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Ann Smith achtete sehr auf gute Manieren.
Immer schon. Wenn sie einen Heiterkeitsanfall bekam, hielt sie sich
dezent eine Hand vor den Mund, um das Lachen zu dämpfen. War sie
traurig, weinte sie sich in der Abgeschiedenheit ihrer eigenen vier
Wände aus. Sie benutzte das Sch-Wort nicht - es war ihr höchstens
einmal unwillkürlich herausgerutscht, als ihr die Auflaufform aus
der Hand gerutscht war und die köstliche Lasagne sich über den
ganzen Küchenboden verteilt hatte. Aber da war sie allein
gewesen.
Wie so oft. Sie war Single und meistens
allein.
Sie legte großen Wert auf angemessene Kleidung.
Erst als Stenotypistin, dann als Sekretärin und später als
Assistentin der Geschäftsführung für den Chef von Wilder
Wines.
Und wieso trug sie dann neue, superlässige, total
angesagte Klamotten und fuhr einfach so, aus eigener Initiative,
von Kalifornien nach Washington, um ihrem Chef wichtige Dokumente
in sein Ferienhaus an der Küste zu bringen?
Warum wohl? Weil sie verliebt war. In Jasha
Wilder.
Jippie! Wer war das nicht?
Er war groß, einen knappen Meter neunzig. Was ihr
ausgezeichnet in den Kram passte, weil sie es auf Strümpfen auf
einen Meter achtzig brachte. Oder barfuß, wie ihre Freundin Celia
Kim kleinlich betonte. Er hatte das Gesicht eines gefallenen
Engels: dunkles Haar, dunkle Brauen, lange, dunkle gebogene
Wimpern, die Augen von einem ungewöhnlichen Goldbraun umrahmten.
Und er hatte ein Tattoo auf dem Arm. Das Motiv ähnelte zwei
umeinander gewundenen Schlangen, die von seiner Schulter zu seinem
Handgelenk krochen und sich dunkel und geheimnisvoll von seiner
gebräunten Haut abhoben. Sonderbar, aber es vermittelte Ann das
Gefühl, als würde sie etwas verbinden, irgendetwas, das sich nicht
in Worte bringen ließ. Sie hätte natürlich nie gewagt, ihn darauf
anzusprechen - und auch gar nicht gewusst, wie sie es ihm erklären
sollte.
Die stechenden Augen, die auffallende Tätowierung
und seine hochgewachsene, trainierte Statur gaben ihm etwas
Brutales, was er nicht war, zumindest solange man ihm bei seinen
Geschäften nicht in die Quere kam.
Da ließ er sich kein X für ein U vormachen.
Niemals.
Er hatte eine klassisch griechisch geformte Nase,
einen sinnlichen Mund mit strahlend weißen Zähnen und einem
wahrhaft umwerfenden Lächeln, sinnierte Ann hingerissen.
Sein Körper haute sie jedoch glatt um. Er war
perfekt.
Muskelbepackte Schultern, Waschbrettbauch und knackiger Po.
Insgeheim stellte sie sich vor, wie es sich anfühlen würde, diesen
sexy Po zu streicheln.
Sie sah seine nackten Beine jeden Tag, wenn er von
seinem Lauftraining ins Büro zurückkehrte und sich die schwitzenden
Schenkel und Waden mit einem Frotteetuch abrieb. Diese Aufgabe
hätte sie mit Kusshand für ihn übernommen, aber dazu fehlten ihr
natürlich der Mumm und ein anderes Jobangebot, falls er sie
umgehend entlassen hätte.
Zweifellos hätte sie spielend leicht einen neuen
Job gefunden; sie war eine hervorragende
Geschäftsführungsassistentin und bekam dauernd lukrative Angebote
von anderen Weingütern und Restaurants in Napa Valley.
Sie hatte alle abgelehnt. Jasha Wilder war ihr
Chef, und sie interessierte sich für keinen anderen Mann.
Deshalb befuhr sie auch den Highway 101, der sich
entlang der steil abfallenden Felsküste wand, mit gefährlich engen
Haarnadelkurven, unter ihr der wild brandende Ozean und
undurchdringliche Wälder.
