32
Um fünf Uhr schob Ann den Laptop in ihren Aktenkoffer und wandte sich mit den Worten an Jasha: »Ich fahr jetzt, um ein bisschen Zeit mit Kresley zu verbringen. Ich komm später zu deinem Haus.« Sie nannte es immer sein Haus - als wollte sie ihn damit ärgern. Meistens stellte er sich dann taub oder antwortete: Okay, wir treffen uns zu Hause.
Zu Hause war seine Retourkutsche.
Als sie an jenem Abend jedoch seinen Blick auffing, waren seine Augen schmal und rot glühend.
»Ist irgendwas?« Ihr schwante Böses. Seit dem Telefonat mit Boris war Jasha einsilbig und reserviert. Sie konnte sich denken, weshalb. Er hatte einen Plan, den er für richtig hielt, den aber sonst niemand billigen würde.
Und sie bestimmt am allerwenigsten.
»Fahr zu deinem Apartment, hol deinen Kater und bring ihn mit«, sagte er schroff.
Obwohl Ann innerlich kochte, bemühte sie sich um einen ruhigen, sachlichen Ton. »Kresley kann dich nicht leiden.«
»Wir kommen schon miteinander klar.« Sein Blick bohrte sich in ihren. »Und bei mir zu Hause fühlt er sich bestimmt wohler als in deinem leeren Apartment.«
»In meinem leeren Apartment?« Ann stutzte und tat mechanisch einen Schritt auf seinen Schreibtisch zu. »Das soll wohl ein Witz sein, oder?«
»Ich hab dich noch nicht über mein morgendliches Telefongespräch informiert.«
»Mit Boris?« Sie blieb stocksteif stehen.
»Ja, mit Boris.« Jasha bemühte sich um Fassung. »Ich hab ihn aus dem Tiefschlaf geholt, aber er ist wie ein Tier. Er war sofort hellwach. Fragte, was mit seinem Sohn sei. Ich erklärte ihm, ich hätte ihn umgebracht und sein Herz verspeist. Er schüttelte diese Nachricht ab wie eine lästige Fliege und beteuerte, dass der Junge ohnehin bloß ein Schlappschwanz war. Und dass er meine skrupellose Brutalität bewundern würde. Er schlug mir einen Waffenstillstand vor.«
Ann hatte umfassend Recherche betrieben. Ihr konnte man kein X für ein U vormachen. »Da kennst du die Varinskis aber schlecht. Dazu würden die sich niemals hergeben.«
»Ich weiß. Ich kenn die Familie besser und länger als du. Mein Vater hat mir ihre Taktiken lang und breit erläutert. Was sie beteuern und was sie tun, sind zwei Paar Schuhe.« Jasha umrundete seinen Schreibtisch, baute sich vor ihr auf. »Ich möchte nicht, dass du weiterhin in dein Apartment fährst.«
»Und deshalb hast du meine Möbel in dein Haus transportieren lassen? Heute?« Sie funkelte ihn empört an. »Wieso hast du mich nicht vorher informiert?«
»Hör auf, das Ganze zu dramatisieren.« Er fasste ihre Handgelenke.
»Ich und dramatisieren? Na, hör mal! Du hast mich nicht gefragt, du hast keinen Ton darüber verlauten, sondern einfach meine Möbel abtransportieren lassen, und da soll ich mich nicht aufregen?« Okay, er war überheblich, arrogant und besserwisserisch, aber das hier war der Gipfel!
»Du bist sowieso jeden Abend bei mir. Demnach schien es mir sinnvoll, deine Möbel zu mir zu holen, hm?« Er machte sich nicht lustig über sie. Es war ihm bitter ernst mit seiner Schnapsidee.
Auf ihren Wangen bildeten sich hektisch rote Flecken. Sie ballte die Fäuste und entwand ihm ihre Handgelenke. Riss die Arme hoch, als wollte sie ihm ins Gesicht boxen. »Das Apartment ist meine erste eigene Wohnung, mit den ersten Möbeln, die ich mir selbst ausgesucht habe. Ich fühle mich dort mit meinem Kater pudelwohl! Im Übrigen - wieso ziehst du nicht bei mir ein? Dann würdest du einen Eindruck bekommen, wie es ist, wenn man immer hin- und hergeschoben wird.«
»Es tut mir leid. Ich wusste nicht, dass es deine erste eigene Wohnung ist.«
Er wirkte ehrlich betroffen, und das schockierte sie. Aber wozu dann das Ganze?
