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Ohne auch nur den leisesten Schmerzenslaut
zu äußern, ließ Jasha die Ikone fallen.
Ann umklammerte seine Unterarme und drehte sie um.
Ein hässliches rotes Mal zog sich über eine Handinnenseite bis zu
den Fingern. »Was ist das?« Sie mochte ihren Augen nicht trauen.
»Kann es sein, dass du allergisch auf die Farben reagierst?«
»Allergisch, hmmm.« Er riss seine Hände weg und
steckte
sie in eine der Wasserpfützen, die sich in dem weichen Lehmboden
gebildet hatten. »Hast du mich vorhin damit attackiert?«
»Ja.« Und tatsächlich, die knallrote Stelle auf
seiner Wange sah ebenfalls aus wie ein Brandmal. »Kommt das auch
daher?«
»Ja. Sie bewirkt das. Die Heilige Jungfrau.
Ich darf sie nicht berühren.«
»Na, hör mal! Willst du mich veralbern?« Ann hob
mit spitzen Fingern die Ikone aus dem Matsch und wischte sie mit
einem Hemdzipfel sauber. Der gezackte Rand verfing sich in dem
Stoff. »Es ist doch bloß ein Bild.«
»In Russland sind Ikonen nicht bloß Bilder. Sie
stehen für die russische Seele, das russische Herz und den
orthodoxen Glauben. Traditionell wird dem jungen Paar bei der
Hochzeit eine Ikone der Heiligen Jungfrau mit dem Jesuskind
geschenkt. Und die Familienikonen werden für gewöhnlich in der
krasni ugol, der schönen Ecke, mit Kerzen und roten
Spitzendeckchen dekoriert.« Er wischte sich die schmutzigen Hände
an seiner Jeans, sein Blick klebte auf dem Antlitz der Madonna. »Im
Übrigen werden Ikonen der Madonna nicht gemalt - sie
erscheinen.«
»Wie bitte?«
»Ikonenmaler signieren ihre Werke nicht. Folglich
heißt es, dass Ikonen Erscheinungen, Wunder sind.«
Ann betrachtete das Kultbild genauer. Zwischen ihre
schön geschwungenen Brauen schob sich eine steile Falte. Woran
mochte Jasha sich wohl verletzt haben?
Die Jungfrau blickte zurück, ernst und
entrückt.
»Die Madonna will nicht, dass ich sie berühre«,
fuhr Jasha fort. »Aber du darfst es. Dir vertraut sie.«
»Das ist doch …« Ann japste nach Luft.
»Das ist was? Aberglaube? Ein Ding der
Unmöglichkeit?
« Jasha betastete seine Wange. »Trotzdem hab ich mich verbrannt.
Und das ist kein Wunder, es tut nämlich höllisch weh.«
Unwillkürlich berührte sie das Mal auf ihrem
Rücken. Bildete sie sich das bloß ein? Sie spürte es kaum, so als
wäre da gar nichts. Aber nein, Irrtum, es war da.
Sie hätte damit rechnen müssen, dass ihr Leben
irgendwann eine dramatische Wendung nehmen würde, sagte sie sich.
Nach so vielen Jahren Normalität hatte Ann jedoch gedacht -
geglaubt, gehofft -, dass alles so normal weiterlaufen würde wie
bisher. Schließlich wusste außer Schwester Mary Magdalene niemand,
wo Baby Ann gefunden worden war und dass dies eine Fülle von
Problemen mit sich gebracht hatte. »Schätze, ich muss meine Meinung
ändern, von wegen möglich oder unmöglich«, murmelte sie.
Er lachte bitter und blickte sich um. Der Sturm
hatte sich gelegt; der Donner verstummte allmählich, die
Wolkendecke löste sich auf. »Das Unwetter ist zwar vorbei, trotzdem
ist es hier draußen ungemütlich. Komm, lass uns verschwinden.« Er
schlang seine Arme abermals um Ann, hob sie hoch und stapfte
los.
Er legte ein ordentliches Tempo vor, und Ann war
klar, in welcher Gemütsverfassung er sich befand, das hatte sie
nach der langen Zusammenarbeit raus: Er war besorgt. »Jasha, wovor
hast du Angst?«
»Dass ich versagen werde.«
Was meinte er bloß damit?, überlegte Ann
unbehaglich. Die letzten Sonnenstrahlen fielen durch die Bäume,
malten lange, breite Schatten auf den Waldboden. Sie vernahm das
unablässige Rascheln im Dickicht. Wilde Tiere - und Schlimmeres.
