Anti-Farmpolitik
Nach dem Vorfall in der »Dorfrunde« ließ sich zwischen den Dorfbewohnern und den beiden Männern fast keine Bande anknüpfen. Sie waren gezwungen, ihre Freizeit trotz ihrer Unerfahrenheit in Tatenlosigkeit in Zweisamkeit zu verbringen.
»Mein Freund«, platzte Dulnikker heraus, als er mit seinem Sekretär die Dorfstraße auf und ab schlenderte, »das ist ja nicht einmal ein Dorf; es ist ein übelriechendes Loch! Nicht nur, daß diese Leute Hunderte von Jahren hinter der Zivilisation zurückgeblieben sind, sondern schlimmer: Sie sind auch geistig schrecklich unterentwickelt.«
Der Sekretär bohrte mit den Schuhen im Kies der Straße.
»Ich spreche zu dir, Freund Zev! Warum bist du geistesabwesend?«
»Ich hab’ letzte Nacht kein Auge zugemacht, Dulnikker. Die ganze Nacht haben die Hunde gebellt und die Grillen gezirpt, und selbst die Hähne fangen in diesem Dorf schon um Mitternacht zu krähen an.«
»Das ist doch nichts im Vergleich zu dem, was ich gelitten habe, mein Freund. Mein Zimmer wimmelt von Mäusen, während die Katzen auf dem Dach im Chor jaulen. Als ich endlich einschlief, nachdem ich zwei Schlaftabletten genommen hatte, wachte ich plötzlich auf und entdeckte, daß mich jemand rüttelte, weil ich — sagte er — laut schnarche. Da entdeckte ich, daß in meinem Zimmer noch jemand wohnt und in dem anderen Bett schläft. Dieser Zimmergenosse ist niemand anderer als der Dorfhirte und schwachsinnige Verwandte meines Hauswirtes. Genossen, habt ihr schon je von einer solchen Frechheit gehört?«
»Hören Sie, Dulnikker, ich habe Sie rechtzeitig gewarnt, Sie sollten lieber auf zwei Monate in die Schweiz fahren. Aber Sie wollten ja unbedingt hierher kommen.«
»Wer wollte unbedingt?« fuhr der Politiker auf. »Ich?«
»Ja, Sie, Dulnikker!«
»Nu — und wennschon?« brüllte Dulnikker, und sein Gesicht lief wieder rot an. »Habe ich mir nicht etwas Ruhe verdient?«
»Etwas Ruhe?« höhnte Zev. »Stellen Sie sich vor, Dulnikker, was geschehen würde, wenn Sie, Gott behüte, in diesem grandiosen Kurort Zahnweh bekommen.«
Sie waren kaum zwanzig Schritt weitergegangen, als Dulnikker einen immer stärkeren Schmerz in einem unteren Backenzahn verspürte, und sein Zorn auf seinen Sekretär war nun doppelt gerechtfertigt. Er hätte den Burschen schon längst im Stich gelassen, wenn er nur von irgendeinem anderen Menschen in der Gegend gewußt hätte, imstande und bereit, sich mit ihm zu unterhalten. Der Staatsmann hatte keine große Lust, in seinem Zimmer zu bleiben, schon deshalb nicht, weil ihm die Kinder mit den Wasserköpfen auf die Nerven gingen. Dulnikkers Verhältnis zu Kindern war immer schon sehr kühl gewesen. Seine Frau war nicht mit Nachkommen gesegnet worden, und der Politiker hatte sich seinerzeit fast mit einem Gefühl der Erleichterung dringenderen Angelegenheiten zugewandt. Die Zwillinge schienen ihn jedoch für einen Gegenstand immerwährenden Interesses zu halten, und vom ersten Augenblick an ließen sie ihn nicht aus den Augen. Dulnikker merkte deutlich, daß er früher oder später mit ihnen ins Gespräch würde kommen müssen.
»Wie heißt ihr denn, meine Jungen?« fragte er sie am zweiten Tag seiner Wanderung durch das Dorf.
»Majdud!« erwiderte der eine.
»Hajdud!« erwiderte der andere.
Dulnikker hatte keine Ahnung, wie das Gespräch fortsetzen. Er war imstande, Jugendlichen aller Arten und politischer Bewegungen stundenlang Vorträge zu halten, aber die Kunst, mit Kindern zu reden, hatte er noch nicht gemeistert.