»Ich hätte bestimmt kein Problem damit, bei dir einzuziehen«, gab er zurück, »aber dein Apartment ist im Ernstfall nicht sicher genug.«
»Na und? Die Ikone liegt schließlich in deinem Safe.« Und das verstimmte sie zusätzlich. Okay, das Bild war nicht wirklich ihr persönliches Eigentum, aber alle meinten - nun, wenigstens sie und Zorana -, dass sie die Hüterin der Ikone war.
»Ich sorge mich nicht um die Ikone, sondern um dich.«
»Red nicht um den heißen Brei herum: Du findest dein Haus eben viel schöner«, zog sie ihn auf.
»Nicht schöner. Größer und leichter zu bewachen.«
Aha, daher wehte der Wind. »Ich bitte dich. Als wenn der große Jasha Wilder mit mir in meinem klitzekleinen Apartment wohnen wollte …«
Er küsste sie.
Es war der erste Kuss, seit er sie gebeten hatte, seine Frau zu werden. Damit überrumpelte er Ann. Obwohl sie den ganzen Tag mit ihm zusammen war, fühlte sie sich einsam und von ihm allein gelassen.Völlig verblüfft öffnete sie ihm die Lippen, öffnete ihm ihr Herz und ihre Seele, die so ungeheuer verletzlich war. Sie küsste ihn leidenschaftlich und lustvoll.
Als er sich von ihr löste, machte er den Fehler zu lächeln. Dieses Lächeln kannte sie zur Genüge. Das hatte er schon bei etlichen Frauen eingesetzt. »Bitte, Ann, du musst mir glauben. Ich liebe dich, und ich möchte dich heiraten.«
Noch vor einem Monat wäre sie bei diesen Worten, seinem hinreißenden Lächeln dahingeschmolzen.
Jetzt wäre sie diesem Schuft am liebsten an die Gurgel gegangen. »Wenn du meinst, du kannst so mit mir umspringen wie mit deinen anderen Affären, dann bist du schief gewickelt. Schreib dir das hinter die Ohren, Schätzchen!«
»Du täuschst dich, Ann. Und zwar gewaltig. Du bist etwas ganz Besonderes für mich.« Seine Hände glitten über ihren Po, zogen sie an seinen Schritt, woraufhin sie seine Erektion fühlte. »Andere Frauen schaffen es nämlich nicht, dass ich vierundzwanzig Stunden lang einen Steifen hab.«
»Soll ich mich jetzt geschmeichelt fühlen oder was?« Ihre Stimme troff vor Sarkasmus, obwohl ihre Knospen verhei ßungsvoll prickelten und ihre Libido verrückt spielte.
Sie war puppenleicht zu durchschauen. Das fühlte er, das witterte der Wolf in ihm.
Umwerfend. Diese Frau war das bezauberndste Geschöpf, das er sich in seiner Fantasie auszumalen vermochte.
»Nein, deswegen nicht. Du könntest dich aber geschmeichelt fühlen, wenn ich dir sage: Ich liebe dich. Das hab ich noch zu keiner Frau gesagt.« Ungeachtet seiner milde gereizten Stimme fuhr seine Hand sinnlich langsam ihre Wirbelsäule entlang, seine Finger kraulten zärtlich ihren weichen Nackenflaum.
»Ich wäre geschmeichelt, wenn du das nicht einfach so dahersagen würdest.«
Sein Gesicht lief dunkelrot an, seine Augen verengten sich zu wütenden Schlitzen. Endlich hatte sie es geschafft, ihn aus der Fassung zu bringen.