Seitdem sie Washington passiert hatte, war sie etwa
fünfundzwanzig Meilen gefahren und hatte weder ein Haus noch ein
anderes Auto gesehen, nur ein paar Seevögel, die am Himmel
kreisten. Das passte korrekt auf Jashas Schilderungen; beim Erwerb
des Wochenendhauses hatte er das Land im Umkreis von zwanzig Meilen
gleich dazuerworben. Er beteuerte, dass er gern allein war, aber
ihr drückte die Einsamkeit allmählich aufs Gemüt. Was, wenn ihr
Wagen plötzlich schlappmachte?
Sie hatte ein voll aufgeladenes Handy dabei,
beschwichtigte sie sich, und außerdem blieb ihr Auto nicht stehen.
Der Miata war flammneu, ein richtiger Sportflitzer, passend zu
ihrem neuen Image. Wie die abgefahrenen Klamotten, die stylische
Frisur, das neue Make-up, die Laser-Augenkorrektur, die straffen
Titten - okay, Jasha bezahlte sie gut, aber eine
Brustkorrektur war trotzdem nicht drin. Stattdessen hatte sie sich
einen Wonderbra gekauft, der ihr Wundermöpse machte. Sie war eine
völlig neue Ann!
Sie kurbelte das Seitenfenster runter, ließ sich
den Wind durch ihre schulterlangen Haare wehen und drückte aufs
Gas, fest entschlossen, die Kurven wie die Profirennfahrer aus der
Werbung zu nehmen.
Du bist wohl lebensmüde oder was?
Der Wind pfiff durch das Fenster, blies ihr ein
topmodisch blondiertes Strähnchen in den Mund. Sie prustete und
spuckte. Eine weitere Strähne peitschte ihr in die Augen. Sie
musste blinzeln. Als sie ein Lid aufklappte, gerade noch
rechtzeitig genug, um eine Kurve wahrzunehmen, die rasend schnell
näher kam, brach ihr der kalte Schweiß aus sämtlichen Poren. Sie
versuchte gegenzulenken. Mit einem dumpfen Quietschen kamen die
Reifen von der Straße ab und schabten an der steilen Böschung
entlang. Hektisch nahm sie den Fuß vom Gas. Der Wagen brach aus.
Zweige schlugen gegen den Seitenspiegel.
Ann schaffte es, den Miata wieder auf die Straße zu
lenken, und kroch dann fast im Schneckentempo weiter. Sie zitterte
am ganzen Körper und war froh, dass niemand ihr idiotisches
Fahrmanöver beobachtet hatte. Nachdem sie mehrmals tief
durchgeatmet hatte, hielt sie sich genau an die vorgeschriebene
Geschwindigkeit und ging entschieden vorsichtiger in die
Kurven.
Sie inspizierte den Kilometerzähler. Noch ungefähr
fünf Meilen bis zum Ziel. Dann würde sie mit Jasha sprechen, ihm
das mit dem Anruf und den Dokumenten schildern. Irgendwann war es
dunkel und eine nächtliche Rückfahrt würde er ihr bestimmt nicht
zumuten wollen. Stattdessen würde er ihr anbieten, in seinem
Ferienhaus zu übernachten, überlegte sie. Sie trug eine lässige
naturweiße Leinenhose und darüber ein
hautenges orangefarbenes Top mit Spagettiträgern. Das coole Teil
entblößte ihre vom Bodybuilding gut definierten Arme und betonte
ihre schmale Taille.
Sei vernünftig, seufzte sie, und bleib ein braves
Mädchen. Probier deine Verführungskünste erst an ihm aus, wenn du
wieder in Napa bist, vielleicht irgendwo in den lauschigen
Weinbergen oder so. Außerdem gibt es da erstklassige Hotels und das
pralle Leben. Nicht hier in seinem Ferienhaus, an dieser wild
zerklüfteten Küste, dem sturmgepeitschten Ozean und unter
bleigrauen Wolkenbergen, die unter einem verwaschen blauen Himmel
dahinjagten.
Wenn sie den Kilometerzähler nicht im Blick gehabt
hätte, wäre sie glatt an der Zufahrt zu Jashas Anwesen
vorbeigerauscht.
Hohe Rhododendronbüsche versperrten ihr die Sicht.
Sie bremste scharf, bog um die Ecke und befand sich auf einer
Schotterpiste, die so eng war, dass sie einem entgegenkommenden
Fahrzeug unmöglich hätte ausweichen können. Ihr schickes neues Auto
holperte durch Dutzende Schlaglöcher, und sie dachte verärgert an
die unverschämt hohe Rechnung, die seinerzeit von dem
Straßenbauunternehmen gekommen war.