»Ihr seid einander ähnlich«, stellte er schließlich mit äußerst begrenzter Einfallskraft fest. Die kleinen Lümmel brachen in Gelächter aus.
»Blödsinn. Hajdud ist ähnlicher«, erklärte Majdud. Sie kicherten wieder und rannten davon. Dulnikker schloß, daß sich die Unverschämtheit der Kinder auf die Meinung der älteren Generation gründete, obwohl die Dörfler keinerlei Interesse an ihm zeigten. Wenn die Leute auf der Straße an dem Staatsmann vorbeigingen, taten sie es, ohne mit der Wimper zu zucken. Der Staatsmann hatte in jenen mißlichen Tagen das Gefühl, als sei ihm die Kehle zugestöpselt worden.
In der zweiten Nacht konnte er sich nicht länger zurückhalten. Nachdem sich der riesige Kuhhirte geräuschvoll auf sein Bett hatte fallen lassen, raffte Dulnikker seinen Mut zusammen und sprach seinen Zimmergenossen an:
»Entschuldige, Mischa, daß ich dich zu so später Stunde störe, da du bestimmt erschöpft bist, aber vielleicht könntest du mir sagen, ob ihr die Kühe kollektiv melkt oder jeder Farmer seine Kühe persönlich melkt?«
»Wer?« fragte Mischa. Diese prompte, wenn auch etwas unklare Antwort ermutigte den Staatsmann, weiterzureden, um an den Kern der Sache heranzukommen. Das laute Schnarchen des Kuhhirten setzte jedoch seinen Hoffnungen ein Ende. »Primitiver Esel«, zischte Dulnikker in die bedrückende Dunkelheit und versuchte, ein bißchen zu sich selbst zu sprechen. Aber bald war er gezwungen aufzuhören, weil er entdeckte, daß er es nicht aushielt, sich zuzuhören.
Dulnikker und sein Sekretär saßen bei einem nahrhaften Frühstück im Eßzimmer des Wirtshauses. Die Qualität der Nahrung befriedigte beide; sie beanstandeten einzig, daß Malka mit zuviel Kümmel kochte. Auch waren sie durch das an sie gerichtete Ersuchen leicht verstört, mit dem Wasser zu sparen, da dieser Gebrauchsartikel wegen der großen Höhenlage nur in beschränkter Menge in das Dorf gepumpt wurde.
Ein junger, ausgemergelter Bursche in Schwarz mit einem schütteren Bart tauchte oft in der Küche auf und spähte in die Töpfe und Pfannen. Dulnikker fragte den dicken Elifas, was da vor sich gehe, und erhielt hierauf die Auskunft, daß der Ausgemergelte der Dorfschächter sei, der die Küche persönlich überwache.
»Heißt das, daß Sie koscher kochen?« fragte Dulnikker.
»Nein«, erwiderte der Wirt, »warum sollte es koscher sein?«
»Aber warum«, fragte Dulnikker hartnäckig, »warum muß dann die Küche vom Schächter überwacht werden?«
»Weil kein Rabbi in ein so kleines Dorf käme.«
»Ich werde noch verrückt in diesem Loch«, sagte Dulnikker zu seinem Sekretär. »Kannst du das verstehen?«
»Natürlich«, sagte Zev. »Sie halten das als ein Symbol dessen aufrecht, was ihre frommen Vorfahren in Rosinesco zu tun pflegten. Übrigens überwacht der Schächter nicht nur die Küche, er ist auch der Dorfschulmeister.«
»Wieso weißt du das?«
»Ich habe es mit der Tochter des Schuhflickers erörtert.«
»Ich habe es erörtert? Er unterhält sich mit jemandem!« grübelte Dulnikker und hörte zu kauen auf, weil sein Mund voll des bitteren Speichels der Eifersucht war.
»Zev!« sagte er heiser. »Diese lächerliche Situation kann so nicht weitergehen! Bitte setz dich sofort mit dem Ortsrat in Verbindung und finde heraus, wie die Situation eigentlich steht. Ich verlange ja keinen offiziellen Empfang für mich, aber es gibt Grenzen!«
Zev rief den Wirt auf den Plan.
