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Ann Smith achtete sehr auf gute Manieren. Immer schon. Wenn sie einen Heiterkeitsanfall bekam, hielt sie sich dezent eine Hand vor den Mund, um das Lachen zu dämpfen. War sie traurig, weinte sie sich in der Abgeschiedenheit ihrer eigenen vier Wände aus. Sie benutzte das Sch-Wort nicht - es war ihr höchstens einmal unwillkürlich herausgerutscht, als ihr die Auflaufform aus der Hand gerutscht war und die köstliche Lasagne sich über den ganzen Küchenboden verteilt hatte. Aber da war sie allein gewesen.
Wie so oft. Sie war Single und meistens allein.
Sie legte großen Wert auf angemessene Kleidung. Erst als Stenotypistin, dann als Sekretärin und später als Assistentin der Geschäftsführung für den Chef von Wilder Wines.
Und wieso trug sie dann neue, superlässige, total angesagte Klamotten und fuhr einfach so, aus eigener Initiative, von Kalifornien nach Washington, um ihrem Chef wichtige Dokumente in sein Ferienhaus an der Küste zu bringen?
Warum wohl? Weil sie verliebt war. In Jasha Wilder.
Jippie! Wer war das nicht?
Er war groß, einen knappen Meter neunzig. Was ihr ausgezeichnet in den Kram passte, weil sie es auf Strümpfen auf einen Meter achtzig brachte. Oder barfuß, wie ihre Freundin Celia Kim kleinlich betonte. Er hatte das Gesicht eines gefallenen Engels: dunkles Haar, dunkle Brauen, lange, dunkle gebogene Wimpern, die Augen von einem ungewöhnlichen Goldbraun umrahmten. Und er hatte ein Tattoo auf dem Arm. Das Motiv ähnelte zwei umeinander gewundenen Schlangen, die von seiner Schulter zu seinem Handgelenk krochen und sich dunkel und geheimnisvoll von seiner gebräunten Haut abhoben. Sonderbar, aber es vermittelte Ann das Gefühl, als würde sie etwas verbinden, irgendetwas, das sich nicht in Worte bringen ließ. Sie hätte natürlich nie gewagt, ihn darauf anzusprechen - und auch gar nicht gewusst, wie sie es ihm erklären sollte.
Die stechenden Augen, die auffallende Tätowierung und seine hochgewachsene, trainierte Statur gaben ihm etwas Brutales, was er nicht war, zumindest solange man ihm bei seinen Geschäften nicht in die Quere kam.
Da ließ er sich kein X für ein U vormachen. Niemals.
Er hatte eine klassisch griechisch geformte Nase, einen sinnlichen Mund mit strahlend weißen Zähnen und einem wahrhaft umwerfenden Lächeln, sinnierte Ann hingerissen.
Sein Körper haute sie jedoch glatt um. Er war perfekt. Muskelbepackte Schultern, Waschbrettbauch und knackiger Po. Insgeheim stellte sie sich vor, wie es sich anfühlen würde, diesen sexy Po zu streicheln.
Sie sah seine nackten Beine jeden Tag, wenn er von seinem Lauftraining ins Büro zurückkehrte und sich die schwitzenden Schenkel und Waden mit einem Frotteetuch abrieb. Diese Aufgabe hätte sie mit Kusshand für ihn übernommen, aber dazu fehlten ihr natürlich der Mumm und ein anderes Jobangebot, falls er sie umgehend entlassen hätte.
Zweifellos hätte sie spielend leicht einen neuen Job gefunden; sie war eine hervorragende Geschäftsführungsassistentin und bekam dauernd lukrative Angebote von anderen Weingütern und Restaurants in Napa Valley.
Sie hatte alle abgelehnt. Jasha Wilder war ihr Chef, und sie interessierte sich für keinen anderen Mann.
Deshalb befuhr sie auch den Highway 101, der sich entlang der steil abfallenden Felsküste wand, mit gefährlich engen Haarnadelkurven, unter ihr der wild brandende Ozean und undurchdringliche Wälder.
