24
Jasha stand über den reglosen Körper des
Varinski gebeugt. Er blickte zu Ann hoch. Blut tropfte aus einer
Schramme an seiner Kehle. Mit einem Feuerwehrgriff schulterte er
die Leiche. Während er durch die Dunkelheit stapfte, rief er: »Es
wird gleich hell. Lauf ins Tal. Ich finde dich schon.«
Was immer das bedeuten mochte.
Ann spähte um sich. Sie stand auf dem Dach der
Welt, ringsum nichts als gigantische Bergmassive, darüber der
tintenschwarze, von glitzerndem Sternenstaub überhauchte
Nachthimmel. Es wehte eine leichte frische Brise, die Luft war so
dünn, dass Ann schwer nach Atem rang. Kein Vogel, kein wildes Tier
regte sich. Keine Gespenster, die bleich und ätherisch im Wind
tanzten. Sie war so allein wie noch nie zuvor in ihrem Leben.
Sie zog das Böse an. Und geriet dauernd an die
falschen Menschen.
Mag sein, aber Jasha hatte sie getötet. Bei Jasha
fühlte sie sich sicher und geborgen, und ihre sämtlichen Gebete
waren erhört worden.
Das Leben, das sie in Kalifornien geführt hatte,
schien Lichtjahre zurückzuliegen. Hier oben galten andere
Dimensionen. Sie sah den Scherbenhaufen ihres früheren Daseins vor
sich ausgebreitet. Seit sie mit Jasha zusammen war, waren die
Farben ihrer Träume von sanftem Pastell zu kräftigen Temperatönen
umgeschwenkt.
Was sollte sie tun?
Sie konnte nicht weglaufen. Sie musste hier auf dem
höchsten Punkt der Welt bleiben und ihres Schicksals harren.
Fetzen des Schlafsacks wirbelten mit dem Wind an
ihr vorüber und appellierten indirekt an ihr Umweltbewusstsein in
einem der letzten unberührten Naturparadiese. Sie sammelte alles
ein und warf es in den intakten Boden des Schlafsacks. Bevor sie
ihn in den Rucksack stopfte, inspizierte sie den Zipper. Das
Nylongewebe hatte sich im Reißverschluss verhakt; kein Wunder, dass
sie sich aus dem Ding hatte herausschneiden müssen.
Während der Himmel langsam aufhellte, marschierte
sie den Berg hinunter, Richtung Norden. Sie hatte keine Ahnung,
wohin sie lief. Es war ihr egal; Jasha hatte beteuert, er werde
sie finden, und das würde er. Sie machte sich Sorgen um ihn.Vor
ihrem geistigen Auge entwickelte sich ein dramatisches
Verbrechensszenario: Ein Jäger ermordet den anderen, der zweite
Jäger stirbt nach einem Angriff durch ein wildes Tier. Trotzdem
zweifelte sie nicht eine Minute lang daran, dass Jasha sein Ziel
erreichen würde.
Sie wünschte bloß, er wäre jetzt bei ihr.
Irgendwie war sie nicht ganz dicht, oder? Gestern
noch war sie überzeugte Pazifistin gewesen, die Folter, Mord und
Tod anprangerte. Dann hatte sie mit angesehen, wie Jasha um sein
Leben kämpfte. Inzwischen belastete es sie nicht mehr, dass er
jemanden getötet hatte; wichtig war, dass er lebte und - zu ihr
stand. Sie nahm sich fest vor, ihn bei ihrem Wiedersehen erst
einmal kräftig zusammenzustauchen, weil sie halb umgekommen war vor
Sorge um ihn. Dann wollte sie ihn fest in ihre Arme kuscheln,
während er schlief, und wenn er aufwachte, wollte sie ihn stürmisch
lieben und zärtlich verwöhnen.
Ihre Füße schmerzten, und der Sommertag wurde
unerwartet heiß. Nachdem sie die Wanderstiefel und die drei Paar
Socken ausgezogen hatte, seufzte sie erleichtert auf.
Sie hatte sich immer als linkisch empfunden; aber
nach Jashas Riesentretern würde sie in ihren eigenen Schuhen
bestimmt elegant wie ein Model daherschreiten.
Sie zog Tarnhemd und -hose aus, warf beides über
den Felsen und verschwendete keinen Gedanken darauf, ob sie
womöglich beobachtet wurde. Nachdem Jasha ihr jedoch beigebracht
hatte, in die Luft zu schnuppern und auf die Geräusche des Waldes
zu lauschen, würde sich niemand anschleichen können, ohne dass sie
es merkte.
