden ein Parteiprogramm zu schenken. Aber ich wünsche wirklich, diesen Genossen eine Anzahl soziologischer und staatspolitischer Begriffe beizubringen. Ich denke dabei an ein Seminar in kleinem Maßstab, Zev, mein Freund, nichts sonst. Und jetzt möchte ich gern deine Meinung hören.«

Amitz Dulnikker richtete sich mit dem gewissen »tatkräftigen Funkeln« in den Augen — wie das seine Kollegen nannten — im Bett auf.

»Hören Sie, Dulnikker«, sagte Zev. »Die Idee hat was für sich, aber traurigerweise fahren wir demnächst fort.«

»Und inzwischen soll ich nichts tun?« fragte der Staatsmann anmaßend. »Nein, mein Freund. Eine vollständige politische Erziehung kann ich ihnen nicht angedeihen lassen, aber wenn es mir gelänge, das Dorf seiner ideologischen Genesung auch nur einen Schritt näherzubringen, war meine Mühe nicht umsonst.«

»Bravo!« rief der Sekretär und packte die schwitzige Hand des Staatsmannes mit einem männlichen harten Griff. Dulnikker errötete leicht, wie immer, wenn er das Gefühl hatte, daß er seinem Ruf gerecht geworden war.

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Als der Arzt kam, hatte Dulnikker schon das Bett verlassen und bemühte sich, im Zimmer auf und ab zu gehen. Der Arzt, ein glattrasierter Mann mittleren Alters, begrüßte ihn freundlich.

»Hermann Spiegel«, stellte er sich vor. »Ich bin wirklich froh, den Ingenieur persönlich kennenzulernen.«

»Ich bin kein Ingenieur«, erwiderte der Staatsmann. »Ich heiße Amitz Dulnikker!«

Der Name sagte dem Arzt nichts. Er bat Dulnikker, sich flach auf dem Rücken auszustrecken, betrachtete dann lange seine Fingernägel, spähte in seine Ohren und öffnete schließlich Dulnikkers Mund zu einer schnellen Besichtigung seiner faulenden Zähne.

»Sie sind sechzig, äh?«

Dulnikker war sprachlos. Als man vor kurzem seinen 58. Geburtstag zum zweitenmal gefeiert hatte, war er 61 gewesen. Er hielt sich jedoch nur für 55, obwohl er in Wirklichkeit über 67 war. Insgeheim hatte er beschlossen, Anfang des nächsten Jahres seinen 65. Geburtstag zu feiern.

»Ich habe unmenschliche Schmerzen, Doktor Spiegel«, klagte er. Der Arzt legte ihm die Hand auf den Nacken.

»Sie sind Internist?« fragte Dulnikker.

»Nein, Tierarzt.«

»Was haben Sie gesagt?« donnerte der Staatsmann. »Hat denn dieser Ort keinen Menschendoktor?«

»Natürlich nicht!« donnerte Hermann Spiegel zurück. »Wer wäre schon so verrückt, in dieses erbärmliche Dorf zu kommen?«

Der Tierarzt nahm sofort die Gelegenheit wahr und erzählte Dulnikker die betrübliche Geschichte seines Pechs. Man hatte ihn nach Ausbruch einer Maul- und Klauenseuche nach Kimmelquell gehetzt. Hier verliebte er sich auf den ersten Blick in eine der Dorfwitwen, und der Schächter hatte sie unverzüglich getraut. Inzwischen war jedoch der Tnuva-Lastwagen abgefahren.

»Und so bin ich in diesem verdammten Nest hängengeblieben«, goß Hermann Spiegel sein Herz aus. »Dabei bin ich ein echter westeuropäischer Intellektueller, und die Leute hier sind die reinsten Tiere. Ich mache keine Besuche, ich habe keine Freunde; ich kann mich nicht an die Verhältnisse in diesem Dorf gewöhnen.«

»Wie lange sind Sie schon hier?«

»Dreißig Jahre. Und woher sind Sie, Herr Ingenieur?«

»Ich bin kein Ingenieur«, sagte Dulnikker. »Ich heiße Amitz Dulnikker!« Die deutliche Aussprache seines Namens trug gesegnete Früchte.

»Guter Himmel!« rief der Tierarzt aufgeregt aus. »Sind Sie wirklich Dulnikker?«

Ja — das war dasselbe süß-schwindlige Gefühl, das ihm so lange versagt geblieben war: Jemanden atemlos zu sehen und sich seiner schmeichelhaften Verwirrung zu erfreuen.

