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Reicht mir mal den Wodka rüber! Ich möchte einen Toast aussprechen.« Die Wilder-Kinder stöhnten theatralisch, doch Konstantine Wilder, Nachfahre einer langen Ahnenreihe von Dämonenkriegern, ließ sich durch die schlechten Manieren seiner undisziplinierten Brut nicht erschüttern. Sie sollten ruhig stöhnen, und seine Gäste konnten grinsen, trotzdem erwartete die kleine Stadt Blythe im Staat Washington von ihm, dass er auf den Familienfeiern der Wilders seine obligatorische Rede hielt. Seine Ansprache gehörte genauso dazu wie die Picknicktische, die sich unter russischen Delikatessen wie kasha und tabaka bogen. Natürlich gab es auch Hot Dogs und gegrillte Maiskolben, russische Musik und Tanz, Pokerrunden, rundum alles, was für eine gute Stimmung unerlässlich war.
Er mochte seine Gäste nicht enttäuschen.
Er schritt zu dem Lagerfeuer, pflanzte sich vor den zuckenden Flammen auf. Seine Stimme erhob sich über dem Knacken der lodernden Scheite. »Meine Familie und ich flohen aus Mütterchen Russland, die Dämonen der Hölle dicht auf unseren Fersen. So kamen wir in dieses Land, wo Milch und Honig fließen.« Mit einer ausladenden Geste seiner großen Hände deutete er auf das Tal - sein Tal. »Und hier haben wir uns niedergelassen. Wir bauen Trauben an, die besten Trauben in ganz Washington. Wir haben unseren eigenen Garten. Eigenes Vieh. Geflügel. Und, noch wichtiger, wir haben unsere Kinder zu verantwortungsbewussten Erwachsenen erzogen.«
Die Bewohner von Blythe rutschten auf ihren Stühlen nach vorn und grinsten zu den drei jungen Wilders, die unwillkürlich die Köpfe einzogen, als ginge es ihnen im nächsten Augenblick an den Kragen.
»Jasha ist groß und stark und ein attraktiver Mann. Er schlägt nach mir.« Damit hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen. Ein Wolf. »Er besitzt - er ist der Chef! - seine eigene Mostkelterei in Napa, Kalifornien, wo er die Trauben seines Papas zu gutem Wein verarbeitet.« Konstantine reichte eine Flasche herum und zeigte allen stolz das Etikett. »Er ist klug. Er ist reich. Er ist mein Ältester, mein erstgeborener Sohn, und trotzdem hat er mit vierunddreißig …«
»Jetzt kommt’s«, stieß Jasha aus einem missmutig verzogenen Mundwinkel hervor.
»… keinen Funken Respekt vor seinem Vater, dessen Gehör hervorragend funktioniert.«
»’tschuldigung, Papa.« Jasha baute sich breitbeinig vor ihm auf und verschränkte die Arme vor der Brust.
Konstantine ließ sich weder von der gemuffelten Entschuldigung noch von dem Imponiergehabe seines Sohnes beeindrucken. Jedoch bemerkte er das ärgerliche Aufblitzen in Jashas goldgesprenkelten Augen. »Und trotzdem ist er mit vierunddreißig noch ein Single.«
Rurik boxte Jasha mit dem Ellbogen so fest in die kurzen Rippen, dass dieser seitwärts taumelte.
»Er bricht mir das Herz. Vielleicht möchte eine von den hier anwesenden jungen Damen ihn heiraten. Bei Interesse melden Sie sich bitte im Laufe der nächsten Woche bei mir. Dann bestelle ich das Aufgebot.« Konstantine nickte, erkennbar zufrieden, dass er einen Punkt von seiner mentalen Liste abhaken konnte: Mein ältester Sohn gehört endlich unter die Haube gebracht.
Er wandte sich seinem nächsten Opfer zu. »Rurik ist ein Abenteurer.«
»Ich bin Archäologe, Papa«, versetzte Rurik.