Nicht auszudenken: Womöglich waren es Geschöpfe wie er.
Die Wölfe.
Jasha und Ann erreichten das Schloss in Rekordzeit.
Wenn sie sich nicht verirrt hätte, dachte sie im Nachhinein, wäre
sie vorhin in null Komma nichts wieder zum Haus zurückgelangt. Und
hätte vor verschlossenen Türen gestanden, denn er trug sie zum
hinteren Eingang. Dort, wo die Garage im rechten Winkel ans Haus
angebaut war, mit vier breiten Schwingtüren, hinter denen bestimmt
Jashas teure Luxuskarossen parkten.
Das erinnerte sie an - »Mein armes Auto«, stöhnte
sie.
»Ich ruf jemanden an, der es morgen von dort
abschleppt.«
»Wenn es dann noch da ist«, versetzte sie
dumpf.
»Ja. War ein verdammt heftiges Unwetter. Im
wahrsten Sinne des Wortes.« Jasha schnaubte belustigt, ein kurzes
bitteres Lachen. Es signalisierte Ann, dass er etwas wusste, was er
ihr nicht verriet.
Er setzte sie auf der hinteren Verandatreppe ab und
stützte sie, bis sie die Balance wiedergefunden hatte. »Alles okay
mit dir?«
Ja, bis auf ihre brennenden Füße. Und sie war
mächtig erschöpft von der ganzen Rennerei. Sie hatte jedoch die
Ikone, und sie lebte. Sie hatte sich noch nie besser gefühlt. »Mir
geht es blendend.«
Er tastete mit den Fingern den Türsturz ab, bis er
den Schlüssel fand, und schloss auf. Er drückte ihr sanft eine
Handfläche ins Kreuz und schob sie ins Innere, als wenn sie ihm
sonst jeden Moment türmen könnte.
Und damit lag er vermutlich gar nicht so falsch.
Inzwischen grauste ihr vor dem Haus, in dem er sich vor ihren Augen
in einen Wolf verwandelt hatte. Sie sah die Szene noch lebhaft vor
sich. Igitt! »Wie bist du eigentlich vorhin ins Haus
gekommen?«
»Es gibt eine Hundeklappe.« Er gestikulierte
abwesend auf
die neben dem Portal angebrachte Klappe, während er das
Alarmsystem erneut aktivierte.
»Na toll, eine Hundeklappe. Das leuchtet ein. Sonst
kämst du als Wolf nicht mehr in dein eigenes Haus, stimmt’s?«
Statt einer Antwort fixierte er sie mit seinem
Blick.
Das feurige Begehren darin war kühler Skepsis und
kaum verhohlenem Misstrauen gewichen. »Okay. Los, frag
schon.«
»Was … was meinst du?«
»Stell mir die Frage, die dir unter den Nägeln
brennt.«
Sie hatte nicht nur eine, sie hatte viele Fragen.
Irrsinnig viele Fragen. Eine quälte sie jedoch am meisten. Sie
wippte verlegen von einem Fuß auf den anderen. Wollte sie es
überhaupt so genau wissen? Was ich nicht weiß, macht mich nicht
heiß, flüsterte eine kleine Stimme in ihrem Kopf. Allerdings
hatte Schwester Mary Magdalene ihre Schülerinnen stets darauf
gedrängt, die Wahrheit zu suchen. Folglich fragte sie: »Hast du ihn
getötet?«
»Getötet? Wen?« Er trat aus den Sportschuhen, ohne
sie aufzubinden, und schob sie mit seinen nackten Füßen in eine
Ecke.
»Sind es so viele, dass du dich nicht mal mehr
genau erinnern kannst?« Sie zupfte an dem Hemdensaum und versuchte
verschämt, damit ihre Schenkel zu bedecken.
Seine sinnlich vollen Lippen zuckten ärgerlich.
»Ich hab in letzter Zeit niemanden getötet, wenn dich das
beruhigt.«
»Bevor du reinkamst, hörte ich einen Schuss. Und du
… du hattest Blut an deinem Mund.« Sie wartete angespannt, in der
Hoffnung, dass Jasha alles abstritt. Zumal sie die Vorstellung
unerträglich fand, dass er einen Menschen ermordet haben könnte -
und sich anschließend über sie hergemacht hatte.