»Was soll ich denn noch sagen, du kleine Sicherheitsfanatikerin?«
»Was?« Wie kam er denn darauf? »Das ist nicht wahr.«
»Anfangs warst du auf der Suche nach einem Traummann, irgendeinem Gutmenschen, der dich von deiner Einsamkeit erlöste. Dann, als ich mich in einen Wolf verwandelte, als du die Ikone fandest, als dir auffiel, dass wir um unser Leben und um unsere Seelen rangen, wolltest du türmen - bis ich dir bewies, dass ich dich beschützen würde. Immer. Danach warst du willens, bei mir zu bleiben.«
»Wie kannst du so was behaupten!« Sie rempelte ihn unsanft mit den Ellbogen an, damit er sie endlich losließ.
Er hielt sie fest. »Als ich von Liebe sprach, wolltest du mir nicht glauben. Na schön. Du musst mir nicht glauben. Red dir ruhig weiter ein, dass dir meine Liebe nicht gut genug ist. Dann lass mich wenigstens tun, was ich am besten kann, nämlich dich vor allen Widrigkeiten beschützen.«
Er klang bitter und böse, und das Schlimme war: Er hatte teilweise Recht.
Und damit brachte er Ann erst richtig auf die Palme. »Okay. Ich zieh bei dir ein - bis die Gefahr vorüber ist, egal, wie lange es dauert. Aber das mit der Ehe kannst du getrost vergessen. Ein Mann wie du hat bei mir keine Chance.«
»Ein Mann wie ich hat bei dir keine Chance? Wie meinst du das?« Jasha wurde blass.
»So, wie ich es sage. Du weißt alles besser und überfährst mich dauernd. Du vertraust mir nicht wirklich, sonst würdest du mir deine Geheimnisse beichten.«
»Ich bin bestimmt nicht der Einzige, der hier Geheimnisse hat, oder?«
Ihre Miene gefror unter seinem beschwörenden Blick.
»Das dachte ich mir.« Er kraulte weiterhin ihren Nacken, während ihr Mienenspiel sich veränderte. Zumal seine Geste weniger zärtlich als sexy fordernd anmutete. »Du weißt um meine Geheimnisse«, murmelte er.
»Falsch, du bist immer für eine Überraschung gut«, ätzte sie. »Vielleicht wäre ich sonst …«
»Freiwillig bei mir eingezogen?« Ihre Nervenenden vibrierten, während er sinnlich ihre Ellbogen und Knie, die Innenseiten ihrer Schenkel streichelte. »Wenn ich die kleinste Chance auf dein Einlenken gewittert hätte, hätte ich dich bestimmt vorher informiert. Immerhin ist es normalerweise Aufgabe einer Sekretärin, Umzüge zu arrangieren.«
Seine leise verletzende Anspielung verblüffte sie, und für einen Augenblick fehlten ihr die Worte. Sie war Jashas persönliche Assistentin - das hatte sie sogar schriftlich, in ihrem Anstellungsvertrag -, und er hatte sie noch nie als seine Sekretärin bezeichnet. Er ermutigte sie sogar, Aufgaben an andere Sekretärinnen zu delegieren.
Ann war von sich selbst überrascht, dass sie wie ein Feuerwerkskörper hochging. »Ich hasse dich. Ich hab noch keinen Menschen so gehasst wie dich!« Und das war ihr voller Ernst - aber vielleicht beteuerte sie es in diesem Augenblick auch bloß aus purem Selbsthass.
Jasha schlenderte zur Tür seines Büros. Schloss ab. Als er sich wieder umdrehte, zeigte sich ein gefährliches Glitzern in seinen Augen, woraufhin Ann befremdet zurückstolperte. »Da du mich sowieso abgrundtief und auf immer und ewig hasst, kommt es darauf jetzt auch nicht mehr an. Ich werde deinen Emotionen nämlich ein bisschen nachhelfen und dir beweisen, wie sehr du mich liebst.«
Er kam mit den langen, geschmeidigen Schritten eines Raubtiers auf sie zu, und ihr Herzschlag beschleunigte sich. »Jasha, nein.«
»Wieso nicht? Was willst du denn dagegen machen?« Während er entschlossen näher kam, streifte er sich die Krawatte ab. »Du verachtest mich. Du hasst mich. Du sträubst dich dagegen, mich zu heiraten, nicht? Also, was hab ich noch zu verlieren?«
Sein heißer Atem streifte ihre Ohrmuschel, und als sie herumschwenkte, bekam sie mit, wie er seinen Gürtel aus den Gürtelschlaufen zog. »Du kannst ruhig deine Sachen anbehalten«, stammelte sie. »Hier läuft nämlich gar nichts.«
Den Atem hätte sie sich sparen können, denn er konterte: »Hast du eine Ahnung, wie scharf es mich macht, dich in diesem engen Fummel zu sehen? Klar weißt du das. Gib’s zu, du hast den Rock bloß deswegen angezogen, um mich anzumachen.«
Sie registrierte seinen maskulinen Duft, fühlte seinen Atemhauch an ihrem Ohr, als er hinter sie trat. »Nein, hab ich nicht.«
Er lachte ungläubig. »Du trägst die ganze Woche über Röcke, meinst du, ich merk das nicht? Deine Taktik ist genial und vor allem, sie funktioniert. Du hast Wahnsinnsbeine, und der Schlitz in diesem Rock …«
Sie erschauerte, als sich seine Hand über die Innenseite ihres Schenkels schob.