»Ob Archäologe oder Abenteurer - das bleibt sich gleich. Immerhin habe ich alle Indiana-Jones-Filme gesehen. Und weiß Bescheid.« Konstantine wischte Ruriks Einwand mit einer wegwerfenden Handbewegung beiseite. »Rurik ist klug, sehr klug, er hat einen glänzenden Abschluss an der Universität hingelegt. Und er ist attraktiv, genau wie sein Papa.« Mit seinen topasfarbenen Augen, den weichen braunen Locken und einem gut geschnittenen Gesicht ließ Rurik so manches Frauenherz höher schlagen. Davon konnte sein Vater ein Lied singen. »Er ist zwar nicht so vermögend wie sein Bruder, aber nach meinem Tod wird er einen Teil meines Besitzes hier in den schönen Cascade Mountains erben, folglich bringt er Geld mit in die Ehe. Ich erwähne das ausdrücklich, weil er mit dreiunddreißig …«
Jasha revanchierte sich, indem er Rurik empfindlich in den Solarplexus boxte.
»… noch Single ist. Er bricht mir das Herz. Vielleicht möchte eine von den hier anwesenden jungen Damen ihn heiraten. Bei Interesse melden Sie sich bitte im Laufe der nächsten Woche bei mir. Dann bestelle ich das Aufgebot.«
Die männlichen Gäste lachten aufgeräumt, während die anwesenden Frauen anerkennend seine Söhne taxierten. Gewiss, Blythe war ein kleiner Ort mit nur zweihundertfünfzig Einwohnern, einschließlich der umliegenden Farmen, und manche Frauen waren sehr jung, andere wiederum aus dem gebärfähigen Alter längst heraus, und etliche hatten Beine wie Baumstämme und eine Haut wie alte Baumrinde. Andererseits hatten seine Jungen sich über zehn Jahre in der Weltgeschichte herumgetrieben und keine Braut mit heimgebracht, und außergewöhnliche Umstände verlangten nun mal nach außergewöhnlichen Maßnahmen.
Konstantine hatte sich nämlich fest vorgenommen, vor seinem Tod einen Enkel in den Armen zu wiegen.
Wenn alles so gelaufen wäre, wie er und Zorana es vor fünfunddreißig Jahren geplant hatten, als sie in dieses Land kamen, würde er jetzt über Adrik sprechen …
Die Gäste fassten sich wieder und warteten gespannt. Sie wussten um seine Betroffenheit und respektierten seinen tiefen Kummer.
Adrik war ihnen abtrünnig geworden. Verloren wegen der Verworfenheit seiner Seele. Verloren an die Verlockungen des Pakts.
Konstantine tat einen langen, stoßweisen Atemzug. Bog die Schultern nach hinten und wischte den Schmerz in seiner Brust entschlossen beiseite. Breit grinsend deutete er auf Firebird. »Und schließlich haben wir da noch meine kleine Tochter. Heute feiern wir nicht nur den Unabhängigkeitstag der Vereinigten Staaten, sondern auch Firebirds einundzwanzigsten Geburtstag.« Es war unfassbar, selbst nach all den Jahren!, schoss es ihm durch den Kopf. In seiner Familie hatte es seit über einem Jahrtausend keine Mädchengeburt mehr gegeben. Bis er Vater einer Tochter geworden war. Firebird war sein kleines Mädchen, sein Baby, sein Wunder.
Von Liebe und Dankbarkeit überwältigt, fehlten ihm die Worte, und er bewunderte sie stumm. Sie war wunderschön, mit blonden Haaren, die sie jungenhaft kurz geschnitten trug, und willensstarken, strahlend blauen Augen. O ja, seine Tochter hatte ihren eigenen Kopf. Schon als kleines Kind war sie beharrlich hinter ihren großen Brüdern hergestolpert, sie hatte hartnäckig für ihre Gymnastikkür trainiert und sich das Laufen wieder beigebracht, als die Holme des Barrens brachen und ein komplizierter Beinbruch ihren Traum von einer großen Sportlerkarriere beendet hatte.
Heute Abend strahlten ihre Augen allerdings nicht so hell wie sonst.
Sie war in ihrem letzten Collegejahr erwachsen geworden. Sie war jetzt eine Frau, mit den kleinen Ticks und Geheimnissen einer Frau.
Wieso fiel ihm das jetzt erst auf?