Sie schob den Slip lasziv über ihre Hüften, genoss
den warmen Luftzug auf ihrer Haut. Ohne den Kopf umzuwenden, fragte
sie: »Bist du okay?«
Jasha trat hinter den Bäumen hervor. Er war nackt.
Er hatte in der Nähe gebadet, auf seinem feuchten Körper glitzerten
Wassertropfen. »Ja.«
Sie streifte ihr Höschen runter, lehnte sich mit
dem Rücken an einen Baum und lächelte ihn an. Lächelte zum ersten
Mal mit dem herausfordernden Wissen um ihre Sexualität. »Komm
her.«
Er kam zu ihr, eroberte ihre Lippen mit einem
leidenschaftlichen Kuss.
Dann packte sie ihn bei den Armen, drückte ihn vor
die flachen Steine. Sie betrachtete ihn, die langen trainierten
Schenkel, den Waschbrettbauch und eine Erektion, die hart
pulsierte. Ihr Blick glitt zu seinem Gesicht, auf dem sich Lust und
Erregung zeigten.
Sie war die Einzige, die diese Lust zu stillen
vermochte.
Sie beugte sich über ihn, trommelte mit den Fäusten
auf seinen Solarplexus. »Ich hab mir wahnsinnig Sorgen um dich
gemacht!«
Sorgen? Das war gar kein Ausdruck. Sie war fast
gestorben vor Angst.
Er schob sich mit den Fingern das dunkle, noch
feuchte Haar aus den Schläfen. »Das brauchtest du nicht.«
»Wieso nicht?« Ihr Blick senkte sich beschwörend in
seinen, ihre Lippen schwebten begehrlich über seinem Mund. »Weil
das Schicksal es immer sooo gut mit mir gemeint hat? Weil ich seit
meiner Abreise aus Kalifornien mein Leben absolut im Griff habe?
Träum weiter, Jasha! Ich hab die Wahrheit begriffen, und zwar auf
die ganz harte Tour. Das Leben ist ein dauernder Kampf zwischen Gut
und Böse, und am Ende dürfen wir noch froh sein, wenn wir diesen
kurzen Augenblick für uns haben!« Sie schob sich lasziv auf seinen
Astralkörper, presste ihre Lippen auf seine.
Sein Kopf sank zurück, auf den ausgewaschenen
Felsen. Er
blieb passiv, ließ sich von ihr küssen, entspannte sich, als sie
seinen Mund mit neugieriger Zunge erkundete - sie wollte wissen,
was ihn erregte.
Als er wohlig erschauerte, wusste sie, dass sie es
genau richtig machte.
Er stöhnte rau, als sie fedrige Küsse auf seine
Wangen, sein Kinn, seine Brust hauchte. »Willst du mir eine
Nachhilfestunde geben?«
»Vielleicht auch zwei.« Sie küsste seinen
Rippenbogen, seinen Bauch, umspannte seinen erigierten Penis mit
beiden Händen und rieb ihn.
»Du erinnerst mich daran … du erinnerst mich daran,
was Leben ist«, raunte er sehnsüchtig.
»Ich möchte dich daran erinnern, wie schön das
Leben sein kann.« Ann umschloss seine Erektion mit ihren Lippen.
Sie wollte ihn so verrückt machen, wie er es bei ihr an jenem Abend
in der Wanne geschafft hatte … und jede Nacht, seitdem sie bei ihm
war. Seine Haut war kühl und feucht nach dem Bad und dennoch
durchströmt von einer inneren Glut, die sie mit jedem Zungenschlag
spürte. Sie liebte diese Haut, ihre seidige Textur, die feinen
Rillen und Falten. Jedes Mal, wenn sie ihn tief in ihren Mund sog,
zuckte sein Becken lasziv, und er stöhnte lustvoll.
Als er sie zu umschlingen suchte, hob Ann den Kopf
und wehrte seine Arme ab. »Jetzt bin ich erst mal dran.«
Seine Hände verharrten für einen Wimpernschlag in
der Luft, als könnte er der Versuchung nicht widerstehen.
Sie funkelte ihn an. »Hörst du schlecht? Ich bin
jetzt dran.«
Er sank zurück. »Du wirst mich umbringen.«
»Das hoffe ich«, versetzte sie hitzig, bevor sie
ihn erneut mit ihren Lippen verwöhnte.
Er erschauerte, als sie seine Schenkel streichelte,
mit ihren
Fingern spielerisch über sein Becken glitt, ihre Handflächen auf
seinem Bauch spreizte. Sie liebte die Macht, die sie in diesem
Moment besaß, liebte es, dass er ihr ausgeliefert war.