»Herr Elifas, ich möchte mit den Leitern des Ortsrates sprechen.«
»Was?« sagte Elifas erstaunt und blinzelte heftig. »So was gibt’s hier nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil einfach keiner da ist.«
»Meine Herren«, sagte Dulnikker tadelnd zu ihm, »wir fragen Sie, wer die Angelegenheiten dieses Dorfes leitet!«
»Malka!« rief Elifas. »Komm her, meine Liebe; sie reden schon wieder unverständlich.«
Dulnikker führte das Gespräch mit bemerkenswerter Selbstbeherrschung, wiederholte seine Frage in Gegenwart der Frau und betonte deutlich jede Silbe.
»Also, Madame, wer kümmert sich um die Dorfaffären?«
»Wir haben keine solchen Affären.«
»Heiliger Himmel!« brüllte Dulnikker. »Gibt es denn niemanden hier, der alles richtet, der zum Beispiel die Dorfbewohner informiert, wann, sagen wir, der Tnuva-Lastwagen fällig ist?«
»Das richtet niemand im besonderen«, erwiderte Malka. »Der Barbier sagt es den Bauern beim Rasieren.«
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Noch am selben Abend ging Dulnikker zum Barbier. Um die Wahrheit zu sagen, angesichts der Tatsache, daß sein elektrischer Rasierapparat zuunterst im Schrank lag, rechtfertigte sein zwei Tage alter Bart seinen Entschluß. Der Barbierladen befand sich neben dem Wirtshaus, im Vorderteil des Hauses von Barbier Salman Hassidoff. Dulnikker war deprimiert, als er den Barbierladen betrat, obwohl sein Zahnweh wunderbarerweise in der Nacht vorher verschwunden war, als er entdeckt hatte, daß seine unteren Backenzähne links ja alle falsch waren.
In dem kleinen Barbierladen drängten sich ungefähr ein Dutzend Bauern auf einigen Bänken zusammen und warteten in einem Schweigen, das üblicherweise nicht zu Barbierläden gehört. Der magere Schächter stand in einer Ecke des Ladens und betete in einem flüsternden Singsang, während sein hagerer Körper vor und zurück schwankte: Die wartenden Kunden bildeten sein Quorum. Der Staatsmann setzte sich ans Ende der letzten Bank, ohne auch nur irgendeine menschliche Reaktion hervorzurufen. Kurz darauf kam der breitschultrige Schuhflicker herein — Dulnikker bemerkte zum erstenmal, daß er hinkte — und sagte zum Barbier:
»Zwei Schachteln Holznägel Nr. 3.«
Der Barbier, klein, untersetzt und völlig kahl, gab mit einem Nicken zu verstehen, daß er gehört hatte, und schrieb etwas in ein dickes Notizbuch. Der Schuhflicker nickte und setzte sich wortlos neben Dulnikker. ‘Und wenn du dich auf den Kopf stellst, ich sag kein Wort zu dir!’ sprach der Staatsmann stumm seine Verurteilung aus, weil er dem Kerl sein aufrührerisches Benehmen nicht vergessen konnte.
»Mein Freund«, wandte er sich an den Schuhflicker, »sind Sie der Dorfschuster?«
»Ja.«
»Warum haben Sie dann, wenn ich fragen darf, ausgerechnet den Barbier um Holznägel gebeten?«
»Für Reparaturen.«
Wieder senkte sich das drückende Schweigen über die gewandten Sprecher, und Dulnikker konnte in jedem Glied spüren, wie sein Blutdruck hemmungslos stieg und stieg. Plötzlich stand der Staatsmann auf und überraschte die Bauern mit der Bitte, ihn vorzulassen, weil ihm schwindlig sei. Sie waren alle, etwas verblüfft, einverstanden, und der Staatsmann setzte sich vor den erblindeten und verzerrenden Spiegel über dem schaumgefüllten Becken.
»Rasieren? Haarschneiden?« fragte der Barbier.