»Meine Firebird ist eine Schönheit, und sie ist bei Weitem intelligenter als ihre Brüder.«
Ihre beiden Brüder knufften Firebird sanft in die Seite. Ihre Schwester hätten sie glatt in Watte gepackt.
»Sie bestand die Aufnahmeprüfungen an vier Colleges.« Wie um seine Worte zu unterstreichen, hob Konstantine vier Finger. »Sie war an der Brown, einer äußerst renommierten Schule. Dort schaffte sie in nur drei Jahren einen Abschluss als Softwareprogrammiererin und ihr Diplom in Japanisch.« Er schlug sich stolz auf die Brust. »Und jetzt fragen Sie sich bestimmt, wozu eine Frau die ganze Bildung braucht, was?«
Seine Zuhörer lachten von Neuem.
»Ich weiß es ehrlich gesagt auch nicht. Welcher Mann will schon eine Frau, die mehr Grips hat als er?«, sinnierte er laut.
»Ist dir wohl noch nicht aufgefallen, dass die Frauen in der überwiegenden Zahl der Fälle mehr draufhaben als ihre Männer«, versetzte Zorana trocken.
Das aufbrandende Gelächter der Gäste nahm Konstantine vorübergehend den Wind aus den Segeln, und er hob sich seine Antwort auf, bis der Tumult verebbte. Dann schüttelte er bekümmert den Kopf. »Da sehen Sie, was ich durchmache. Zwei ledige Söhne, eine blitzgescheite Tochter und eine aufsässige Ehefrau. Ich hab wahrhaftig mein Päckchen zu tragen.«
»Ach, Sie Ärmster. Wenn ich irgendwann mal Zeit finde, werde ich Sie tüchtig bedauern«, meinte Sharon Szarvas lakonisch. Sie war die Frau von River Szarvas, einem Einwanderer aus Osteuropa, und hatte keinen Funken Mitleid mit Konstantines scheinbar angeknackstem männlichem Ego.
Dafür kannte sie ihn zu gut. Er verfügte über ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, das sich durch nichts und niemanden erschüttern ließ. »Ich finde, meine Tochter sollte das Haus hüten, aber meine Frau, meine Zorana, ist dagegen. Sie möchte, dass unsere kleine Firebird flügge wird und sich in der Welt umschaut. Eines Tages kommt unsere wilde Hummel bestimmt wieder zu uns zurück.« Er nötigte sich ein Lächeln ab, wie um Firebird zu zeigen, dass es ihm mit seinen Worten ernst war, obschon es ihm mal wieder das Herz brach.
Sie lächelte zurück, ihre Lippen formten ein »Danke, Papa«.
An ihren ehrgeizigen Plänen war er nicht ganz unschuldig. Ein bisschen lag es auch an seinen Söhnen. Sie hatte die Jungs glühend beneidet, weil sie Freiheiten genossen, die einem Mädchen versagt blieben. Konstantine war klar, dass er sein Nesthäkchen von Geburt an verhätschelt hatte. Er hatte Firebird sein kleines Wunder genannt und ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen, trotzdem war sie unzufrieden.
»Liebe, verehrte Anwesende« - er deutete mit dem Finger auf seine Gäste - »obwohl Firebird einundzwanzig ist und damit im heiratsfähigen Alter, kann sie sich mit der Ehe noch Zeit lassen. Also, Männer, Finger weg von meiner Kleinen.«
Die männlichen Gäste räusperten sich verlegen. Und musterten sie heimlich. Die Winzer, die Farmer, die Rancher, die Künstler - alle hatten sie ein Auge auf seine Firebird geworfen.
Sie ignorierte die vielen Bewunderer, stattdessen presste sie eine Hand in ihr Rückgrat, legte die andere auf ihren Bauch und bedachte ihren Vater mit einem tief bekümmerten Blick.
Was war bloß auf einmal mit seinem Mädchen los?
Indes war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um ihr deshalb auf den Zahn zu fühlen.
»Du hast mir so viel Glück geschenkt. Dafür danke ich dir, liebste Zorana.« Er streckte seine Hand aus, die Zorana lächelnd fasste.
Die ein Meter fünfundfünfzig kleine, zierliche Frau hatte fein geschnittene Züge, tintenschwarze Haare, lebhafte braune Augen und ein feuriges Temperament. Sie war jünger als er, und er hatte sich damals vom Fleck weg in sie verliebt. Er liebte sie mehr als sein Leben.