»Ist das deine Frage?« Es war schon ziemlich dunkel
in dem
schmalen rückwärtigen Flur. Das Dämmerlicht verschattete seine
steinerne Miene, gleichwohl bemerkte Ann auf einer Wange eine
blasse, gezackte Narbe, auf der anderen das feuerrote Mal, wo die
Ikone ihn gestreift hatte. Seine Augen jedoch sprühten Blitze,
maßen sie mit der bohrenden Intensität eines Beutejägers. »Ist das
alles, was du wissen willst?«
»Sagen wir mal so, es würde mir fürs Erste
reichen.«
»Du verblüffst mich.«
Sie schwieg hartnäckig.
»Nein. Ich hab ihn nicht umgebracht.«
Ein erleichterter Seufzer entfuhr ihrer
Kehle.
»Es war ein Jäger. Er war betrunken und schoss auf
das Wolfsrudel.«
»Das ist verboten.« Und du hättest dabei getötet
werden können.
»Eine Menge Dinge sind verboten, und
trotzdem stört sich keiner daran.« Jashas grimmige Miene hellte
sich auf. »Ich hab sein Gewehr zerlegt und ihn halb zu Tode
erschreckt. Der lässt sich hier nicht mehr blicken.«
»Sind die anderen Wölfe wie du?«
»Du meinst, ob sie sich verwandeln? Nein. Sie sind
Tiere, aber sie sind schlau und loyal, und obwohl es Leader nicht
behagt, lässt er mich friedlich mit seinem Rudel laufen. Manchmal,
wie beispielsweise heute, kann ich meinen Frust und meine Wut auf
diese Weise am besten abreagieren.«
»Auf den Jäger oder so?«
Er strich mit seinem Daumen gedankenvoll über ihre
Wange, sah ihr dabei tief in die Augen. »Mein Vater hat uns immer
wieder ermahnt, wir sollten uns möglichst nicht verwandeln. Weil
wir dabei jegliches Moralempfinden einbüßen und uns angreifbar für
die Wildheit in unseren Herzen machen würden. Wenn ich die heutigen
Ereignisse so sehe, muss ich ihm verdammt Recht geben.«
Sie streckte spontan den Arm aus, wie um ihre
Handfläche auf sein Herz zu legen, zog ihn aber hastig zurück und
machte eine Faust. »Ich mag diese Wildheit.«
»Nein, nicht …« Er umschloss ihr Handgelenk. »Mach
mich nicht wieder an. Es ist alles noch so neu und so frisch, und
ich war vorhin wahnsinnig scharf auf dich.« Er küsste ihre
Fingerknöchel. Als sie ihre Faust lockerte, brachte er ihre
Handfläche an seine Lippen und küsste ihre Lebenslinie. Er
beobachtete sie, während er mit gehaucht weichen Küssen zu ihrem
Handgelenk glitt, bis seine Lippen auf ihrer bläulich schimmernden
Pulsader hielten. Er schob die Hand hinter ihren Rücken und riss
Ann an sich.
Sie fand den engen Körperkontakt mit ihm immer noch
schockierend intim, und als er seine Lippen auf ihre presste,
signalisierte ihre Libido neu erwachtes Begehren und prickelnde
Leidenschaft.
Er schmeckte himmlisch gut, und sie ließ ihn
gewähren. Ihre Brüste spannten, und sie fühlte die warme
Feuchtigkeit, die verräterisch zwischen ihren Schenkeln
kitzelte.
Mit einem missmutigen Ächzen ließ er sie los und
wich zurück. »An dir verbrenn ich mir noch die Finger. Wie an der
Ikone.«
Sie sah ihn mit verräterisch feuchten Augen an.
Obwohl sie sich mit jeder Faser ihres Körpers nach ihm sehnte, war
sie den Tränen nahe.
Jedes Mal, wenn sie Gefühle zeigte, wurde sie
ausgelacht oder kritisiert - oder niemand bemerkte es.
Sie machte es nie richtig.
»Nicht hier, Ann, nicht im Eingang und so
verdreckt, wie wir sind … heul doch nicht gleich los!« Er schlang
einen Arm um sie, schob sie in den Wirtschaftsraum und knipste das
Licht an. Der Boden war gefliest, Mäntel hingen an Haken, Stiefel
standen ordentlich aufgereiht an der Wand. In einer
Nische entdeckte Ann Waschbecken, Spiegel und sogar eine kleine
Duschkabine.
Sie fuhr mit den Fingern über ihre Lippen. Seit
ihrer Rückkehr aus dem Wald hatte er den stürmischen Lover
abgestreift und war wieder der Jasha, wie sie ihn kannte:
geschäftsmäßig, effizient, knallhart. Das eine Mal mit ihr hatte
ihm bestimmt gereicht, seufzte sie innerlich.