Seitdem sie Washington passiert hatte, war sie etwa fünfundzwanzig Meilen gefahren und hatte weder ein Haus noch ein anderes Auto gesehen, nur ein paar Seevögel, die am Himmel kreisten. Das passte korrekt auf Jashas Schilderungen; beim Erwerb des Wochenendhauses hatte er das Land im Umkreis von zwanzig Meilen gleich dazuerworben. Er beteuerte, dass er gern allein war, aber ihr drückte die Einsamkeit allmählich aufs Gemüt. Was, wenn ihr Wagen plötzlich schlappmachte?
Sie hatte ein voll aufgeladenes Handy dabei, beschwichtigte sie sich, und außerdem blieb ihr Auto nicht stehen. Der Miata war flammneu, ein richtiger Sportflitzer, passend zu ihrem neuen Image. Wie die abgefahrenen Klamotten, die stylische Frisur, das neue Make-up, die Laser-Augenkorrektur, die straffen Titten - okay, Jasha bezahlte sie gut, aber eine Brustkorrektur war trotzdem nicht drin. Stattdessen hatte sie sich einen Wonderbra gekauft, der ihr Wundermöpse machte. Sie war eine völlig neue Ann!
Sie kurbelte das Seitenfenster runter, ließ sich den Wind durch ihre schulterlangen Haare wehen und drückte aufs Gas, fest entschlossen, die Kurven wie die Profirennfahrer aus der Werbung zu nehmen.
Du bist wohl lebensmüde oder was?
Der Wind pfiff durch das Fenster, blies ihr ein topmodisch blondiertes Strähnchen in den Mund. Sie prustete und spuckte. Eine weitere Strähne peitschte ihr in die Augen. Sie musste blinzeln. Als sie ein Lid aufklappte, gerade noch rechtzeitig genug, um eine Kurve wahrzunehmen, die rasend schnell näher kam, brach ihr der kalte Schweiß aus sämtlichen Poren. Sie versuchte gegenzulenken. Mit einem dumpfen Quietschen kamen die Reifen von der Straße ab und schabten an der steilen Böschung entlang. Hektisch nahm sie den Fuß vom Gas. Der Wagen brach aus. Zweige schlugen gegen den Seitenspiegel.
Ann schaffte es, den Miata wieder auf die Straße zu lenken, und kroch dann fast im Schneckentempo weiter. Sie zitterte am ganzen Körper und war froh, dass niemand ihr idiotisches Fahrmanöver beobachtet hatte. Nachdem sie mehrmals tief durchgeatmet hatte, hielt sie sich genau an die vorgeschriebene Geschwindigkeit und ging entschieden vorsichtiger in die Kurven.
Sie inspizierte den Kilometerzähler. Noch ungefähr fünf Meilen bis zum Ziel. Dann würde sie mit Jasha sprechen, ihm das mit dem Anruf und den Dokumenten schildern. Irgendwann war es dunkel und eine nächtliche Rückfahrt würde er ihr bestimmt nicht zumuten wollen. Stattdessen würde er ihr anbieten, in seinem Ferienhaus zu übernachten, überlegte sie. Sie trug eine lässige naturweiße Leinenhose und darüber ein hautenges orangefarbenes Top mit Spagettiträgern. Das coole Teil entblößte ihre vom Bodybuilding gut definierten Arme und betonte ihre schmale Taille.
Sei vernünftig, seufzte sie, und bleib ein braves Mädchen. Probier deine Verführungskünste erst an ihm aus, wenn du wieder in Napa bist, vielleicht irgendwo in den lauschigen Weinbergen oder so. Außerdem gibt es da erstklassige Hotels und das pralle Leben. Nicht hier in seinem Ferienhaus, an dieser wild zerklüfteten Küste, dem sturmgepeitschten Ozean und unter bleigrauen Wolkenbergen, die unter einem verwaschen blauen Himmel dahinjagten.
Wenn sie den Kilometerzähler nicht im Blick gehabt hätte, wäre sie glatt an der Zufahrt zu Jashas Anwesen vorbeigerauscht.
Hohe Rhododendronbüsche versperrten ihr die Sicht. Sie bremste scharf, bog um die Ecke und befand sich auf einer Schotterpiste, die so eng war, dass sie einem entgegenkommenden Fahrzeug unmöglich hätte ausweichen können. Ihr schickes neues Auto holperte durch Dutzende Schlaglöcher, und sie dachte verärgert an die unverschämt hohe Rechnung, die seinerzeit von dem Straßenbauunternehmen gekommen war.
