4:55 Uhr
Spring Garden Station, Hochbahnstrecke
Market-Frankford
Als Jack sich den Weg in den hinteren Teil
des Busses bahnte und dabei die Sekunden zählte – er hatte dank der
Mary Kates schon genug Kopfschmerzen gehabt -, stand seine
Retterin, Angela, auf und zog an dem schmutzigen weißen Kabel, das
oberhalb der Fenster entlanglief. Ein gequältes Klingeln ertönte.
Auf der blauen Leuchtanzeige im vorderen Teil des Busses stand
WAGEN HÄLT.
»Kann ich kurz mit dir reden?«
»Nein«, sagte Angela und schob sich an ihm
vorbei.
»Nur eine Minute.«
»Verdammter Mist«, sagte sie, aber nicht zu Jack.
Sie griff nach der Metallstange neben dem Hinterausgang. Der 43er
bewegte sich auf die äußere Spur der Spring Garden Street und unter
einer Überführung hindurch. Soweit Jack sehen konnte, gab es hier
nur Gehwege und Betonmauern, übersät mit jahrealtem Taubendreck.
Warum stieg sie hier aus?
Der Bus hielt an. Ein erneutes Zischen. Gefolgt von
einer kurzen Pause. Dann setzten sich die Doppeltüren zitternd in
Bewegung und schwangen zur Seite. Angela eilte die Stufen hinunter,
verließ den Bus.
Jetzt hieß es: Angela oder der Busfahrer. Aber
eigentlich waren das keine wirklichen Alternativen. Soviel Jack
wusste, war hier das Ende der Linie.
Er hatte kaum Zeit, darüber nachzudenken, dass er
zehn Dollar für eine Busfahrt bezahlt hatte, die ganze zwei Blocks
gedauert hatte. Angela betrat eine Art Haltestelle, die in die
Stützpfeiler des Highways darüber integriert war. Selbst so früh am
Morgen, da die Sonne an der Ostküste noch kaum zu sehen war, konnte
Jack das Vibrieren und Brummen der Autos fühlen und hören. Sein
Blick fiel auf ein Schild: MARKET-FRANKFORD EL. Alles klar, EL wie
in Chicago. Philadelphias eigene kleine Hochbahn.
Das Ticket erwies sich doch noch als äußerst
nützlich. Er kam damit auf den Bahnsteig. Nachdem er sich durchs
Drehkreuz geschlängelt hatte, entdeckte Jack an der Wand einen
Ständer mit Broschüren. Fahrpläne. Vielleicht gab es da auch einen
Stadtplan. Wäre es zu viel verlangt, oh Höhere Macht, dass er dort
einen Stadtplan fand, auf dem die örtliche Dienststelle des FBI
eingezeichnet war? Handelte es sich dabei nicht vielleicht um eine
Sehenswürdigkeit? Womöglich konnte er sie mit dieser Hochbahn sogar
erreichen. Er konnte sich einfach jemandem anschlie ßen, einem der
Pendler, jemandem, der so früh schon unterwegs war; er konnte ihm
oder ihr zum Gebäude folgen, dann durch die Eingangstür huschen,
den Angestellten am Empfang aufsuchen und zu ihm sagen: »Ich
brauche sofort Hilfe.«
Aber der Pendlerverkehr setzte erst etwas später
ein.
Auf dem Bahnsteig standen nur zwei weitere
Personen; Angela und ein älterer Typ in einem gestreiften
Hemd. Eines dieser gestreiften Hemden, die seit mindestens
fünfzehn Jahren aus der Mode waren: mit verschiedenfarbig
gestreiften Feldern. Die eine Schulter des Typen war rot, unten
links der Bauch blau. Dann gab es noch etwas gelb und orange. Ein
Typ, den Jack vom College kannte, hatte so ein Hemd getragen. Es
war damals für ungefähr fünf oder sechs Wochen angesagt gewesen,
soweit er sich erinnerte.
Der Typ mit dem gestreiften Hemd hatte sich am Rand
des Bahnsteigs postiert und blickte Richtung Innenstadt. Angela
wartete auf der anderen Seite, wo die Züge Richtung Frankford
abfuhren.
Jack eilte zu dem Typen mit dem gestreiften Hemd.
Es gab keinen Grund, Angela in Panik zu versetzen, solange er nicht
wusste, was er als Nächstes tat. Jack klappte den Fahrplan auf. Es
gab keine Karte, aber dort stand, dass die erste Hochbahn in der
Früh hier um 5.07 Uhr hielt, also in ein paar Minuten.
Halt, Moment. Da: Angela entfernte sich noch mehr.
Er durfte sie nicht zu weit fortgehen lassen. Er musste in der Lage
sein, die Entfernung innerhalb weniger Sekunden zu überbrücken,
bevor der Schmerz zu groß wurde. Was konnte er ihr sagen, damit sie
ihm seine Geschichte glaubte? Jetzt verstand er Kellys
Gesprächseinstieg viel besser. Die ganze Giftgeschichte, die sie
sich ausgedacht hatte, um ihn alleine auf ein Zimmer zu lotsen.
Damit er ihr zuhörte.
Bloß die Sache war die: Er hatte ihr nicht
geglaubt. Nicht, bis es zu spät war. Welche Chance hatte er da,
Angela zu überzeugen?
Gerade wälzte sich die Sonne über den Horizont wie
das glimmende Ende einer dicken Zigarre. Draußen am Flussufer
wurden die halbfertigen Stahlkonstruktionen zweier hoch aufragender
Gebäude von Licht überflutet. Die Luft wurde merklich wärmer. Die
Feuchtigkeit trieb Jack Schweißperlen auf die Stirn.
Was sollte er ihr sagen?
Ach, ihm fiel schon was ein. Das Wichtigste war,
dass er an ihr dranblieb. Dass er sie nicht verängstigte, ihr aber
näher kam. Auf eine angemessene Entfernung – etwas weniger als drei
Meter. Nicht ganz die Länge eines Geländewagens.
Sie bemerkte ihn aus dem Augenwinkel und fing an,
sich zu entfernen.
Verdammt. Jack wollte nicht hier sterben, auf
diesem feuchten Bahnsteig.
Angela entfernte sich jetzt sogar noch mehr.
Was konnte er ihr bloß sagen?