Sein Kuss hingegen war kein bisschen geschäftsmäßig
gewesen. Vielmehr besitzergreifend. Sie sollte froh sein, dass es
ihm etwas bedeutete, wo sie sich liebten, statt dass er irgendwo
über sie herfiel.
War sie aber nicht.
Sie machte sich Sorgen um ihn. »Was, wenn der Jäger
zur Polizei geht?«
»Was soll er denen denn erzählen?« Jasha nahm
Handtücher aus dem Schrank und legte sie auf die Ablage, die über
dem Waschbecken angebracht war. »Dass er auf einen Wolf schoss, der
sich in einen Menschen verwandelt und ihm die Knarre zerlegt hat?
Der sich dann in einen Wolf zurückverwandelte, ihn jagte und biss?
Bevor er abermals Mensch wurde und ihn gewaltsam in sein Auto
stopfte?«
»Du hast ihn gebissen? Grundgütiger, das spricht
eindeutig gegen dich, wenn sie es dir beweisen können.« Ann fasste
sich innerlich an den Kopf. Unglaublich, was für ein Thema sie da
gerade behandelten!
»Können sie aber nicht. Mein Gebissstatus als Wolf
ist nirgendwo dokumentiert.«
»Nein … stimmt.« Sie war erleichtert. Und verwirrt.
Und - heiß auf ihn. »Kannst du dich eigentlich beliebig oft hin-
und herverwandeln?«
»Im Prinzip schon, aber je öfter ich mich
nacheinander verwandle, umso langsamer geht es. Es kostet mich
jedes Mal einen Haufen Kraft.« Er stützte den Arm auf die geflieste
Handtuchablage, als hätte er einen anstrengenden Tag mit zig
Transformationen hinter sich. Vielleicht auch, weil er ihren
hübschen Luxuskörper den ganzen Weg hierher getragen hatte.
»Und als Wolf weißt du noch genau, was du tust. Du
bist dann nicht geistig unterbelichtet oder so was?«
»Wenn du mich fragst: Tiere sind lange nicht so
blöd, wie wir das vielleicht gern hätten.«
Interessiert hakte sie nach. »Du wirst also nicht
von irgendwelchen Mondphasen oder von deinen Stimmungen
beeinflusst?«
»Die Geschichte mit dem Mond ist völliger Quatsch.
Au ßerdem bin ich kein Werwolf. Ich bin ein …« Er hielt inne.
»Wer bist du?«
Er wich ihrem Blick aus. »Ich bin ein Typ wie jeder
andere, nur dass ich mich in einen Wolf verwandeln kann«, versetzte
er. »Meistens, wenn ich ausraste, was nicht passieren darf. Nicht
bei dir. Und jetzt eine schnelle Dusche« - Jasha schob die Glastür
auf - »ein ausgedehntes Bad gibt es nachher oben. Und dann ab ins
Bett mit dir. Du bist bestimmt hundemüde.« Er drehte das Wasser
auf. »Bin mal kurz weg. Ich muss die Alarmanlage überprüfen und das
zerbrochene Fenster neben der Haustür notdürftig reparieren. Und
mich um ein paar andere Dinge kümmern. Schaffst du das hier
allein?«
Sie bekämpfte den Impuls, sich hilflos in seine
Arme zu stürzen. »Ich komm schon klar.«
»Ganz bestimmt. Du bist ein starkes Mädchen.« Er
presste seine Hand auf ihre Wange, drehte ihr Gesicht zu sich und
küsste sie hart auf den Mund. »Bademäntel findest du an der
Garderobe«, sagte er und verschwand.
Eilends legte sie die Ikone auf die Ablage, zog
ihre Sachen aus und stieg in die Dusche. Der verkrustete Schmutz
rann in braunen Rinnsalen über ihre Haut, während sie sich
akribisch schrubbte. War das himmlisch, den Dreck endlich
loszuwerden! Als Kind hatte sie sich nie gern schmutzig gemacht;
ihre Uniform war so makellos sauber gewesen, dass die anderen
Schulkinder, die Kinder mit Eltern wohlgemerkt, sie mit wachsender
Begeisterung mit Grasklumpen beworfen hatten.
Eine der jüngeren Nonnen, Schwester Catherine,
hatte sich redlich bemüht, sie zum ausgelassenen Herumtollen und
Toben zu bewegen. Sie hatte mit ihr im Sand gespielt, sich mit ihr
im Gras gewälzt oder wild geschaukelt. Ann hatte es versucht, war
aber nie mit dem Herzen dabei gewesen.