Jasha hatte die Überweisung anstandslos mit einem müden Lächeln unterzeichnet.
Nach fünfhundert Metern passierte sie zwei Pfeiler mit kauernden, in den Stein geschnittenen Löwen. Danach war die Straße wieder asphaltiert. Links und rechts dunkler, undurchdringlicher, kühler Wald mit uraltem Baumbestand.
Die Straße verlief in einer lang gestreckten Kurve nach Westen, bis sie glaubte, sie würde gleich im Ozean landen.
Die Vorstellung war gar nicht so abwegig.
Der Wald lichtete sich, und tief unter ihr lag der Atlantik, endlos weit, wild und aufgewühlt. Ann bremste und stellte den Motor aus. Sie stieg kurz aus dem Wagen, vertrat sich die Beine und inhalierte die salzige Luft in tiefen Zügen. Als sie aus Napa weggefahren war, hatte der Wetterbericht zwar keine Sturmwarnung gebracht, trotzdem braute sich da etwas zusammen. Das hatte sie irgendwie im Gefühl. Sie genoss den auffrischenden Wind, der an ihren Haaren zerrte, und beobachtete die Wellen, die sich mit aufpeitschender Heftigkeit an den Klippen brachen.
Bei Jasha empfand sie ähnlich heftig. Er spukte ihr ständig im Kopf herum. Verrückt, schlimm und gefährlich zu wissen. In einem verborgenen Winkel ihres Herzens stellte sie sich vor, wie sie eine Streetgang anführte, mit den Navy SEALs kämpfte, für die CIA spionierte und pausenlos gegen Gesetze verstieß.
Sie lachte laut auf. Nie im Leben würde die spießige Miss Ann Smith so etwas bringen!
Schluss mit lustig. Sie schob entschlossen ihr Kinn vor. Okay, sie war kein IT-Girl, aber wenn Jasha Wilder erst einmal bei ihr angebissen hätte, würde sie ihn an der kurzen Leine halten - was Meghan Nakamura nicht geschafft hatte. Ann malte sich insgeheim aus, wie er sie verliebt anschaute und dabei zärtlich beteuerte: »Mein Schatz, ich kann ohne dich nicht leben.« Und nicht: »Ann, wenn Sie die Pinot-Weine katalogisiert haben, schicken Sie Jennifer Chavez bitte einen Strauß rote Rosen mit einem Kärtchen, dass es mir leidtut wegen ihrer Katze.«
»Was hat denn ihre Katze?«
»Sie hatte eine allergische Reaktion.«
»Auf was?«
»Auf mich.«
»Mögen Sie keine Katzen?« Ann dachte an Kresley, ihren alten Kater.
»Doch, ich finde sie sehr lecker.«
Ann lachte unschlüssig.
Sie war sich nicht sicher, ob das ein Witz sein sollte.
Als das Anwesen vor ihr auftauchte, verringerte sie das Tempo. Unversehens geisterte ihr durch den Kopf, was Jasha ihr über das Haus erzählt hatte - dass es ein Schloss sei, zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts von einem Holzbaron erbaut. Als große Geste und glühendes Bekenntnis seiner tiefen Liebe zu einer jungen Frau, seiner Traumfrau. Seine Herzdame ließ sich davon nicht beeindrucken, und er hatte bis zu seinem Tod allein in der prachtvollen Hütte gelebt.
Jasha hatte das Anwesen auf einer Auktion ersteigert und komplett renoviert. Weil er auf ihren Geschmack und ihre Stilsicherheit vertraute, hatte er Ann gebeten, Möbel, Tape ten,Vorhänge und Teppiche auszusuchen und in seinem Auftrag zu bestellen. Folglich empfand sie es so, dass sie das Haus gemeinsam eingerichtet hatten, und ihr Herzschlag beschleunigte sich gespannt …
Die Auffahrt wurde breiter. Die Baumreihen lichteten sich. Das Schloss tauchte vor ihr auf.
Sie trat hektisch auf die Bremse, würgte beinahe den Motor ab.
Wenn sie mit vielem gerechnet hätte, aber damit nicht. Schreck lass nach!