»Der Schlitz in diesem Rock zeigt verdammt viel von deinen schönen Beinen. Ich würde gern wissen, was für ein Höschen du darunter trägst.« Seine Stimme senkte sich zu einem kehligen Flüstern. »Einen Bikinislip? Einen Tanga? Oder vielleicht ein Höschen aus feiner Baumwollspitze?«
Ihr Mund war mit einem Mal wie ausgetrocknet, und sie klemmte unwillkürlich die Beine zusammen, fühlte sich nackt in ihrem winzigen Tanga.
»Weißt du, was ich mir in meiner Fantasie ausgemalt habe?«
»Keine Ahnung. Interessiert mich nicht das Schwarze unterm Fingernagel.« Eigentlich interessierte es sie brennend.
»Wie wir es auf der Hantelbank treiben. Ich sah dich, mit gespreizten Schenkeln, vornübergeneigt, das Gesicht von mir abgewandt, während ich …« Er umschlang blitzartig ihre Taille, dass Ann die Spucke wegblieb und sie nicht mal aufkreischen konnte. Und wirbelte sie mit einer geschmeidig tänzelnden Bewegung herum - wobei ihre Kniekehlen vor die Hantelbank stießen und sie die Balance verlor.
Er fing sie auf, drehte sie mit dem Gesicht zu dem Gerät und schob mit einer lasziv gekonnten Bewegung ihren Rock hoch.
Ann blinzelte verwirrt. Sie stand am Ende der Bank, vorn übergebeugt, ihre Hände umklammerten die chromblitzenden Halterungen.
Seine Fantasie schien mit einem Mal Realität geworden.
Er stöhnte lustvoll, streichelte die vollkommenen Rundungen ihres Hinterns. »Ann, du bringst mich um.«
»Sobald ich dich in die Finger kriege. Darauf kannst du Gift nehmen.« Allerdings schloss sie die Augen, als er den dünnen String ihres Tangas beiseiteschob und sie streichelte. Seine Finger erkundeten ihre Klitoris, schoben sich in sie, erforschten ihre seidigen Tiefen, glitten langsam höher.
Ihre Hände umklammerten die Bank so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.
Himmel! Es war heller Tag; sie hatte die Beine weit gespreizt; er sah ihre weibliche Scham, ihr dunkel gelocktes Vlies, und sie fühlte sich ihm hemmungslos ausgeliefert. Und er wartete nicht auf ihre Einladung, er nahm sich, worauf er Lust hatte. Er war eben der geborene Autokrat - und Ann hätte ihn am liebsten bestürmt, nicht lange zu fackeln.
Er streifte ihr den Tanga herunter - ein Schritt in die richtige Richtung. Er bog Ann vornüber, schob ihre Schenkel, die sich an die kühle Hantelbank schmiegten, weiter auseinander.
Sie hörte, wie seine Boxershorts leise raschelnd zu Boden glitten. Dann zwängte er sich dicht hinter sie. Presste sich an ihren Steiß und streichelte sie mit seinem Penis.
Er war groß und prall, seine Haut seidig-heiß, und Ann wünschte sich, er würde nicht so lange herumfummeln und … »Ich hasse dich«, wisperte sie abermals.