Jasha hatte die Überweisung anstandslos mit einem
müden Lächeln unterzeichnet.
Nach fünfhundert Metern passierte sie zwei Pfeiler
mit kauernden, in den Stein geschnittenen Löwen. Danach war die
Straße wieder asphaltiert. Links und rechts dunkler,
undurchdringlicher, kühler Wald mit uraltem Baumbestand.
Die Straße verlief in einer lang gestreckten Kurve
nach Westen, bis sie glaubte, sie würde gleich im Ozean
landen.
Die Vorstellung war gar nicht so abwegig.
Der Wald lichtete sich, und tief unter ihr lag der
Atlantik, endlos weit, wild und aufgewühlt. Ann bremste und stellte
den Motor aus. Sie stieg kurz aus dem Wagen, vertrat sich die
Beine und inhalierte die salzige Luft in tiefen Zügen. Als sie aus
Napa weggefahren war, hatte der Wetterbericht zwar keine
Sturmwarnung gebracht, trotzdem braute sich da etwas zusammen. Das
hatte sie irgendwie im Gefühl. Sie genoss den auffrischenden Wind,
der an ihren Haaren zerrte, und beobachtete die Wellen, die sich
mit aufpeitschender Heftigkeit an den Klippen brachen.
Bei Jasha empfand sie ähnlich heftig. Er spukte ihr
ständig im Kopf herum. Verrückt, schlimm und gefährlich zu wissen.
In einem verborgenen Winkel ihres Herzens stellte sie sich vor, wie
sie eine Streetgang anführte, mit den Navy SEALs kämpfte, für die
CIA spionierte und pausenlos gegen Gesetze verstieß.
Sie lachte laut auf. Nie im Leben würde die
spießige Miss Ann Smith so etwas bringen!
Schluss mit lustig. Sie schob entschlossen ihr Kinn
vor. Okay, sie war kein IT-Girl, aber wenn Jasha Wilder erst einmal
bei ihr angebissen hätte, würde sie ihn an der kurzen Leine halten
- was Meghan Nakamura nicht geschafft hatte. Ann malte sich
insgeheim aus, wie er sie verliebt anschaute und dabei zärtlich
beteuerte: »Mein Schatz, ich kann ohne dich nicht leben.« Und
nicht: »Ann, wenn Sie die Pinot-Weine katalogisiert haben, schicken
Sie Jennifer Chavez bitte einen Strauß rote Rosen mit einem
Kärtchen, dass es mir leidtut wegen ihrer Katze.«
»Was hat denn ihre Katze?«
»Sie hatte eine allergische Reaktion.«
»Auf was?«
»Auf mich.«
»Mögen Sie keine Katzen?« Ann dachte an Kresley,
ihren alten Kater.
»Doch, ich finde sie sehr lecker.«
Ann lachte unschlüssig.
Sie war sich nicht sicher, ob das ein Witz sein
sollte.
Als das Anwesen vor ihr auftauchte, verringerte sie
das Tempo. Unversehens geisterte ihr durch den Kopf, was Jasha ihr
über das Haus erzählt hatte - dass es ein Schloss sei, zu Beginn
des zwanzigsten Jahrhunderts von einem Holzbaron erbaut. Als große
Geste und glühendes Bekenntnis seiner tiefen Liebe zu einer jungen
Frau, seiner Traumfrau. Seine Herzdame ließ sich davon nicht
beeindrucken, und er hatte bis zu seinem Tod allein in der
prachtvollen Hütte gelebt.
Jasha hatte das Anwesen auf einer Auktion
ersteigert und komplett renoviert. Weil er auf ihren Geschmack und
ihre Stilsicherheit vertraute, hatte er Ann gebeten, Möbel, Tape
ten,Vorhänge und Teppiche auszusuchen und in seinem Auftrag zu
bestellen. Folglich empfand sie es so, dass sie das Haus gemeinsam
eingerichtet hatten, und ihr Herzschlag beschleunigte sich gespannt
…
Die Auffahrt wurde breiter. Die Baumreihen
lichteten sich. Das Schloss tauchte vor ihr auf.
Sie trat hektisch auf die Bremse, würgte beinahe
den Motor ab.