Im Geiste hatte sie sich ein Märchenschloss ausgemalt, so ähnlich wie bei Cinderella, wenn auch mit weniger Zinnen und Türmchen.
Stattdessen ragte der hohe, schmale Bau wie ein stilisierter Phallus in die vorüberflitzenden Wolken. An einen Felsvorsprung geklammert, erhob sich das Schloss über dem alten Baumbestand. Es sah aus wie ein Monster, sann Ann, der Letzte seiner Spezies, der sich vor lauter Gram im nächsten Augenblick über den Klippenrand in den Tod stürzen wollte. Die Fassade wirkte abstoßend bizarr, denn Wind und Wetter hatten dem Stein ein tristes Grau verpasst. Verwitterte Wasserspeier starrten aus leeren Augenhöhlen von drei Seiten des Gemäuers in die Tiefe, und die Spitze des grauen Schindeldachs zerriss die geballten Wolkenberge in winzige Fetzen.
Das breite Frontportal, das sich schwer auf eine in das Felsfundament geschnittene Stufe stützte, wurde von unbehauenen Granitsäulen flankiert, die ein vorstehendes, dick verschiefertes Vordach trugen. »Die Raubritterburg lässt grüßen«, japste Ann.
Warte, bis die Sonne rauskommt, beschwichtigte sie sich halbherzig, dann sieht der olle Kasten gleich besser aus.
Die Sonne stahl sich durch die Wolken.
Das Geisterschloss sah kein bisschen besser aus.
Goldene Strahlen glitzerten auf den Scheiben, verwandelten die dunkel gähnenden Rauten in glühende Augen, dass es geradezu unheimlich anmutete. Die Schatten wurden bereits länger.
Auf der Suche nach Jasha ließ Ann unschlüssig den Blick über das Grundstück schweifen. Sie entdeckte ihn weder auf der Wiese noch auf dem Vorplatz mit den dicht gewachsenen Koniferen, die jede Menge Licht schluckten. Die Garage war hinter dem Haus; womöglich war er dort. Vielleicht war er auch in die Stadt gefahren oder eine Runde joggen. Wie dem auch sein mochte - sie war jedenfalls heil angekommen, und sie würde bleiben.
Ann fuhr vor den Eingang. Sie bremste, atmete tief durch, während sie skeptisch das Lenkrad umklammerte.
Sie hatte es so gewollt. Sie hatte auf diesen Trip hingearbeitet, war ausgiebig shoppen gegangen und hatte von nichts anderem mehr geträumt. Wenn sie jetzt kniff, würde sie sich ständig Vorhaltungen machen.
Wenn sie jetzt einen Rückzieher machte, verdiente sie ihr Glück nicht.
Sie konnte es packen, klar, sie würde es locker schaffen.
Sie zog reflexartig die Handbremse - das tat sie immer, selbst auf ebener Fläche, weil sie ja eigentlich eine besonnene Fahrerin war. Nahm ihre lederne Aktenmappe - ein Geschenk von Jasha - und ihre Handtasche vom Beifahrersitz. Als sie hinausglitt, riss der Wind so heftig an der Wagentür, dass sie sie kaum festhalten konnte. Sie drückte die Tür mit einem energischen Hüftschwung zu, ließ den Kofferraumdeckel mit der Fernbedienung aufschnappen und nahm ihren Koffer heraus - einen großen, schweren, vollgepackten Koffer, wohlgemerkt. Sie brauchte beide Hände und ihre neu erworbenen Fitnessstudio-Muckis, um ihn aus dem Kofferraum zu heben. Zum Glück hatte das schwere Biest Rollen, auf denen sie es zum Eingang zog.
Der Wind stemmte sie zur Seite, verwuschelte ihre Haare, riss an ihrem Top. Aus der Ferne drang das Tosen der Brandung zu ihr, das zornige Schlagen der aufgewühlten Wellen. Die Luft roch nach Salz und Seetang, Immergrün und ungezähmter Wildheit.