»Also, das ist unglaublich!« Hermann Spiegel war begeistert. »Da sind Sie also ein Verwandter des Optikers Dulnikker aus Frankfurt am Main?«

»Nein!« Der Staatsmann machte sich aus der Umarmung Spiegels frei. »Ich bin mit keinem Optiker verwandt! Ich habe nur Verwandte!«

Der Tierarzt wies den Staatsmann an, eine Woche im Bett zu bleiben und seine heilenden Glieder mit kalten Umschlägen zu behandeln. Er verbot ihm, zuviel Wasser zu trinken, weil das seinen Magen aufschwellen lassen könnte. In den folgenden Tagen genoß Dulnikker Malkas hingebungsvolle Pflege. Sie strahlte vor schmeichelnder Bewunderung für den Mann, der um ihretwillen ein solches Risiko auf sich genommen hatte. Jedesmal, wenn sie mit dem Staatsmann sprach, enthielt ihr Lächeln etwas wie eine geheimnisvolle Ermutigung, und ihre flinken Finger ließen Dulnikkers Blut jedesmal prickeln, wenn sie seine Verbände wechselte.

Abgesehen davon fühlte sich der Staatsmann nicht wohl, an seine harte Matratze gefesselt zu sein. Jedermann kannte seine legendäre, angestrengte, überströmende Energie — die angeborene Fähigkeit »Dulnikkers, der Maschine« für die er sich selbst gern hielt. Und mit Ausnahme seiner häufigen Herzanfälle lag Dulnikker nie krank im Bett. Nur einmal, vor langer, langer Zeit, als er noch der junge Leiter einer neuen Zementfabrik war, war er gezwungen gewesen, seine Tätigkeit einige Tage wegen eines Magengeschwürs zu unterbrechen. An sein Bett gefesselt, hatte sich Dulnikker fast verzehrt vor Sorge, daß das Produktionsniveau unter seiner Abwesenheit leiden könnte. Er flehte seine Mitdirektoren an, es ihn unverzüglich und sofort wissen zu lassen, sollte die Produktionskurve — Gott behüte — einen Trend nach unten zeigen, in welchem Fall er selbst noch aus dem Grab in die Fabrik zurückkehren würde, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Dulnikker blieb einen Monat im Krankenhaus, während die Produktion um acht Prozent anstieg. Seither war er nie wieder krank geworden.

Es war daher nicht überraschend, daß der Staatsmann nicht durchhalten konnte. Sein erhabenes Ziel — die Erziehung des Dorfes — brachte ihn schnell auf die Beine. Am dritten Tag war Dulnikker aus dem Bett und begab sich auf die Straße, wo ihn Zev mit einem wartenden Pferd und einem zweirädrigen Wagen überraschte. Es war derselbe Karren, der dem stummen Pfeifenraucher gehörte. Der Sekretär hatte das Gefährt für zwei Wochen von ihm gemietet. Es wurde bald klar, daß das Holpern des bäuerlichen Fahrzeugs dem Staatsmann große Schmerzen verursachte, und daher zog es Dulnikker vor, zu Fuß dahinzuhinken, während ihm der Karren langsam folgte.

Der Staatsmann zog bald einige Aufmerksamkeit auf sich, weil er — wie das Gerücht verlautete — mit seinem Krankenwärter zusammen versucht hatte, für die Frau von Elifas Hermanowitsch eine Taube zu stehlen. Die Bauern drückten ihre Hochachtung dadurch aus, daß sie Dulnikker zunickten, wenn sie auf der Straße an ihm vorbeikamen. Darüber hinaus aber blieben sie dieselben friedlichen Leute, deren gemessener Schritt ihn so sehr erbitterte.

»Selbstgefälligkeit«, versicherte Dulnikker seinem Sekretär auf einem ihrer Spaziergänge. »Es ist klar, daß sie in dem Sumpf der kollektiven Apathie versinken. Einer einzigen starken Persönlichkeit, in der der gewisse Funke der Führernatur lebt, könnte es gelingen, ein bißchen Gärung in dem Dorf zu erzeugen. Aber wer sollte das sein? Vielleicht der Schuhflicker?«

»Wie soll ich das wissen?« erwiderte der Sekretär gleichgültig. »Jedenfalls ist seine Tochter recht lebhaft.«

»Dir, mein fauler Freund, geht es nur um dein Vergnügen«, sagte Dulnikker wütend. »Immer muß ich alles selber machen!«

An diesem Punkt kehrte der Staatsmann seinem Sekretär den Rücken und betrat gleich darauf den Schusterladen. Zev setzte sich unter eine große Linde, riß einen Grashalm ab, legte ihn quer über seine gespitzten Lippen und begann auf ihm zu blasen. Er hatte sich noch nie so gelangweilt wie in den letzten paar Tagen.

Der Laden Zemach Gurewitschs war nichts als ein kleiner Raum an der Seite seines Hauses und enthielt einen Tisch, zwei Schemel, einen Hammer, ein Stemmeisen, etwas Pech und eine Menge über den ganzen Fußboden verstreute Schuhleisten. Auf dem einen Schemel saß ein alter Mann mit einem fahlen Gesicht, der Holznägel in eine Schuhsohle trieb. Zemach Gurewitsch war soeben von seinem Feld zurückgekehrt und hatte seinen Lederschurz angelegt. Er begrüßte den Staatsmann mit einem leichten Nicken, aber der alte Mann hob kein Auge, um ihn auch nur anzusehen.