»Und?«
Sie rieb sich an ihm wie eine läufige Wölfin. »Und … Jasha, ich brauch dich jetzt.«
»Ja Baby, das ist es. Genau das wollte ich hören.«
Angesichts seiner arroganten Retourkutsche wäre sie liebend gern herumgeschnellt, um ihn wütend anzupflaumen.
Aber von wegen, er stieß unversehens in sie.
Seine Penisspitze rieb sich erregend an ihrem feuchten Verlies. Durch sein plötzliches Eindringen krampfte sich ihre Vagina spontan zusammen, und Jasha hätte sie beinahe zu einem Orgasmus gebracht. Als er sich zurückzog, gab sie ihn nur widerstrebend frei, und er stöhnte.
Er drängte abermals in sie, wieder und wieder, und Ann stemmte sich impulsiv in jeden seiner wilden, heißen Stöße.
Sie begehrte ihn.Verzehrte sich nach ihm. Und sehnte sich nach der süßen Erlösung, jenen Momenten, in denen sie ihren Körper von purer Lust durchflutet fühlte, während sie und Jasha eins wurden.
Sie beugte sich so weit vor, dass ihre Wange die Hantelbank berührte, ergab sich der Choreografie ihrer Bewegungen, der Melodie ihres Stöhnens, dem animalischen Mix ihrer Düfte. Fieberte ihrem Orgasmus mit allen Sinnen entgegen.
»Bitte«, hörte sie jemanden sagen. »Bitte.« Und erkannte ihre eigene, bettelnde Stimme.
Dann glitt seine Hand zwischen ihre Leiber. Seine Finger rieben behutsam ihre Klitoris, bescherten Anns Lust selige Wonnen. Sie erschauerte, wand sich in krampfhaften Zuckungen, und als sie es nicht mehr aushalten konnte, schrie sie ihre Lust laut heraus.
Und er war bei ihr. Mit virtuosen Händen dirigierte er ihr Becken, vor und zurück, während er sich tief in sie stemmte, Ann Begehren, Lust, Befriedigung und erneutes Begehren verschaffte.
Ja, wahrhaftig, sie hasste ihn, aber er hatte Recht - ihre Liebe war stärker, und wenn sie nicht aufpasste, hatte er leichtes Spiel mit ihr: Sie konnte sich seinem Einfluss nicht entziehen. Sobald ihre Erregung verebbte, erkannte sie nämlich, dass sie seine Stimmungen daran witterte, wie sich sein Duft veränderte.
Seit wann war das so? Wann hatte er sie dahingehend manipuliert?
Er glitt aus ihr heraus, und sie räkelte sich himmlisch erschöpft auf der lackgepolsterten Bank.
»Ann.« Er umschloss ihre Taille und half ihr, sich aufzusetzen, zog ihr den Rock unter den Po. Er setzte sich neben sie, schob seine Hand in ihre. »So geht es nicht weiter. Wir müssen reden. Wir müssen ehrlich miteinander sein.«
»Genau das finde ich auch.« Sie riskierte einen kurzen Seitenblick zu ihm.
Er sah müde aus, gestresst und befriedigt, alles zusammen.
Womöglich sah sie genauso aus, dachte Ann.
Er wusste nicht, wieso sie ihn kratzbürstig auf Distanz hielt, und das machte es so kompliziert zwischen ihnen. Ann seufzte. Demnach würde sie ihm die ganze verworrene, verwirrende Geschichte erzählen müssen - die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.
Zum ersten Mal in ihrem Leben würde sie jemandem ihr Geheimnis erzählen - nein, zeigen.
»Ich hab deinen Antrag nicht bloß deswegen abgelehnt, weil deine Mutter darauf drängte, dass wir heiraten«, begann sie. »Es gab noch andere Gründe.«
»Ich würde niemals heiraten, um meiner Familie einen Gefallen zu tun. Wenn es darum ginge, hätte ich schon mit zwanzig heiraten müssen. Aber bitte - ich bin ganz Ohr. Nenn mir deine Gründe.«
Sie zog das Böse an. Und geriet dauernd an die falschen Menschen.