Während sie mühsam einen Fuß vor den anderen setzte, ragte das Schloss bedrohlich vor ihr auf. Warf seinen gespenstisch ausgezackten Schatten wie einen dunklen Mantel über die junge Frau. Auf der Steinstufe vor dem Portal blieb sie stehen. Blinzelte, um ihre Augen an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Hier war sie zwar geschützt vor dem gnadenlosen Wind, trotzdem schauderte ihr von der kühlen, unwirtlichen Atmosphäre.
Als sie den Koffer auf die Stufe zerrte, knirschten die Rollen gequält über den rauen Schiefer. Ann nahm kritisch die Tür in Augenschein, die sie selbst bei einem Avantgardekünstler in Auftrag gegeben hatte. Sie hatte schwarzes Walnussholz mit Kassetten aus brasilianischem Mahagoni bestellt. Sie konnte weder das Holz noch den Lüster ausmachen, und der Türgriff, ein Löwenkopf mit einem Ring aus massivem Messing, war in der Dunkelheit kaum zu erkennen. Sie fand die Klingel und drückte auf den Knopf.
Im Innern läutete eine Glocke.
Niemand kam an die Tür.
Sie klingelte abermals, dann klopfte sie zaghaft mit dem Messingring auf das Holz. Nichts. Die Tür war verschlossen.
Jasha war nicht zu Hause.
Was tun? Zurückfahren? Sich gut zureden, dass sie es immerhin versucht hatte, und auf ein nächstes Mal warten?
Es würde kein nächstes Mal geben, das stand für sie fest. Jetzt oder nie. Also ging sie ihre sämtlichen Schlüssel durch und fand den richtigen.
Immerhin war sie Jashas persönliche Assistentin. Und las ihm jeden Wunsch von den Augen ab. Redete seine Mutter mit Vornamen an. Sie hatte sogar einen Ersatzschlüssel für seinen Safe. Folglich brauchte sie gar keine Skrupel zu haben, den ihr anvertrauten Haustürschlüssel auch zu benutzen.
Sie drehte ihn vorsichtig im Schloss. Das Portal ließ sich problemlos öffnen und schwang geräuschlos auf. Sie spähte in die Eingangshalle - und atmete erleichtert auf.
Drinnen sah es schon besser aus. Viel besser. Wohlig einladende Wärme umfing Ann. Sie tastete nach dem Lichtschalter. Sobald der Kristallleuchter aufflammte, tanzten tausend bunte Prismen an der hohen Decke und den mattweißen Wänden. Eines der Prismen streifte das Blinklicht der Alarmanlage, und sie hielt den Atem an. Ließ Handtasche und Schlüssel auf den Tisch neben der Eingangstür fallen. Und stellte sich vor das Kontrollpaneel.
Sie gab den Code ein.
»Jasha? Mr. Wilder?«, rief sie.
Keine Antwort.
Okay. Sie beschloss, drinnen auf ihn zu warten.
Sie zerrte den Rollenkoffer über die Schwelle. Nachdem sie die schwere Eingangstür hinter sich zugedrückt hatte, bewunderte sie die Fenster in der Halle. Böhmisches Kristallglas - im Stil Art déco, eine Nachbildung von einer renommierten Glaserei an der Ostküste. Es war ihre Idee gewesen, und sie freute sich über die gelungene Umsetzung. Die Eleganz war wirklich ihren Preis wert. Jede der in Mahagonirahmen eingesetzten Scheiben mutete wie ein funkelnder Diamant an, der das Licht in bunt glitzernden Facetten brach.
Neugierig auf das Interieur, das sie quasi per Ferndiagnose bestellt hatte, lief sie weiter.
Das Foyer mündete in den großen Salon. Orientteppiche aus schimmernden Seidengarnen bedeckten das zu einem satten Goldton gedunkelte Holzparkett. Polster und Vorhänge waren in warmen, gedeckten Farben gehalten. Ein Konzertflügel aus schwarzem Lack dominierte eine Ecke des Zimmers. Die Gemälde - fröhlich bunte, moderne Kunst - waren ebenfalls in schwarz glänzendes Ebenholz gerahmt. Vor dem deckenhohen Elektrokamin, in dem ein munteres Feuer prasselte, stand eine schlichte, gemütliche Sitzgruppe.
Ann, die den Raum gestaltet hatte, klopfte sich mental auf die Schulter. Es sah echt super aus.