Einmal wollte Schwester Catherine sie dazu
überreden, mit Fingerfarben zu malen. Und musste laut losprusten,
weil die sonst so folgsame Ann ihr eine miesepetrige Grimasse
schnitt.
Eines Abends, als die anderen Kinder Hausaufgaben
machten, hatte Schwester Catherine mit Ann draußen auf einer der
großen Schaukeln gesessen. Sie hatte sie beide immer höher in die
Lüfte geschwungen und atemlos gelacht, gar nicht wie eine
Ordensschwester, sondern glockenhell wie ein Engel, der seine
Schwingen ausbreitete und unbeschwert davonflog. Und plötzlich
hatte das Mädchen in ihr Lachen eingestimmt und für einen kurzen
Augenblick ihr schweres Los vergessen.
Und jetzt stand Ann unter der Dusche, eine Hand auf
ihren Rücken gepresst, ihren Blick nach innen gekehrt.
Das Lachen war ihr bald vergangen.
Sie zog das Böse an. Und geriet dauernd an die
falschen Menschen.
Sie hatte ihre Lektion gelernt, eine harte Lektion,
die sie für das Leben geprägt hatte. Nie wieder war Ann so
ausgelassen gewesen, denn bei allem, was sie tat, schwebte der
Geist von Schwester Catherine bedrohlich über ihr.
Jasha glaubte, sie hätte niemals Kind sein
dürfen.
O doch. Allerdings war sie ein sehr folgsames Kind
gewesen. Ann hätte niemals etwas getan, was man nicht tun
durfte.
Bis jetzt.
Sie lehnte ihren Kopf an die feucht bedampften
Fliesen und schloss die Augen.
Einmal ist immer das erste Mal. Ein einziges
Mal bloß hatte sie etwas Verruchtes und Verbotenes gemacht, und
prompt hatte sie die Bescherung.
Alles Jammern nützt nichts, hätte Schwester
Mary Magdalene jetzt gesagt. Was passiert war, war passiert, und
Ann musste mit den Konsequenzen leben.
Ann stieg aus der Duschtasse, trocknete sich ab und
wickelte sich in den Bademantel.
Sie nahm das Heiligenbild von der Ablage, wusch
vorsichtig den Schmutz ab. Dabei betrachtete sie es von allen
Seiten.
Die Ikone war schön. Perfekt. Ein
Wunder.
Unmöglich, dass Jasha sich daran die Haut verbrannt
hatte, sann sie verwirrt. Gleichwohl hatte sie den Rauch genau
gesehen.
Sie war bei Nonnen aufgewachsen. Und wusste sehr
wohl, was ein derartiges Omen bedeutete.
Irgendwie, irgendwann hatte er Gott enttäuscht, und
jetzt lastete ein Fluch auf ihm.
Eine einsame Träne kullerte über ihre Wange,
tropfte auf das Madonnenantlitz, und Ann wischte sie
gedankenverloren weg.
Das alles war ihr unbegreiflich. Stimmte
irgendetwas nicht mit Jasha? Hatte er übernormale Fähigkeiten? Gut,
er war attraktiver als die meisten Männer, aber auch nicht
überirdisch schön. Er zog Frauen an wie der Honig die Bienen, aber
das war offensichtlich keine übernormale Gabe, zumal seine
Verlobte ihn wegen der dauernden Flirtgeschichten verlassen hatte.
Zweifellos war er ein brillanter Geschäftsmann, aber doch nur
darum, weil er bis spät in die Nacht arbeitete und ein Händchen für
gute Mitarbeiter hatte, und nicht, weil seine Rivalen nach
mysteriösen Wolfsattacken das Zeitliche segneten.
Wer oder was war er? An diesem Punkt wich er
ihr aus und weigerte sich hartnäckig, ihr diese Frage zu
beantworten.
Lastete ein Fluch auf ihm?
Und wenn ja, was bedeutete das für sie? Sie hatte
ihm nachgegeben. Statt sich mit Händen und Füßen zu sträuben, hatte
sie die Finger nicht von ihm lassen können.
Schlimmer noch, sie versuchte nicht mal mehr zu
fliehen.
Sie ließ die Ikone in die Tasche des Bademantels
gleiten.
Jetzt würde sie in sein herrschaftliches
Schlafzimmer gehen und sich in eine Wanne mit dampfend heißem
duftendem Wasser legen.
Und dafür irgendwann ganz sicher in der Hölle
schmoren müssen.
Folglich konnte sie diese Nacht in vollen Zügen
genießen, als ob es ihre letzte wäre.