»Also gut. Ich war noch klein, drei oder höchstens vier Jahre alt. Und entsinne mich dunkel, dass ich in der Badewanne saß. Eine der Hospitantinnen im Konvent badete mich. Sie kreischte plötzlich auf, zeigte mit dem Finger auf mich und brüllte aus Leibeskräften.« Mit einer Freimütigkeit, die Ann selbst verblüffte, stand sie auf und schlenderte mit wiegenden Hüften zum Fenster, durch das die Nachmittagssonne in sein Büro flutete. »Mir schrillt noch im Ohr, was sie gebrüllt hat: Chimäre, Monster. Ich wusste damals zwar nicht, was das bedeutet, trotzdem kann ich mich noch genau daran erinnern.« Sie erinnerte sich auch, dass sie zu Tode erschrocken gewesen war. »Das Mädchen lief entsetzt weg. Das ist meine früheste Kindheitserinnerung.«
»Ann, ich hab dich nackt gesehen«, meinte er gedehnt. »An dir ist nichts Monströses.«
»Du hast das nicht gesehen.« Ann drehte sich mit dem Rücken zu Jasha, schob ihren Rock hoch und deutete auf das Mal. »Ich hab es mit Make-up kaschiert, damit es nicht so auffällt.«
Er schlenderte zu ihr, neugierig interessiert und sich seiner Sache sehr sicher. Er wusste, was er gesehen hatte. »Ich hab es vorhin, als wir uns liebten, bemerkt. Es ist ein Tattoo. Ich konnte zwar nicht erkennen, was es darstellt, aber nur, weil ich anderweitig beschäftigt war.« Er grinste, ein aufreizendes Zucken seiner Lippen. Puh, ein Glück, dass sie diese letzte Chance wahrgenommen hatte, sich von ihm verwöhnen zu lassen, schoss es Ann durch den Kopf. Wenn er dieses irrwitzige Ding genauer betrachtete, wäre es sowieso aus mit ihnen.
»Okay, dann sieh es dir ruhig nochmal an.« Mit der Daumenspitze rieb sie das Make-up von dem Mal, mit dem sie gezeichnet war. Und fürs Leben geschlagen, seufzte sie im Stillen.
Er bückte sich, konzentrierte den Blick auf die betreffende Stelle. Ann war klar, dass sie auf Risiko spielte.
Während er mit behutsamen Fingern Konturen und Form nachzeichnete, wartete Ann beklommen. Vielleicht begriff er jetzt, was sie vom Rest der Menschheit abhob.
Seine Augen weiteten sich, und er zog verblüfft die Hand weg. »Was …? Wie …?«
»Ich hab es seit meiner Geburt. Schwester Mary Magdalene sprach zwar nicht gern darüber, nicht mal mit mir, aber sie erläuterte mir ein paar Dinge. Sie erzählte mir beispielsweise, dass dieses Mal vermutlich der Grund war, weshalb meine Eltern mich wie ein Stück Müll in den Container warfen. Sie beschwor mich, mit niemandem darüber zu reden, sonst würde mich das Böse holen.«
»Das ist lächerlich, grotesk.« Er beugte sich erneut über das Mal. Seine Finger verharrten in der Luft, als traute er sich nicht, es noch einmal anzufassen.
»Nein, ist es nicht. Das Böse kam.«
Seine Brauen schossen nach oben. »Was ist passiert?«
»Schwester Catherine war eine junge Nonne. Eine reizende, junge Frau, die sich liebevoll um mich kümmerte. Ich war damals neun Jahre alt, und sie fand wohl, dass ich viel zu ernst war für ein Mädchen in diesem Alter. Deshalb erzählte sie mir lustige Geschichten. Sie spielte mit mir.« Ann strich ihren Rock glatt und konzentrierte sich auf Jasha. »Eines Abends, nachdem ich mit den Hausaufgaben fertig war, liefen wir nach draußen, um zu schaukeln. Sie war so hübsch und so klug, und ich wäre gern wie sie gewesen … Und wir schaukelten. Doch das Böse nahte...« Während Ann wie gebannt auf das helle Rechteck aus Sonnenlicht starrte, das sich auf dem Teppich abzeichnete, erwachten die alten Ängste zu neuem Leben, Ängste, die sie krampfhaft ausgeblendet hatte, drängten mit Macht in ihr Bewusstsein zurück. »Sie kamen, um mich zu holen. Als Schwester Catherine merkte, dass sie es auf mich abgesehen hatten, rief sie, ich solle schleunigst weglaufen. Sie kämpfte für mich, sie starb für mich, direkt vor meinen Augen.«
»Ann.« Jasha schloss sie mit einer sanft beschützerischen Geste in seine Arme. »Es war nicht deine Schuld.«
»Schwester Mary Magdalene war da anderer Ansicht.« Die Vision von Schwester Catherine, blutüberströmt und mit zerschmettertem Körper, hatte sich unwiderruflich in Anns Bewusstsein eingebrannt.