Inzwischen war sie einundfünfzig, und er trug sie immer noch auf Händen. Er schlang seinen Arm um ihre Schultern, blickte zu ihr hinunter und gewahrte seine Reflexion in ihrer dunklen Iris. In ihren Augen war er ein guter Mann. Ein großartiger Mann. Ihr Ehemann.
»Diese Frau ist ein Schatz, und ich genieße jede Sekunde mit ihr«, murmelte er, mehr für sie bestimmt als für die Gäste. Küsste sie auf die lächelnden Lippen. Dann hob er den Kopf und ließ den Blick über die Tische schweifen, an denen Freunde, Bekannte, aber auch Fremde saßen. Er hob die Stimme. »Zorana und ich und meine Kinder - alle meine Kinder -, wir danken den Vereinigten Staaten von Amerika, dass sie uns die Einreise aus Russland bewilligten und wir hier eine ganz normale amerikanische Familie sein dürfen, unser eigenes Land haben und in Frieden leben können. Wir fühlen uns hier wohl und sicher, wir haben es zu einigem Wohlstand gebracht, und wir haben viele gute Freunde, die heute den Unabhängigkeitstag mit uns feiern.«
Die Anwesenden lauschten schweigend. Als jemand Beifall klatschte, standen alle auf, stimmten in den Applaus mit ein und ließen den Gastgeber hochleben.
Von weit her hörte Konstantine die alten Widersacher wütend und frustriert aufheulen, und er lächelte still in sich hinein. Das Leben, das er sich aufgebaut hatte, war perfekt.
Er deutete mit einer einladenden Geste auf die Flaschen, und alle schenkten sich eilends Wodka, Wein oder Wasser nach. Er hob sein Glas, prostete seinen Gästen und seiner Familie zu. »Za vas
»Auf euch!«, antworteten sie, und alle nahmen einen tiefen Schluck, sogar Miss Mabel Joyce, die altjüngferliche Lehrerin, und Lisa, die verrückte New-Age-Kräutertante, die alle mit Vornamen anredeten, weil man ihren Nachnamen nicht kannte, und vor allem der alte Doktor, der Firebirds Geburt glatt verpasst hatte, weil er seinen Rausch ausschlafen musste.
Dann entzündeten Jasha und Rurik ein Feuerwerk, das den nachtschwarzen Himmel mit bunt glitzernden Sternen überhauchte - und dabei setzten die beiden Idioten prompt die Wiese in Brand. Die Nachbarsjungen schleppten Eimer mit Wasser an und brüllten vor Lachen, während sie fleißig mitlöschten.
Als das Feuer gelöscht war und die Aufregung sich legte, machten sich die Nachbarn auf den Heimweg. Kopfschüttelnd dachten sie darüber, nach was die Wilder-Jungen früher alles angestellt haben mochten.
Die Nachbarn hatten keine Ahnung.
Miss Joyce stakste zu Zorana, küsste sie auf die Wange und sagte: »Meine Liebe, ein Besuch bei Ihnen ist zwar immer wieder ein Erlebnis, aber jetzt muss eine alte Frau wie ich nach Hause.«
»Besuchen Sie uns bald wieder.« Zorana war erst sechzehn gewesen, als sie mit Konstantine nach Amerika gekommen war, und sie sprach nahezu akzentfrei. »Wir vermissen Ihre Besuche.«
Miss Joyce keckerte fröhlich. »Als Ihre Jungs in unsere Schule gingen, war ich jede Woche hier. Daran musste ich heute Abend wieder denken.« Sie blickte von den Jungen, die sie mit rußgeschwärzten Gesichtern angrinsten, zu Firebird. »Ich war nah dran, die Klasse abzugeben.«
»Ein Glück für uns, dass keiner den Job haben wollte.« Jasha schlang seiner früheren Lehrerin einen Arm um die Schultern und drückte sie kurz.