Sie konnte sich jedoch nicht ewig bremsen; das
Adrenalin kribbelte in ihren Nervenbahnen, und die Vorstellung, ihn
zu verführen, jagte ihr einen glutvollen Schauer über den Rücken.
Sie hob seufzend den Kopf, stützte ihre Knie rechts und links von
seinen Hüften auf dem Felsen ab und ließ sich behutsam auf ihn
gleiten. Jetzt besaß sie ihn, wie er sie besessen hatte. Sie war
immer noch eng, und er war gewaltig und feucht von ihrem
Zungenspiel. Eine scharfe Welle der Lust überwältgte Ann, als ihre
Leiber zueinanderfanden und der Tau ihrer Vagina seine Spitze
benetzte. Dann war es um sie geschehen; sie wollte ihn ganz in sich
spüren. Stöhnend vor Lust öffnete sie sich ihm, schenkte ihm ihren
Körper.
Jasha schloss seine kraftvollen Hände um ihren
Steiß, unterstützte ihre Bewegungen, stimulierte sie, dabei blieb
er ganz ruhig liegen. Er übernahm den passiven Part, gleichwohl las
sie in seinen glutvollen Augen, dass ihm eigentlich etwas ganz
anderes vorschwebte. Du lieber Himmel, er wollte sie mit allen
Sinnen vernaschen.
Was war mit dem sanften, sinnlichen Begehren, das
sie sich in ihren Träumen ausgemalt hatte?
Irgendwann vielleicht … jetzt war es jedenfalls
wilde, schamlose, fordernde Leidenschaft. Sie hatte ihn zärtlich
verführen wollen, aber das reichte ihm nicht. Sie tanzte mit ihm
einen frivolen, freizügigen Tanz ihrer Leiber, bäumte sich über ihm
auf, ihre Knie stießen sich an dem harten, warmen Stein. Die
Sonnenstrahlen spielten auf ihrem Rücken, erhellten jeden
Muskelstrang seines Körpers, sein stoppeliges Kinn, die dunklen
Haare, die sich auf dem blassen Granitgestein fächerten.
Er lebte. Sie lebte. Nur das zählte.
»Bitte, Ann.« Seine Hände glitten zu ihrem
Busen.
Sie schob ihre Finger auf seine Handrücken, presste
sie auf ihre Brüste.
Er umschloss sie, massierte sie zärtlich, befeuerte
ihre Lust.
Währenddessen streichelte Ann seine Schultern,
seinen Bizeps, bis sie beide lustvoll stöhnten. Sie kamen zusammen,
eine gewaltige Explosion, die das Bergmassiv erschütterte und ihre
letzten Schamgefühle auslöschte.
Sie sank auf ihn, glücklich erschöpft von der
Befriedigung, die sie erfüllte.
Sie liebte Jasha und sehnte den Augenblick herbei,
in dem er ihr ebenfalls seine Liebe gestand. Aber selbst wenn
dieser Tag niemals käme - sie würde ihn immer lieben.
Am Nachmittag führte Jasha Ann über einen
Berggrat. Unvermittelt lag Puget Sound vor ihnen ausgebreitet, mit
seinen kleinen Inseln, die über das azurblaue Meer verstreut lagen,
und einer Nebelbank, die sich vor die Weiten des Ozeans
schob.
Er beobachtete, wie sie verzückt seufzte, und
lächelte. Er hatte sie sicher durch die Wälder geführt. Er hatte
den Bastard getötet, der es auf ihn abgesehen hatte. Und heute
hatte Ann ihnen beiden bewiesen, dass sie ihn liebte.
Irgendwann, als sie sich an den faszinierenden
Naturschönheiten sattgesehen hatte, fragte er: »Hast du dein Handy
griffbereit dabei?«
Sie zog es aus der Hosentasche und zeigte es
ihm.
»Ruf Rurik an. Sag ihm zwanzig vor acht. Mehr
nicht. Er weiß Bescheid.«
Sie schüttelte ungläubig den Kopf, bevor sie Ruriks
Nummer eintippte.
Um acht Uhr an jenem Abend stiegen Jasha und Ann
in Seattle an der Ecke Fifth und Union in den Fond eines dunklen
Buick LeSabre, Baujahr 1980.
Sein Bruder Rurik, der auf dem Fahrersitz saß,
drehte sich grinsend zu ihnen um. »Machen Sie es sich ruhig bequem,
Miss Smith. In drei Sunden sind wir zu Hause.«