Wenn sie mit vielem gerechnet hätte, aber damit
nicht. Schreck lass nach!
Im Geiste hatte sie sich ein Märchenschloss
ausgemalt, so ähnlich wie bei Cinderella, wenn auch mit weniger
Zinnen und Türmchen.
Stattdessen ragte der hohe, schmale Bau wie ein
stilisierter Phallus in die vorüberflitzenden Wolken. An einen
Felsvorsprung geklammert, erhob sich das Schloss über dem alten
Baumbestand. Es sah aus wie ein Monster, sann Ann, der Letzte
seiner Spezies, der sich vor lauter Gram im nächsten Augenblick
über den Klippenrand in den Tod stürzen wollte. Die Fassade wirkte
abstoßend bizarr, denn Wind und Wetter
hatten dem Stein ein tristes Grau verpasst. Verwitterte
Wasserspeier starrten aus leeren Augenhöhlen von drei Seiten des
Gemäuers in die Tiefe, und die Spitze des grauen Schindeldachs
zerriss die geballten Wolkenberge in winzige Fetzen.
Das breite Frontportal, das sich schwer auf eine in
das Felsfundament geschnittene Stufe stützte, wurde von unbehauenen
Granitsäulen flankiert, die ein vorstehendes, dick verschiefertes
Vordach trugen. »Die Raubritterburg lässt grüßen«, japste
Ann.
Warte, bis die Sonne rauskommt, beschwichtigte sie
sich halbherzig, dann sieht der olle Kasten gleich besser
aus.
Die Sonne stahl sich durch die Wolken.
Das Geisterschloss sah kein bisschen besser
aus.
Goldene Strahlen glitzerten auf den Scheiben,
verwandelten die dunkel gähnenden Rauten in glühende Augen, dass es
geradezu unheimlich anmutete. Die Schatten wurden bereits
länger.
Auf der Suche nach Jasha ließ Ann unschlüssig den
Blick über das Grundstück schweifen. Sie entdeckte ihn weder auf
der Wiese noch auf dem Vorplatz mit den dicht gewachsenen
Koniferen, die jede Menge Licht schluckten. Die Garage war hinter
dem Haus; womöglich war er dort. Vielleicht war er auch in die
Stadt gefahren oder eine Runde joggen. Wie dem auch sein mochte -
sie war jedenfalls heil angekommen, und sie würde bleiben.
Ann fuhr vor den Eingang. Sie bremste, atmete tief
durch, während sie skeptisch das Lenkrad umklammerte.
Sie hatte es so gewollt. Sie hatte auf diesen Trip
hingearbeitet, war ausgiebig shoppen gegangen und hatte von nichts
anderem mehr geträumt. Wenn sie jetzt kniff, würde sie sich ständig
Vorhaltungen machen.
Wenn sie jetzt einen Rückzieher machte, verdiente
sie ihr Glück nicht.
Sie konnte es packen, klar, sie würde es locker
schaffen.
Sie zog reflexartig die Handbremse - das tat sie
immer, selbst auf ebener Fläche, weil sie ja eigentlich eine
besonnene Fahrerin war. Nahm ihre lederne Aktenmappe - ein Geschenk
von Jasha - und ihre Handtasche vom Beifahrersitz. Als sie
hinausglitt, riss der Wind so heftig an der Wagentür, dass sie sie
kaum festhalten konnte. Sie drückte die Tür mit einem energischen
Hüftschwung zu, ließ den Kofferraumdeckel mit der Fernbedienung
aufschnappen und nahm ihren Koffer heraus - einen großen, schweren,
vollgepackten Koffer, wohlgemerkt. Sie brauchte beide Hände und
ihre neu erworbenen Fitnessstudio-Muckis, um ihn aus dem Kofferraum
zu heben. Zum Glück hatte das schwere Biest Rollen, auf denen sie
es zum Eingang zog.
Der Wind stemmte sie zur Seite, verwuschelte ihre
Haare, riss an ihrem Top. Aus der Ferne drang das Tosen der
Brandung zu ihr, das zornige Schlagen der aufgewühlten Wellen. Die
Luft roch nach Salz und Seetang, Immergrün und ungezähmter
Wildheit.
Während sie mühsam einen Fuß vor den anderen
setzte, ragte das Schloss bedrohlich vor ihr auf. Warf seinen
gespenstisch ausgezackten Schatten wie einen dunklen Mantel über
die junge Frau. Auf der Steinstufe vor dem Portal blieb sie stehen.