»Natürlich nur rasieren, mein Freund«, erwiderte Dulnikker und fuhr sich mit der Hand über die vereinzelten grauen Haarsträhnen auf dem Kopf. »Aber bitte, schleifen Sie Ihr Rasiermesser, weil ich einen harten Bart habe. Ehrlich gesagt, bin ich es gewöhnt, mich mit einem elektrischen Rasierapparat zu rasieren, daher könnte meine Gesichtshaut empfindlich auf ein Rasiermesser reagieren. Aber das ist unwichtig. Mit der Zeit werden wir das schon überwinden. Warum verlangt ihr keinen Strom, mein Freund?«
»Wir verlangen«, erwiderte der Barbier und seifte den Staatsmann mit schnellen Pinselstrichen ein.
»Wann habt ihr verlangt, wenn ich fragen darf?«
»Jedes Jahr, seit den letzten fünfundzwanzig Jahren.«
»Und?«
»Es wird erwogen.«
»Jetzt geht nicht herum und verurteilt die Regierung, Genossen!«
Hier erhob Dulnikker die Stimme und ignorierte den Schaum, der ihm in den Mund geriet. »Die Regierung unternimmt die höchsten Anstrengungen in allem, was die Entwicklung der unterentwickelten Gebiete betrifft. Natürlich ist hier weder die Zeit noch der Ort, die Frage zu prüfen, aber ich werde versuchen, euch die wahre Situation sehr kurzgefaßt zu erklären. Nun, die Frage ist die: Was hat Vorrang, die Entwicklung des Industriepotentials oder die Bedürfnisse der Bevölkerung? Mich dünkt — beides!«
»Fertig«, sagte der Barbier und wischte dem Staatsmann das Gesicht ab.
»Schön«, sagte Dulnikker, »dann Haarschneiden auch. Also, wie ich gesagt habe …«
»Tut mir leid, mein Herr, dazu habe ich keine Zeit.«
Als der Staatsmann den Barbierladen verlassen hatte — ohne Haarschnitt —, verfiel der Laden wieder in seine vorherige Stille. Die Bauern saßen auf den Bänken und rauchten friedlich ihre Pfeife.
»Wer ist das?« fragte ein neugieriger Bursche nach einer Weile, und man sagte ihm: »Er wohnt im Wirtshaus, kein Mensch weiß, warum.«
»Ist mit Koffern gekommen«, unterbrach der Schächter eine Sekunde lang sein Beten.
»Es heißt, er ist irgendein Schauspieler«, bemerkte jemand. »Er deklamiert Gedichte.«
»Er ist krank«, meinte der Schächter, »und der Junge pflegt ihn.«
In dem Punkt waren sie alle einer Meinung.
»Sein Krankenwärter schläft in meinem Haus«, informierte sie der Schuhflicker. »Er erzählte meiner Tochter, daß der Alte ein großer Politiker oder so ist.«
»Politiker-oder-so?« staunten sie. »Warum?«
Etwas Grundlegendes war da nicht klar.
»Was ist eigentlich«, fragte endlich jemand, »ein Politiker-oder-so?«
»Ein Mensch«, meinte der Barbier, »der Befehle gibt. Fast wie ein Ingenieur.«
»Bestimmt besitzt er Grund und Boden.«
»Ich kenne die Art«, sagte der Schuhflicker. »Sie verpachten ihren Boden, dann gehen sie hin und lassen sich’s gut gehen.«
»Jedenfalls«, bemerkte der Schächter, »hoffe ich, er fährt bald heim. Er ist lästig.«
»Stimmt«, versicherten die Versammelten, »er ist lästig.«
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Dulnikker überquerte die Straße mit jener eisernen Entschlossenheit, die alle seine schicksalhaften Entschlüsse begleitete, und platzte ohne anzuklopfen in das Haus des Schuhflickers. Bei seinem Eintritt traf er den Sekretär in einer Ecke des Wohnzimmers mitten in einem höchst persönlichen Zwiegespräch mit einer jungen Blonden an. Das Auftauchen des Staatsmannes ließ zwischen den beiden jungen Leuten eine kleine Lücke entstehen. Der Sekretär setzte hastig wieder seine Brille auf, aber die Blonde mit dem Babygesicht starrte Zev weiter an, als sei er ein junger Gott in Person. Das befriedigte Lächeln auf ihren Lippen erregte aus irgendeinem Grund die Wut des Staatsmannes. Mit einer energischen Geste winkte er seinen Sekretär heran.