»Bloß wegen euch. Die Wilder-Teufel. Die schlimmsten Kinder in Washington, D. C.« In Miss Joyces Stimme schwang leiser Stolz mit. Sie war in dem kleinen Ort Blythe dreißig Jahre lang Lehrerin für die Klassen sieben bis zwölf gewesen. Als Konstantines ältester Sohn in ihre Klasse gekommen war, hatte ihr Vorgänger drei Kreuze gemacht. Sie dagegen hatte sich auf einen harten Kampf eingestellt.
Zum Glück war sie eine erfahrene Pädagogin - zuvor hatte sie elf Jahre lang an einer Highschool in Houston unterrichtet. Nachdem einer ihrer Schüler sie mit einem Messer angegriffen und sie sechs Monate im Krankenhaus gelegen hatte, war sie nach Blythe gewechselt. Da sich kein Lehrer darum riss, vierzig Kinder unterschiedlichen Alters in einem einzigen Klassenzimmer zu unterrichten, hatte Miss Joyce weit über ihr Pensionsalter hinaus gearbeitet. Sie beteuerte, das Unterrichten hielte sie jung, und vielleicht war da was Wahres dran. Nachdem Firebird die Schule abgeschlossen hatte, ging Miss Joyce in den wohlverdienten Ruhestand. Inzwischen hatte sie einen Altersbuckel und konnte sich nur noch mithilfe eines Gehstocks fortbewegen.
Ihre Augen funkelten jedoch so lebhaft wie eh und je. »Möchten Sie, dass ich Sie nach Hause fahre?«, erbot Rurik sich. »Ich mach das gern.«
»Du bleibst hier und räumst mit auf«, versetzte Firebird. »Ich fahr sie.«
Die jungen Leute begannen zu streiten, woraufhin Miss Joyce mahnend eine Hand hochhielt und unversehens auf wundersame Weise Ruhe einkehrte. »Ich bin mit den Szarvas gekommen. Die nehmen mich auch mit zurück.«
»Den Trick mit dem Handhochhalten muss ich auch noch lernen«, grummelte Konstantine.
»Zu spät, Liebster.« Zorana tätschelte seine Wange. »Komm, wir helfen River und Sharon Szarvas beim Einladen der Gäste. Manche haben ganz schön einen gebechert.«
Die Mitglieder der Familie Szarvas waren Künstler: Sharon malte stimmungsvolle Landschaftsbilder; River und ihre Tochter Meadow fertigten auffallend schöne Glasobjekte. Nachts boten ihr altes Bauernhaus und die Scheune, in der sie ihr Atelier hatten, Schlafgästen Quartier - aufstrebende Künstler, junge wie alte, die bei ihnen hospitierten. Die Künstlerfamilie spendierte großzügig Kost und Logis und ließ die Studenten an ihrem Wissen teilhaben. Es waren gute, gefällige Menschen.
Heute Abend hatten sie fünf Studenten mitgebracht. Fünf junge Menschen, deren Augen aufleuchteten, als sie die vielen gut gefüllten Schüsseln auf den Tischen gesehen hatten. Drei Männer und zwei Frauen, die nur ein Thema hatten: die Kunst. Die sich an Blinis satt gegessen und viel zu viel getrunken hatten.
Eben klemmte Konstantine sich einen der schlaksigen, ungesund blassen, sturzbetrunkenen jungen Männer auf die Schulter und trug ihn zu der Rostlaube von VW-Bus, den River Szarvas fuhr.
Sharon und Zorana folgten ihm angeregt plaudernd, beide beladen mit prall gefüllten Körben und warmen Decken.
River schlenderte neben Konstantine. »Manchmal haben die jungen Leute gar kein besonderes Talent, aber das stört sie nicht weiter. Sie kommen zu uns und bleiben, in der Hoffnung, dass es noch werden wird. Das ist auch völlig okay - nicht unmöglich, dass sie den Dreh irgendwann rauskriegen.«
Konstantine nickte. Der Junge auf seinen Schultern wog höchstens sechzig Kilo, trotzdem war er im betrunkenen Zustand schwer wie Blei. Der Russe ächzte leise. Vermutlich wurde er allmählich alt.