Blinzelte, um ihre Augen an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Hier war
sie zwar geschützt vor dem gnadenlosen Wind, trotzdem schauderte
ihr von der kühlen, unwirtlichen Atmosphäre.
Als sie den Koffer auf die Stufe zerrte, knirschten
die Rollen gequält über den rauen Schiefer. Ann nahm kritisch die
Tür in Augenschein, die sie selbst bei einem Avantgardekünstler in
Auftrag gegeben hatte. Sie hatte schwarzes Walnussholz mit
Kassetten aus brasilianischem Mahagoni bestellt. Sie konnte weder
das Holz noch den Lüster ausmachen, und der
Türgriff, ein Löwenkopf mit einem Ring aus massivem Messing, war
in der Dunkelheit kaum zu erkennen. Sie fand die Klingel und
drückte auf den Knopf.
Im Innern läutete eine Glocke.
Niemand kam an die Tür.
Sie klingelte abermals, dann klopfte sie zaghaft
mit dem Messingring auf das Holz. Nichts. Die Tür war
verschlossen.
Jasha war nicht zu Hause.
Was tun? Zurückfahren? Sich gut zureden, dass sie
es immerhin versucht hatte, und auf ein nächstes Mal warten?
Es würde kein nächstes Mal geben, das stand für sie
fest. Jetzt oder nie. Also ging sie ihre sämtlichen Schlüssel durch
und fand den richtigen.
Immerhin war sie Jashas persönliche Assistentin.
Und las ihm jeden Wunsch von den Augen ab. Redete seine Mutter mit
Vornamen an. Sie hatte sogar einen Ersatzschlüssel für seinen Safe.
Folglich brauchte sie gar keine Skrupel zu haben, den ihr
anvertrauten Haustürschlüssel auch zu benutzen.
Sie drehte ihn vorsichtig im Schloss. Das Portal
ließ sich problemlos öffnen und schwang geräuschlos auf. Sie spähte
in die Eingangshalle - und atmete erleichtert auf.
Drinnen sah es schon besser aus. Viel besser.
Wohlig einladende Wärme umfing Ann. Sie tastete nach dem
Lichtschalter. Sobald der Kristallleuchter aufflammte, tanzten
tausend bunte Prismen an der hohen Decke und den mattweißen Wänden.
Eines der Prismen streifte das Blinklicht der Alarmanlage, und sie
hielt den Atem an. Ließ Handtasche und Schlüssel auf den Tisch
neben der Eingangstür fallen. Und stellte sich vor das
Kontrollpaneel.
Sie gab den Code ein.
»Jasha? Mr. Wilder?«, rief sie.
Keine Antwort.
Okay. Sie beschloss, drinnen auf ihn zu
warten.
Sie zerrte den Rollenkoffer über die Schwelle.
Nachdem sie die schwere Eingangstür hinter sich zugedrückt hatte,
bewunderte sie die Fenster in der Halle. Böhmisches Kristallglas -
im Stil Art déco, eine Nachbildung von einer renommierten Glaserei
an der Ostküste. Es war ihre Idee gewesen, und sie freute sich über
die gelungene Umsetzung. Die Eleganz war wirklich ihren Preis wert.
Jede der in Mahagonirahmen eingesetzten Scheiben mutete wie ein
funkelnder Diamant an, der das Licht in bunt glitzernden Facetten
brach.
Neugierig auf das Interieur, das sie quasi per
Ferndiagnose bestellt hatte, lief sie weiter.
Das Foyer mündete in den großen Salon.
Orientteppiche aus schimmernden Seidengarnen bedeckten das zu einem
satten Goldton gedunkelte Holzparkett. Polster und Vorhänge waren
in warmen, gedeckten Farben gehalten. Ein Konzertflügel aus
schwarzem Lack dominierte eine Ecke des Zimmers. Die Gemälde -
fröhlich bunte, moderne Kunst - waren ebenfalls in schwarz
glänzendes Ebenholz gerahmt. Vor dem deckenhohen Elektrokamin, in
dem ein munteres Feuer prasselte, stand eine schlichte, gemütliche
Sitzgruppe.
Ann, die den Raum gestaltet hatte, klopfte sich
mental auf die Schulter. Es sah echt super aus.