»Zev«, flüsterte er ihm zu, »ich bin nicht bereit, auch nur einen Tag länger in diesem Sauloch zu verbringen, wo selbst die Friseure taubstumm sind! Von mir aus kannst du ja dableiben, wenn du willst. Falls du aber Lust hast mitzukommen, pack sofort deine Sachen, mein Freund. Morgen früh fahren wir!«
»Meine Sachen sind bereits gepackt!« Zev lachte herzlich, und ohne die düster dreinblickende junge Dame zu beachten, eilte er mit Dulnikker zum Wirtshaus.
»Das Dorf hat ein entsetzlich niedriges politisches Niveau«, erklärte der Staatsmann die Faktoren seines Entschlusses. »Mit vierzig Jahren Intellektualität, Programmerstellung und Funktionärsleben hinter mir kann man mich nicht zwingen, meine unschätzbare Zeit mitten in einem Haufen ungebildeter Nullen zu verbringen! In diesem Loch gibt’s ja nicht einmal Strom, geschweige denn eine einzige Zeitung!«
»Endlich!« Zev seufzte erleichtert auf. »Morgen nachmittag werde ich für uns Zimmer in irgendeinem schicken Schweizer Hotel reservieren.«
»Einverstanden«, erklärte Dulnikker, »aber sei nicht überrascht, mein Freund, wenn ich in Zukunft in Sachen Ferien und Genesungsurlaub deinen Rat nicht mehr beachte.«
Der Sekretär schwieg, wohl wissend, daß zu solchen Zeiten auch nur ein einziges übereiltes Wort alles verderben konnte. In bester Laune — am Horizont winkte die Freiheit — packten sie miteinander Dulnikkers Habe zusammen. Dann hüpfte Zev eilig die Treppe hinunter, um mit Elifas abzurechnen. Ehrlich gesagt, verriet der Wirt unverkennbare Zeichen der Erleichterung, als er den Sekretär ihre Abreise verkünden hörte.
»Großartig«, sagte er. »Alles Gute Ihnen, Herr Krankenwärter.«
Der Sekretär hielt sich nicht lange mit Verabschiedungen auf, sondern erkundigte sich ungeduldig, wo man im Dorf telefonieren könne.
»Telefonieren?« Elifas begann wieder zu blinzeln. »Was meinen Sie damit?«
Zev erbleichte auf der Stelle. In ihrer großen Freude, trunken vor Abschiedswonne, hatten sie offensichtlich ein paar Kleinigkeiten übersehen.
»Wie kann ich einen Brief von hier absenden?« fragte Zev zögernd. Elifas klärte die Sache auf, daß sie seit nunmehr fast zwanzig Jahren keine postalische Verbindung mehr mit der Außenwelt hatten. Vorher war immer zweimal im Jahr jemand nach Safad gefahren, um die Post von draußen abzuholen, aber schließlich hatten sie diese überflüssige Dienstleistung aufgelassen.
»Danke«, flüsterte der Sekretär und schleppte sich schwer die Treppe hinauf.
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In der folgenden Nacht schlüpfte Dulnikker um halb zwei aus dem Bett, in das er sich angezogen gelegt hatte, und ging auf Fußspitzen auf die Straße hinunter. Sein Sekretär erwartete ihn bereits hinter einer Linde versteckt. Beide waren — unter emotionalem Druck — so gespannt und aufgeregt, daß sie einander feierlich die Hand drückten, etwas, das sie noch nie getan hatten.
»Gehen Sie zurück, Dulnikker«, flüsterte Zev, »ich kümmere mich selbst darum.«
»Nicht daran zu denken«, erwiderte der Staatsmann. »Ich will sichergehen, daß alles laut Plan klappt.«
Beim Vollmondschein — wie das bei solchen Vorgängen üblich ist — huschten sie von Baum zu Baum bis zum Rand des Dorfes. Bevor sie jedoch die letzten Häuser hinter sich gelassen hatten, brach zorniges Gebell los, und zwei Dorfhunde schlossen sich ihnen an. Dulnikker konnte Hunde nie ausstehen, besonders seit dem Vorjahr, als ihn der Terrier des persischen Delegierten bei der Asiatischen Landwirtschaftskonferenz gebissen hatte. Jetzt, mitten in der Nacht, war er einfach wütend. Er begann die bellenden Kreaturen mit Rasenstücken zu bewerfen und verfluchte sie in den abscheulichsten Ausdrücken, bis die lärmenden Tiere am Ende des Dorfes umkehrten und mit eingezogenem Schwanz zu ihren Häusern zurückzogen.