»Ich mag diese Schwester Mary Magdalene nicht.«
»Sie ist zwar nicht übermäßig nett, aber immerhin hat sie mir die Augen geöffnet. Sie erklärte mir, dass die Bösen es auf mich abgesehen hätten, es hätte irgendwas mit diesem Geburtsmal zu tun. Was, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls setzte sie hinzu, dass Gott eine Aufgabe für mich hätte, und ich solle beten, um die Kraft zu finden, sie zu erfüllen.« Ann besann sich auf die Jahre bedingungslosen Gehorsams, genährt von einer tiefen imaginären Furcht, und sie hätte sich im Nachhinein ohrfeigen mögen.
Sie hatte sich ihr Lebtag von anderen gängeln und instrumentalisieren lassen.
Zunächst hatte sie in einem Waisenhaus gelebt - ohne die kleinste Chance, jemals adoptiert zu werden, weil sie dieses mysteriöse Mal hatte.
Dann hatte sie Sekretärinnenkurse besucht, sich bei Wilder Wines vorgestellt und den Job bei Jasha bekommen. Dort hatte sie sich zu seiner Chef-Assistentin hochgearbeitet - weil sie in ihn verliebt war.
Sie hatte immer, immer nach den Regeln einer höheren Instanz gelebt, sie hatte selbstlos Opfer gebracht, nie aufgemuckt, sondern sich immer angepasst.
Niemand hatte sich je Gedanken gemacht, ob Ann glücklich war. Geschweige denn versucht, sie glücklich zu machen. Und wenn, dann bestimmt aus egoistischen Motiven.
Sie fixierte Jasha aus zusammengekniffenen Augen.
Sie hatte es satt, ihn glücklich zu machen. Es hing ihr zum Hals heraus, dauernd die Märtyrerin zu spielen.
Sie wand sich aus seiner Umarmung. »Sollte die göttliche Vorsehung von mir erwarten, dass ich dich heirate, dann muss ich leider passen. Ohne mich. Ich opfere mich weder für Gott noch für Schwester Mary Magdalene oder für deine Familie. Auch nicht für dich.«
»Du liebst mich.«
Obwohl er die ungeschminkte Wahrheit kannte, blieb er hartnäckig, das musste man ihm lassen. »Ja, aber eines weiß ich seit unserem Abenteuer in der Wildnis: Ich verdiene die uneingeschränkte Loyalität und die bedingungslose Liebe, die ich auch zu geben bereit bin.«
»Wie kommst du darauf, dass ich dir beides nicht geben werde?«
»Weil du es mir nicht geben kannst, Jasha.« Ann war sich da sehr sicher. »Du kannst nicht, weil dein Leben auf Messers Schneide steht, weil du dein Herz und deinen Verstand in die Waagschale geworfen hast, um den Pakt mit dem Teufel zu besiegen. Was, wenn Schwester Mary Magdalene die Wahrheit gesagt hat?«
»Wie meinst du das?« Er fuhr zusammen, als hätte sie ihn geschlagen.
»Wie ich das meine? Du willst es bestimmt nicht riskieren, eine Frau zu heiraten, die, wenngleich unwissend, mit dem Teufel paktiert, oder?« Sie riss ihr Sakko vom Stuhl und lief zur Tür.
»Ann, lauf doch nicht weg.«
Sie wirbelte herum und maß ihn aus irisierend blauen Tiefen.
»Weißt du was? In der Wildnis bleiben Wölfe ein Leben lang zusammen.« In seinen Blick trat ein rot glühendes Leuchten.
Nachtschwarze Küsse - Scent of Darkness
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