»Meine Herren«, sagte der Staatsmann zum Schuhflicker, »ich habe ein Paar gute Schuhe, aber ich möchte, daß Sie Gummiabsätze darauf geben, damit mein Schritt elastischer wird. Wenn Sie nichts dagegen haben, schicke ich Ihnen morgen meinen Sekretär mit den Schuhen herüber.«

»Habe nichts dagegen«, erwiderte der Schuhflicker, »aber nicht morgen, Herr Ingenieur.«

»Ich bin kein Ingenieur.«

»Trotzdem nicht morgen, weil ich die Absätze erst durch den Barbier bei der Tnuva bestellen muß.«

Der im taktischen Manöver so erfahrene Staatsmann ergriff sofort die sich ihm bietende Gelegenheit.

»Ich möchte wissen«, sagte er, während er Gurewitsch und seinem Gehilfen Zigaretten anbot, »warum es der Barbier sein muß, der die Warenliste aufstellt?«

Der Schuhflicker und der Alte tauschten verblüffte Blicke.

»Er stellt nichts auf«, versicherte der Schuhflicker. »Er schreibt nieder, was ihm die Leute sagen.«

»Selbst das ist eine achtbare Funktion im Dorfleben«, meinte Dulnikker. »Es liegt mir fern, mich in Ihre Angelegenheiten zu mischen, meine Herren, aber es scheint, daß Sie, Herr Gurewitsch, die Aufgabe genauso getreu erfüllen könnten. Die Dorfbewohner besuchen nicht nur den Friseurladen. Ihre Institution, als Grundlage aller Schusterarbeit, kommt in häufigen, direkten Kontakt mit ihnen. Ist Ihnen nie eingefallen zu fragen, warum der Barbier ernannt wurde, um die Liste zu führen, und nicht Sie?«

»Ich hab’ mir darüber Gedanken gemacht, Herr Ingenieur«, gab Gurewitsch zu, »und recht ist es nicht!«

»Also dann«, begann Dulnikker seine Schnellfeuerrede, »treten Sie an das Tor des Dorfes hinaus und sagen Sie den Mitbürgern: ›Auch ich bin ein Handwerker, nicht weniger als der Barbier, und auch ich will Anteil haben an der Aufstellung der Liste!‹ Würden Sie das tun, Genosse?«

»Nur wenn ich verrückt wäre, Herr Ingenieur«, erwiderte Gurewitsch gelassen. »Es war wirklich nicht recht von uns, dem Barbier das ganze Zeug aufzuladen. Aber von mir verlangen, mir freiwillig noch eine Arbeit auszusuchen, der jeder sonst versucht, aus dem Weg zu gehen — Sie werden schon entschuldigen, Herr Ingenieur, aber ich bin doch nicht auf den Kopf gefallen.«

Woraufhin sich der Schuhflicker an seinen Tisch setzte, seinen Hammer hob und zum Staatsmann sagte:

»Sie schicken also Ihren Krankenwärter nächste Woche her, Herr Ingenieur.«

»Er ist mein Sekretär«, murmelte Dulnikker, als er den Laden verließ. Er fand seinen Krankenwärter unter der Linde ausgestreckt, auf seinem Grashalm hohe Töne blasend. Die Wut des Staatsmannes erreichte einen bisher ungeahnten Gipfel. Mit einer schnellen, wütenden Gebärde entriß er Zev den Grashalm, und während er den Sekretär die Straße mit entlang zog, erzählte er ihm die ganze schändliche Angelegenheit. Er beschloß sein Klagelied:

»Dieses Dorf verkommt hoffnungslos.«

Der Sekretär warf einen besorgten Blick auf die vorquellenden Adern des Staatsmannes.

»Nur einem zurückgebliebenen Geistesschwachen könnte es entgehen, was sich hier abspielt!« brüllte Dulnikker. »Wo ist das Dorfratsgebäude, frage ich! Wo ist die öffentliche Parkanlage, frage ich! Wo ist das Industrieviertel, frage ich! Ist es nicht abnormal, daß ein Dorf dieser Größe nicht einmal — einen Bürgermeister hat?«

»Wozu brauchen diese guten Leute einen Bürgermeister?« plädierte Zev. »Ich sehe nicht ein, warum Sie es nötig finden, sich so über sie aufzuregen.«

»Der Mensch hat ein Gewissen«, erwiderte der Staatsmann. »Was mich wirklich wurmt, ist, daß ich keine Möglichkeit finde, sie aus ihrer chronischen Dumpfheit zu ziehen — und niemand will mir dabei helfen! Ich glaube«, Dulnikker warf einen zornigen Blick auf den Karren zurück, der sie mit ohrenzerreißendem Kreischen begleitete, »ich glaube, es ist an der Zeit, daß wir dieses Transportmittel loswerden.«

»Wie Sie wünschen«, sagte der Sekretär nachdenklich, »obwohl gerade das die Lösung sein könnte.«