Eine holzgeschnitzte geschwungene Treppe führte zur Galerie im ersten Stock. Sie ging zum Treppenabsatz und rief nach oben: »Jasha?«
Sie lief zu der Tür, die in sein Arbeitszimmer führte, und dann zur Küche. »Mr. Wilder?«
Nichts. Keine Reaktion. Er war nicht da. Dann war er bestimmt irgendwo draußen. Trotz der unbehaglichen Witterung spulte er vermutlich im Freien sein Laufpensum ab. Er behauptete steif und fest, das halte seine kleinen grauen Zellen fit. Und hatte sie schon häufiger eingeladen, ihn zu begleiten.
Woraufhin sie ihm jedes Mal geantwortet hatte, ihre kleinen grauen Zellen seien fit genug.
Sie hatte einfach keine Lust, Joggingklamotten anzuziehen und mit ihm zu laufen. Meistens zog er dabei sein Hemd aus. Dann hätte sie womöglich die ganze Zeit auf seinen trainierten, von schwarz gekräuseltem Flaum bedeckten Oberkörper gestarrt und auf das ungewöhnliche Tattoo, das mit dem Muskelspiel seiner Arme zuckte. Jedes Mal, wenn er von seinem Lauftraining zurückkam, hätte sie ihm am liebsten die winzigen Schweißperlen von den Brustwarzen geschleckt und mit den Händen seine Schenkel gestreichelt, um zu testen, ob sie wirklich so hart waren wie in ihrer Fantasie.
Mit ihm laufen? Wovon träumte er? Noch bevor sie vom Parkplatz runter wären, würde sie hyperventilieren. Ihr reichte es völlig, dass er eine Hantelbank in seinem Büro stehen hatte und Gewichte stemmte, wenn er wie üblich länger arbeitete und einen verspannten Nacken hatte. Sein Bizeps war nicht zu verachten.
Also war sie allein in diesem Haus, wo sie gespannt darauf wartete, dass ihr erster Lover endlich zur Tür hereinspazierte.
Sie rieb nervös mit den Handflächen über ihre Hose.
Er konnte nicht ahnen, dass er ihr erster Mann war, geschweige denn, dass er überhaupt ihr Lover werden würde. Und da lag das Problem. Wie könnte sie ihm das wärmstens ans Herz legen? Sie überlegte kurz, ob sie eine Power-Point-Präsentation vorbereiten sollte; da würde es bei ihm bestimmt Klick machen, weil sie diese Technik bei Konferenzen beide intensiv nutzten und verstanden.
So viel zum Thema Aufklärung, giggelte sie. Sie erinnerte sich an die peinliche Unterrichtsstunde in der achten Klasse, als die verknöcherte Schwester Theresa irgendwas von Vermehrung, Enthaltsamkeit und Sündhaftigkeit heruntergeleiert hatte. Woraufhin Ann den Faden weitergesponnen und eine angeregte Diskussion über die Kunst der Verführung angestoßen hatte.
Sie fand es jedenfalls optimal, dass er nicht da war. Damit blieb ihr ein bisschen Zeit, um sich von der langen Fahrt frisch zu machen und sich eine heiße Verführungstaktik zu überlegen.
Sie hatte sich auch schon ein Schlafzimmer ausgeguckt: das mit dem größten Bett. Jashas Schlafzimmer.
Sie war cool. Und selbstbewusst. Sie war zum Äußersten entschlossen.
Und wieso lief sie dann auf Zehenspitzen zu ihrem Koffer, den sie gespenstisch leise aufhob, um sich damit geräuschlos zur Treppe zu schleichen?
Weil sie zeitlebens in der Requisite gestanden und darauf gewartet hatte, dass die große Liebe wie ein Silvesterknaller einschlagen würde. Und jetzt trat sie ins Scheinwerferlicht und wollte endlich beachtet werden - und sie würde Beachtung finden, egal wie. Ob mit tollen Klamotten - oder ohne.
Unvermittelt schoben sich Wolken vor die Sonne. Es wurde grabesdunkel im Raum. Der Wind heulte um das Haus, rüttelte an den Läden, Regen klatschte gegen die Fensterscheiben.
Das Unwetter brach über sie herein.
Nachtschwarze Küsse - Scent of Darkness
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