»Dieser junge Typ« - River nickte zu dem Mann auf Konstantines Schulter - »ist seit einer Woche bei uns. Hat die ganze Zeit nichts gemacht, außer herumzulungern und allen anderen bei der Arbeit zuzusehen. Sharon und ich dachten schon, er ist einer von denen, die nichts gebacken kriegen. Aber von wegen. Unglaublich, was er heute Abend gemacht hat. Ich muss es Ihnen unbedingt zeigen.«
»Mir zeigen?«, presste Konstantine kurzatmig hervor.
»Mmmh. Kurz bevor er ohnmächtig wurde, erklärte er mir, es sei ein Geschenk für Zorana.« River schüttelte den Kopf. »Es ist schön. Außergewöhnlich schön.«
Konstantines Hände, mit denen er den jungen Mann festhielt, zuckten mit einem Mal unkontrolliert.
Seltsam. Bestürzend.
»Laden Sie ihn da ab.« River öffnete die Hecktür des Vans. »Ich müsste mich schon schwer irren, aber der Junge ist in Firebird verknallt.«
Konstantine schob den schlaffen Körper in den mit Teppichboden ausgelegten Kofferraum.
River nahm einen in Tücher eingeschlagenen Gegenstand vom Vordersitz. »Kommen Sie.«
Sie kehrten zum Feuer zurück, Sharon und Zorana folgten ihnen neugierig.
»Schauen Sie mal!« River stellte den sperrigen Gegenstand auf den Tisch und wickelte behutsam die Tücher ab.
Der junge Künstler hatte eine Statue von Firebird in den noch feuchten Ton modelliert. Er hatte ihre Silhouette eingefangen, wie sie dastand, eine Hand in die Hüfte gestützt, die andere behutsam auf den Bauch gelegt, und die spielenden Kinder betrachtete.
»Grundgütiger.« Zorana wich einen Schritt zurück. »Grundgütiger. Es ist … Firebird.«
»Sie ist perfekt getroffen.« Konstantine warf hastig das Tuch über die Statue. »Sie ist wirklich wunderschön!«
Was sollte das? Keiner von den dort anwesenden Amerikanern begriff die Geste. Zorana jedoch war Zigeunerin. Und sie war abergläubisch. Ihr Volk hauchte Ton kein Leben ein, und diese Statue … diese Statue war faszinierend. Lebensecht.
Gespenstisch.
Zorana sank in Firebirds Arme.
»Findest du sie wirklich so gelungen, Mama? Kann ich echt nicht finden.« Firebird umarmte ihre Mutter und flüsterte ihr ins Ohr: »Ist schon okay, Mama. Entspann dich.«
Zorana schlang einen Arm um Firebirds Taille. Sie wirkte winzig neben ihrer Tochter, dunkelhäutig und schwarzhaarig neben dem hoch aufgeschossenen blonden Mädchen, das sie zu beschwichtigen suchte. Zu River meinte sie knapp: »Wenn der junge Mann aufwacht, danken Sie ihm für das Kunstwerk.«
River nickte. Er war Künstler und visualisierte Dinge, die anderen verborgen blieben. Er begriff Zusammenhänge, die bei den meisten Menschen auf Unverständnis stießen - trotzdem vermochte er nicht nachzuvollziehen, wieso diese Statue bei den Wilders kühle Ablehnung hervorrief.
Die Gäste von den umliegenden Farmen, von dem Chinarestaurant in der Stadt und dem einzigen Burger-Drive-in im Umkreis von fünfzig Meilen verabschiedeten sich nach und nach von ihren Gastgebern.
Konstantine schüttelte Hände, froh und dankbar, dass die Nachbarn seiner Einladung gefolgt waren und seine Gastfreundschaft, seine Familie und sein Leben hier in Amerika zu schätzen wussten.
Vater Ambrose, der katholische Geistliche, legte widerstrebend die Pokerkarten weg und stellte sich in der Reihe an. Als Wanderprediger verkündete er im westlichen Teil Washingtons das Evangelium und zelebrierte Messen in Wohnzimmern und Hinterhöfen der kleinen Städte. Er war ein guter Mensch.
Konstantine respektierte ihn. Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und verbeugte sich ehrfürchtig vor dem Priester.
