4:42 Uhr
Dritte und Spring Garden
Jack spuckte etwas Blut auf den Gehsteig und wunderte sich, dass er noch nicht tot war. Nicht dass er nicht um jeden Preis versucht hatte, das zu verhindern. Er hatte gebrüllt und gebettelt und sich in die Zierleiste im Treppenhaus gekrallt, bei Gott, aber der Arier-Typ war stärker, und das Gejammer schien ihn nur noch wütender zu machen. Man hatte ihn kurzerhand auf die Straße geworfen und ihn davor gewarnt, auch nur an diesen Ort zu denken, geschweige denn, zurückzukehren oder darüber zu schreiben. Sonst würden sie sich seine Frau und seine Tochter vorknöpfen.
Die Straße war vollkommen verlassen.
Und er fragte sich: Warum pochte es nicht in seinem Kopf? Arbeiteten die Mary Kates nicht richtig?
»Hau ab, Arschloch.«
»Arschgesicht.«
»Arschgeige.« Dann ertönte heiseres Gelächter. Und ein rasselnder Husten.
Jack drehte sich um.
Es waren mindestens zwei von ihnen, die dort im Schatten herumschlichen, etwa zwei Meter hinter ihm. Crack-Huren. Man weiß, dass man einen neuen Tiefpunkt erreicht hat, wenn man von zwei Crack-Huren verspottet wird. Doch solange sie dort stehen blieben, ging es ihm gut. So lange war er in der Lage, zu atmen und zu denken und sich das Blut von Mund und Nase zu wischen … Ach, und da, es war auch überall auf seinem Hemd. Vielleicht war er zu wählerisch. Vielleicht sollte er sich den Crack-Huren anschließen und sich für die nächsten Stunden etwas Gesellschaft sichern, bis das Gift ihm den Rest gab. Wenigstens würde sein Gehirn nicht explodieren, und vielleicht ergab sich ja ein interessantes Gespräch. Tja, das Leben steckte voller amüsanter Möglichkeiten.
Wenn er ihnen etwas Geld gab, konnte er hier vielleicht eine Weile bei ihnen sitzen bleiben.
Aber nein. Nicht mal das konnte er. Seine Brieftasche war noch oben. Für immer. Er konnte unmöglich zurückgehen, um sie zu holen.
Was bedeutete, dass er ein weiteres Flugzeug verpasste.
Was bedeutete, dass er hier festsaß und wahrscheinlich hier sterben würde.
Außer er hielt durch bis – wann, bis um acht? Machte die Dienststelle des FBI in Philadelphia um diese Zeit auf? Oder arbeiteten die Jungs von neun bis fünf?
»Fettarsch.«
»Oberarsch.«
Er wusste nicht mal, wo er sich hier befand. Vielleicht in der Nähe der City Hall? Er sah die Spring Garden Street hinunter Richtung Westen und erkannte die blauen Spitzen der Liberty-Place-Türme und irgendwelche anderen Wolkenkratzer, aber nichts, was dem gelbäugigen Uhrturm der Philadelphia City Hall ähnelte. Es war schon komisch, dass er irgendwann mal davon ausgegangen war, er hätte alle Zeit der Welt, um sich nach seinem Acht-Uhr-Termin im Sofitel Hotel noch ein paar Sehenswürdigkeiten anzuschauen. Er hatte die Freiheitsglocke sehen wollen, egal was Kelly White darüber gesagt hatte.
»Arschficker.«
»Hey, fickt euch selber, ihr zwei!«
Eine der beiden warf eine Flasche nach ihm. Sie knallte auf den Gehweg und zersplitterte direkt vor seinen Händen.
»Arsch.«
»Gib mir’nen Dollar, du Arsch.«
Er sah die Spring Garden Street rauf und runter. Keine gelben Autos. Rein gar nichts. Nur auf der anderen Straßenseite eine Bushaltestelle aus Plexiglas, an deren Querstrebe in kleinen weißen Lettern die Nummer 43 angebracht war. In dem Häuschen stand eine Frau im weißen Smoking-Hemd und schwarzen Hosen, das brünette Haar hinters Ohr gestreift.
Heilige Scheiße.
Angela aus dem Club.
Sie war jetzt seine einzige Hoffnung.