»Immer muß ich alles selber machen!« sagte Dulnikker vorwurfsvoll zu seinem Sekretär. Als sie zum Lagerhaus kamen, atmeten sie freier. Die Tauben schliefen friedlich in ihrem Taubenschlag und plusterten sich im Schlaf gelegentlich mit einem freundlichen Gurren auf. Dulnikker zog den Zettel aus der Tasche und las ihn noch einmal durch:
Hilfe! Sendet sofort Wagen. Es geht auf Tod und Leben!
Amitz Dulnikker
»Soll ich hinzufügen, daß auch Reporter mitkommen sollen?« fragte er Zev, der bereits langsam die Leiter emporkletterte.
Zev brachte ihn nervös zum Schweigen, indem er sagte, Reporter würden ohnehin kommen. Dulnikker starrte liebevoll die hübschen Tauben an, in denen er die Boten der Erlösung aus der Falle namens »Kimmelquell« erblickte. Inzwischen öffnete sein Sekretär das Türchen des Taubenschlags, fing mit zitternder Hand eine der Tauben und zog sie heraus. Der überraschte Vogel begann mit den Flügeln zu schlagen, und der Sekretär purzelte fast von der Leiter. Er brachte die Taube dem Staatsmann hinunter, sie banden ihr den Zettel ans Bein und ließen sie los.
»Kleines Vögelchen, Vögelchen!« flüsterte der Sekretär und warf den Vogel in die Luft. Aber die treue Taube kehrte auf seine Schulter zurück. Dulnikker, der vor Aufregung fast platzte, brach einen dünnen Zweig von einer Hecke und versuchte mit ihm, den goldigen Vogel wegzuscheuchen.
»Flieg, Vögelchen, flieg! Wenn nicht, bring’ ich dich um!« drohte er der Taube und fuchtelte ihr mit seinem Zweig vor dem Schnabel herum, bis schließlich der Lagerhauswächter durch die seltsamen Geräusche geweckt wurde und aus seiner Wohnung im Hinterhaus herauskam.
»Was geht hier vor?« schrie er, während er seine Hose festband.
Sein plötzliches Auftauchen änderte das Gleichgewicht der Kräfte völlig. Die erschrockene Taube stieg auf und verschwand in der Finsternis, während sich die beiden Verbrecher so tief wie möglich duckten und ins Dorf zurück entwichen. Das Geschrei des Wächters beschleunigte ihren Lauf, so daß sie sich ihren eigenen Pfad durch die stacheligen Heckenzäune bahnten. Nach einer Viertelstunde stummen Kampfes gegen die zerstörenden Kräfte der Natur blieben die beiden Flüchtenden stehen und blickten zurück, nur um zu entdecken, daß sie, statt gegen Dornen anzukämpfen, die Straße hätten hinunterlaufen können, die parallel und nur wenige Schritte entfernt von ihrem Weg verlief.
»Ich kann einfach nicht verstehen, warum du das nicht selber hättest tun können!« beklagte sich Dulnikker bei seinem Sekretär. »Muß ein alter Mann von fast siebzig Jahren wirklich solche Aufregungen mitmachen?«
Der Sekretär reinigte keuchend seine Brille vom Schlamm und sagte nichts. Sie trennten sich in einer Atmosphäre stummer Feindseligkeit. Dulnikker kroch fast die Holztreppe hinauf. Er öffnete die Tür, hinkte zum Bett, und ohne die Schuhe auszuziehen, ließ er sich total erschöpft mit dem Gesicht nach unten darauffallen. Unverzüglich umfingen ihn zwei warme Arme, und eine erschrockene Stimme flüsterte ihm ins Ohr: »Mein Mann ist da!«
Wenige Sekunden später wurde neben dem Bett ein Streichholz angezündet, eine Männerhand packte Dulnikker und zog ihn unwiderstehlich geradewegs zur Tür. Dann versetzte Elifas Hermanowitsch dem Staatsmann einen Fußtritt in den Hintern und warf ihn wirbelnd die Treppe hinunter.
Dulnikker fiel vor der Küchentür flach auf den Boden und schlief auf der Stelle ein.