Vater Ambrose lachte. »Ich würde mir wünschen, meine katholischen Schwestern und Brüder wären so respektvoll wie Sie, Konstantine Wilder. Irgendwann hab ich Sie so weit, dass Sie in die Messe kommen.«
»Keine Chance.« Reverend Geisler, der Geistliche der Kongregationskirche, schob Ambrose spaßeshalber beiseite. »Wenn er erleuchtet wird, dann gehört er mir.«
Vater Ambrose schüttelte lachend den Kopf. »Sie sind bloß an neuen Schäfchen interessiert, Sie selbstsüchtiger Protestant.«
Reverend Doreen, der Verkündiger der New-Age-Heilslehre, trat zu ihnen. »Konstantine Wilder ist bereits erleuchtet. Wussten Sie das etwa nicht?«
Die beiden anderen Geistlichen verdrehten genervt die Augen.
Konstantine verbeugte sich vor allen dreien, schüttelte ihnen aber nicht die Hand.
Irgendwann war die Party vorbei. Die Rückleuchten des letzten Wagens verschmolzen mit der Dunkelheit. Es kehrte wieder Ruhe ein. Die Familie stand allein am Lagerfeuer, dessen Flammen orange glühend erstarben.
Eine dünne Rauchsäule stieg zum Himmel. Der Feuerschein warf rubinrot zuckende Schatten auf ihre Gesichter, und Konstantine fühlte ein erstes Bohren in der Magengrube, jenes untrügliche Gefühl, das Ärger vorhersagte.
Gleichwohl lebten sie schon lange in den USA. Sehr, sehr lange. Hier waren sie bestimmt in Sicherheit.
»Wir und eine normale amerikanische Familie? Papa, ich muss schon sagen, du hast Nerven!«
Rurik grölte los. Und Konstantine wartete, bis sein Sohn sich wieder gefasst hatte. »Was sonst?« Er hob verständnislos die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Wir sind eine ganz normale amerikanische Familie.«
»Demnach bauen ganz normale amerikanische Familien Wein an, sprechen Russisch und verwandeln sich bei Bedarf in wilde Bestien.« Jasha fand das kein bisschen lustig.
»Na und?« Konstantine zuckte mit den Achseln. »Okay, okay, die meisten Amerikaner können kein Russisch.«
Zorana schlang einen Arm um seine Taille und drückte ihn zärtlich an sich.
»Ich gehöre zur Familie, trotzdem verwandle ich mich nicht in ein wildes Tier.« Firebird lächelte gewinnend. Seit dem Collegeabschluss lächelte sie nur noch selten. »Du etwa, Mama?«
»Nein, ich auch nicht.«
»Einmal im Monat verwandelt ihr euch in fauchende Katzen«, brummelte Jasha.
»Darüber spricht Mann nicht. Das ist Frauensache.« Zwischen Konstantines Brauen schob sich eine tiefe Falte. Seine Söhne waren mächtig vorlaut.
»Genau wie Wäschewaschen«, konterte Rurik.
»O Mann. Gleich gibt’s Ärger.« Jasha duckte sich vorsichtshalber.
Konstantine dachte das Gleiche und ging seiner Frau aus der Schusslinie.
Die temperamentvolle Zorana teilte Rurik jedoch keine Backpfeife aus. Stattdessen blickte sie fragend zu Konstantine hoch. »Du hast gar nicht über Adrik gesprochen.«
Sein Herz zog sich schmerzvoll zusammen, dennoch antwortete ihr Mann gefasst: »Adrik ist für uns gestorben.«
»Nein.« Zorana schüttelte heftig den Kopf.
»Er ist für uns gestorben«, wiederholte er mit Nachdruck. Seine Familie beobachtete ihn, tief bestürzt, dass sie den Jungen verloren hatten. Konstantine war jedoch der Patriarch. Er musste hart bleiben.
Adrik war ihm ungehorsam gewesen. Er hatte auf sein Recht zur Transformation beharrt, und die Verwandlung hatte ihn tief in den Schlund des Bösen gestürzt.
O ja. Konstantine kannte diesen Schlund sehr gut. Zuweilen, nachts, hatte er das Gefühl, er lebte noch dort.
Die Sonne war am Horizont verschwunden. Der Mond ging auf, und die Sterne glitzerten wie winzige Diamantsplitter am samtschwarzen Himmel.