Auch wenn Jack sich für einen Agnostiker hielt – zu viele Jahre hatte er unfreiwillig auf den Bänken katholischer Kirchen verbracht -, konnte er manchmal nicht anders, als einen großen Plan hinter allem zu sehen. In seinem tiefsten Inneren glaubte er, dass eine höhere Macht am Werk war, und wenn man nur wusste, wie die Zeichen zu deuten waren, gab es aus jeder Situation einen Ausweg. Er nannte das seine »Batman-Theorie der Religion«. Der Rächer mit dem Umhang, der immer wieder zu Robin sagte: »Jede Notlage hält ihre eigene Lösung parat.« Wenn das Leben eine Falle war, dann hielt es ebenfalls Lösungen parat. Selbst wenn es den Anschein hatte, dass die Falle schnell zuschnappte, das Licht schwächer wurde, die Daumenschrauben angezogen wurden. Denn dort war sie. Angela. Warum sollte sie sonst da an der Ecke stehen und auf den Bus warten, wenn das nicht Teil des großen Plans war? Sie hätte mit dem Wagen hinter dem Club parken können. Sie hätte sich von einem Freund abholen lassen können. Sie hätte ein Taxi rufen können. Aber nein.
»Schönen Morgen noch, die Ladys«, sagte Jack, während er aufstand und sich den Schmutz von den Händen wischte. Bei seiner kleinen Rutschpartie über den Asphalt hatte er sie sich aufgeschürft.
Vom unteren Ende der Spring Garden Street her näherte sich jetzt ein Bus. Undeutlich konnte er die Anzeige oben am Bus erkennen. Linie 43.
»Arschleuchter.«
Jack eilte über die Straße, und als er sie zur Hälfte überquert hatte, merkte er, wie sehr sein rechtes Bein schmerzte. Er wusste nicht, ob es nur steif war oder ob er sich tatsächlich verletzt hatte, als er auf den Gehweg geknallt war.
Als er dann den Mittelstreifen erreichte, fing sein Kopf an zu pochen.
Gütiger Himmel. Nicht jetzt schon.
Er überquerte den Rest der Straße, so schnell er konnte, und verlangsamte das Tempo erst, als er die Haltestelle fast erreicht hatte. Das Letzte, was er wollte, war, Angela zu erschrecken, sie zu verjagen. Die Crack-Huren fanden das wahrscheinlich zum Schreien komisch. Hey, guck mal, der weiße Typ steigt in die Eisen. Gleich legt er sich auf die Fresse.
Jack glaubte, Angela, die inzwischen in ihrer Hosentasche nach dem Fahrgeld kramte, hätte den Blick die ganze Zeit auf den Bus gerichtet gehabt. Aber jetzt sagte sie, ohne ihn anzusehen: »Was soll das hier werden?«
»Ich will nur den Bus kriegen«, sagte er außer Atem.
»Das ist echt kaputt.«
Der Bus hielt an. Die Bremsen pufften und keuchten. Und ein hohes Quietschen zerriss die frühmorgendliche Stille. Der Motor ratterte heftig; es grenzte an ein Wunder, dass die Verkleidung am Gestänge blieb. Dann öffnete sich zitternd die Doppeltür.
Angela stieg in den Bus, warf etwas in den zerkratzten Fahrscheinautomaten und verzog sich ans hintere Ende des Busses. Jack stieg ein und versuchte, rasch die Schilder mit den Tarifen zu überfliegen. Das war alles schrecklich verwirrend. Anschlüsse, Zonen, Grundpreis … zwei Dollar. Zwei Dollar?
»Eine Fahrt kostet zwei Dollar?«
»Zwei Dollar«, sagte der Fahrer. Er hatte hier und da einige Bartstoppeln im Gesicht, und seine Augen waren rot unterlaufen.
Jack griff in seine Gesäßtasche, dann fiel ihm ein, wo sich seine Brieftasche befand. Nein. Nein nein nein. Linke Vordertasche, nichts, rechte Vorder… oh, Gott sei Dank. Ein Zehner und ein Ein-Dollar-Schein. Sein Wechselgeld aus der Flughafenbar vom gestrigen Abend.
»Können Sie einen Zehner klein machen?«
Der Fahrer seufzte. »Nur passendes Geld.« Er nickte vage Richtung Tarifschild.
»Kommen Sie, Kollege, können Sie mir nicht eine Tageskarte oder so was verkaufen?«
Der Fahrer antwortete gar nicht erst, so als wäre die Frage unter seiner Würde.
»Rein oder raus.«
Jack ließ fluchend den Zehner in den Automaten gleiten. Offiziell hatte er jetzt noch einen Dollar in der Hand, keine Kreditkarten und steckte in einer fremden Stadt fest, in der ihn eine fremde Frau vergiftet und mit tödlichen Nanomaschinen infiziert hatte … Ach ja, und in der seine einzige Freundin eine Kellnerin war, die in einem italienischen Restaurant arbeitete und dubiose Clubs besuchte, in denen Bullen nach Feierabend dafür bezahlten, dass sie dabei zusehen durften, wie sie einen Sattel mit einem Dildo bestieg.
»Vergessen Sie Ihr Ticket nicht«, sagte der Fahrer und reichte Jack einen dünnen Streifen weißgraues Papier.
Der Bus fuhr an.
Blondes Gift
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