Eine holzgeschnitzte geschwungene Treppe führte zur
Galerie im ersten Stock. Sie ging zum Treppenabsatz und rief nach
oben: »Jasha?«
Sie lief zu der Tür, die in sein Arbeitszimmer
führte, und dann zur Küche. »Mr. Wilder?«
Nichts. Keine Reaktion. Er war nicht da. Dann war
er bestimmt irgendwo draußen. Trotz der unbehaglichen Witterung
spulte er vermutlich im Freien sein Laufpensum ab. Er behauptete
steif und fest, das halte seine kleinen grauen Zellen fit. Und
hatte sie schon häufiger eingeladen, ihn zu begleiten.
Woraufhin sie ihm jedes Mal geantwortet hatte, ihre
kleinen grauen Zellen seien fit genug.
Sie hatte einfach keine Lust, Joggingklamotten
anzuziehen und mit ihm zu laufen. Meistens zog er dabei sein Hemd
aus. Dann hätte sie womöglich die ganze Zeit auf seinen
trainierten, von schwarz gekräuseltem Flaum bedeckten Oberkörper
gestarrt und auf das ungewöhnliche Tattoo, das mit dem Muskelspiel
seiner Arme zuckte. Jedes Mal, wenn er von seinem Lauftraining
zurückkam, hätte sie ihm am liebsten die winzigen Schweißperlen von
den Brustwarzen geschleckt und mit den Händen seine Schenkel
gestreichelt, um zu testen, ob sie wirklich so hart waren wie in
ihrer Fantasie.
Mit ihm laufen? Wovon träumte er? Noch bevor sie
vom Parkplatz runter wären, würde sie hyperventilieren. Ihr reichte
es völlig, dass er eine Hantelbank in seinem Büro stehen hatte und
Gewichte stemmte, wenn er wie üblich länger arbeitete und einen
verspannten Nacken hatte. Sein Bizeps war nicht zu verachten.
Also war sie allein in diesem Haus, wo sie gespannt
darauf wartete, dass ihr erster Lover endlich zur Tür
hereinspazierte.
Sie rieb nervös mit den Handflächen über ihre
Hose.
Er konnte nicht ahnen, dass er ihr erster Mann war,
geschweige denn, dass er überhaupt ihr Lover werden würde. Und da
lag das Problem. Wie könnte sie ihm das wärmstens ans Herz legen?
Sie überlegte kurz, ob sie eine Power-Point-Präsentation
vorbereiten sollte; da würde es bei ihm bestimmt Klick
machen, weil sie diese Technik bei Konferenzen beide intensiv
nutzten und verstanden.
So viel zum Thema Aufklärung, giggelte sie. Sie
erinnerte sich an die peinliche Unterrichtsstunde in der achten
Klasse, als die verknöcherte Schwester Theresa irgendwas von
Vermehrung, Enthaltsamkeit und Sündhaftigkeit heruntergeleiert
hatte. Woraufhin Ann den Faden weitergesponnen und eine
angeregte Diskussion über die Kunst der Verführung angestoßen
hatte.
Sie fand es jedenfalls optimal, dass er nicht da
war. Damit blieb ihr ein bisschen Zeit, um sich von der langen
Fahrt frisch zu machen und sich eine heiße Verführungstaktik zu
überlegen.
Sie hatte sich auch schon ein Schlafzimmer
ausgeguckt: das mit dem größten Bett. Jashas Schlafzimmer.
Sie war cool. Und selbstbewusst. Sie war zum
Äußersten entschlossen.
Und wieso lief sie dann auf Zehenspitzen zu ihrem
Koffer, den sie gespenstisch leise aufhob, um sich damit
geräuschlos zur Treppe zu schleichen?
Weil sie zeitlebens in der Requisite gestanden und
darauf gewartet hatte, dass die große Liebe wie ein
Silvesterknaller einschlagen würde. Und jetzt trat sie ins
Scheinwerferlicht und wollte endlich beachtet werden - und sie
würde Beachtung finden, egal wie. Ob mit tollen Klamotten - oder
ohne.
Unvermittelt schoben sich Wolken vor die Sonne. Es
wurde grabesdunkel im Raum. Der Wind heulte um das Haus, rüttelte
an den Läden, Regen klatschte gegen die Fensterscheiben.
Das Unwetter brach über sie herein.