Die Wilders standen allein auf ihrem riesigen Anwesen. Allein - und dennoch lauerten ihre Brüder und Schwestern überall im Gebüsch. Ein kühler Windhauch zauste die Zweige, und die Zedern verströmten ihren würzigen Duft.
Zorana löste den Blickkontakt mit Konstantine. Kehrte ihrer Familie den Rücken und ballte die Fäuste. »Ich hasse dieses Ding da.«
»Welches Ding?« Jasha hatte es noch nicht gesehen.
»Mama, lass doch. Komm, reg dich nicht auf«, versuchte Firebird zu beschwichtigen.
»Es ist infam.« Zorana riss die Tücher von der Statue, die der junge Künstler modelliert hatte. »Es ist eine Unverschämtheit!« In einem plötzlichen Temperamentsausbruch ging sie wütend mit den Fäusten auf den noch weichen Ton los.
»Nein, Mama. Nicht!« Firebird packte ihre Mutter am Arm.
Alle erstarrten.
Keiner wusste, warum. Sie wussten nur, dass etwas geschehen war.
Oder dass etwas geschehen würde.
Langsam drehte Zorana sich um, betrachtete entrückt die knisternden Scheite. Und war mit einem Mal … eine andere. Eine Fremde.
Als sie sprach, klang ihre Stimme leise, tief, kehlig-weich.
Erschreckend anders. Es war nicht die Stimme seiner Frau. Das war nicht Zorana.
»Jeder meiner vier Söhne muss eine von den Varinski-Ikonen finden.«
»Vier … Söhne?« Konstantine ließ den Blick über seine Kinder schweifen. Die beiden Söhne, seine einzige Tochter - und war in Gedanken bei dem anderen Sohn, seinem Adrik.
»Kraft ihrer Liebe können sie die Heiligenbilder heimbringen.« In Zoranas kohlschwarzen Augen funkelte ein wildes Feuer. »Ein Kind kann das Unmögliche vollbringen. Oder die geliebte Familie wird durch Verrat zerstört - und in die Flammen springen.«
Zorana war in einen Trancezustand gesunken.
Vor ihrer Heirat mit Konstantine war sie die Seherin ihres Stammes gewesen und hatte die Zukunft weissagen können. Nachdem er sie von ihrem Clan weggeholt hatte, hatte sie keine einzige Vision mehr gehabt.
Mit einem Mal schien es, als sprudelten die lange unterdrückten Prophezeiungen mit Macht aus ihr heraus.
Zorana hob ihre Hand und deutete von einem Kind zum anderen.
»Die Blinden können sehen, und die Söhne von Oleg Varinski haben uns gefunden.«
Jasha straffte sich und sagte mit Bestimmtheit: »Mutter, hör sofort auf damit.«
Dummer Junge. Als hätte er damit irgendetwas bewirken können.
Sie hörte ihn nicht einmal. Sie war weit entrückt von dieser Welt. »Du darfst dir nie sicher sein, denn sie sind überall. Um den Pakt nicht zu gefährden, wollen sie dich vernichten.«
Sie deutete mit ihrem Zeigefinger auf Konstantine. »Wenn die Wilders den Pakt mit dem Teufel nicht zu brechen vermögen, wirst du nach deinem Tod in die Hölle hinabfahren und auf ewig von deiner geliebten Zorana getrennt werden …«
»Mama, warum sagst du so was? Wieso redest du von dir, als wärst du gar nicht hier?« Firebirds Stimme überschlug sich fast vor Hysterie.
»Denn du, mein Geliebter …« Zoranas Augen füllten sich mit Tränen, und zum ersten Mal gewahrte Konstantine, dass sie nicht in Trance war, sondern genau wusste, was sie sagte. »Du weilst nicht mehr lange auf dieser Erde. Du hast dein Leben verwirkt.«
Seine Augen wurden feucht. Er bekam keine Luft mehr. Und empfand einen stechenden Schmerz, als schlüge eine Raubkatze ihre Krallen in seine Brust und risse ihm bei lebendigem Leib das Herz heraus. Hinter seinen Augäpfeln zuckten weiß glühende Blitze.
Wie eine gefällte Eiche brach er plötzlich zusammen.
Nachtschwarze Küsse - Scent of Darkness
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