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Jasha stand bewegungslos in der großen
Halle und nahm konzentriert Witterung auf. Er roch das
vorüberziehende Gewitter, harzigen Tannenduft und feuchten
Waldboden. Diese Gerüche strömten durch das zerbrochene Fenster und
erfüllten das gesamte Haus.
Er schnupperte die strengen Ausdünstungen des
Wolfsrudels, die er vorhin mit hereingebracht hatte. Anns femininer
Duft hing überall im Haus; er entströmte wie ein duftiger Hauch den
Unterlagen, die sie aus dem Büro mitgebracht hatte, der
Aktentasche, die sie für ihn gepackt hatte, und dem Laptop, den sie
benutzte. Jedoch schien dieser Duft jetzt von ihrem Entsetzen
überlagert, mit dem sie seine Verwandlungen beobachtet hatte; es
war jene Witterung, die er gleich nach ihrer Ankunft aufgenommen
hatte. Damit war er auf sie aufmerksam geworden.
Sonst war niemand da gewesen. Zumindest kein
Mensch.
Er lauschte angespannt. Im Wirtschaftsraum drehte
Ann eben die Dusche ab. Er hörte das Summen des Wasserboilers im
Keller. Draußen raschelte es in den Büschen, weil die Wolfsmeute
das Haus umkreiste.
Sonst war es still.
Sein Blick glitt forschend in jeden Winkel. Der
Wind, der durch das zerbrochene Fenster pfiff, hatte die
Zeitschriften auf dem Kaffeetisch aufgeblättert. Er gewahrte die
Pfotenabdrücke, die er auf dem Parkett hinterlassen, die Stilettos,
die Ann nach ihm geworfen hatte, und betrachtete nachdenklich das
eingetrocknete Blut auf seiner Brust.
Die Frau hatte ein gutes Auge und war ziemlich
treffsicher.
Er berührte das brennende Mal auf seiner
Wange.
Verdammt treffsicher.
Außer Ann war heute niemand in sein Haus
eingedrungen.
Aber sie würden kommen.
Seine Mutter hatte eine Vision gehabt. So viel
stand fest. Und sie war in einen Trancezustand gefallen. Möglich,
dass sie ihre eigenen Vorahnungen ausgesprochen hatte. Irgendwelche
düsteren Prophezeiungen. Keine Ahnung, verflucht nochmal.
Er hatte sie nie zuvor so erlebt. Hatte nicht mal geahnt, dass sie
diese Gabe besaß. War seine Mutter tatsächlich eine
Hellseherin?
Die Blinden können sehen, und die Söhne von Oleg
Varinski haben uns gefunden.
Die Akten der Familie Wilder waren sicher
aufgehoben. Sein Haus war mit einer Alarmanlage gesichert. Es hatte
sich nichts verändert.
Doch - alles hatte sich verändert. Alles.
»Du darfst dir nie sicher sein, denn sie sind
überall. Um den Pakt nicht zu gefährden, wollen sie dich
vernichten.«
Der Pakt. Er wusste um den Pakt. Es war
zwangsläufig geschehen: an dem Tag, als seine erste Verwandlung
stattgefunden hatte. Da hatte sein Vater sich zu ihm gesetzt und
ihm alles erklärt. Aber ein Dreizehnjähriger, der gerade
festgestellt hatte, dass er sich in ein Raubtier verwandeln konnte,
und dabei ein megacooles Tattoo an seinem Körper entdeckte, dem auf
beiden Wangen dünne Tast- statt Barthaare wuchsen, hatte weiß Gott
andere Probleme. Ehrlich gesagt hatte ihn dieser unsägliche Pakt
damals nicht die Bohne interessiert.
Vor tausend Jahren? Die Familie Varinski? Der
meistgefürchtete Name im gesamten russischen Zarenreich? Ein Pakt
mit dem Teufel?
Ja, Papa. Klar, Papa. Cool. Jetzt kann ich die
ganze Nacht ausbleiben, denn wenn ich mich in ein wildes Tier
verwandeln kann, brauche ich nicht mehr in die Schule zu
gehen.
Er und Konstantine hatten daraufhin eine hitzige,
wortreiche Auseinandersetzung geführt.
Jasha war am nächsten Morgen zur Schule gegangen.
Solange er mit seinem Vater unter einem Dach wohnte, hatte er
keinen Schultag versäumt, und als er ein einziges Mal nachts
weggeblieben war, hatte Konstantine ihm gehörig die Leviten
gelesen.
Sein Vater stammte nämlich aus dem früheren
Zarenreich, aus Russland, und seine Söhne gehorchten ihm,
fürchteten - und liebten ihn.
Und du, mein Geliebter. Du hast dein Leben
verwirkt.
Unfassbar. Mit diesen Worten hatte seine Mutter das
Todesurteil über seinen Vater verkündet.
Jasha lief zum Telefon, weil das rote Licht des
Anrufbeantworters aufleuchtete. Und lauschte abermals Firebirds
Stimme: »Papa wird nicht mehr künstlich beatmet. Es geht ihm den
Umständen entsprechend gut. Die Ärzte haben immer noch keine genaue
Diagnose gestellt, außer dass es was mit dem Herzen zu tun hat.
Aber was, da stehen sie vor einem Rätsel.« Firebird senkte die
Stimme. »Ich hab mitbekommen, wie die Schwestern sich zuflüsterten,
dass sie es bei Papa mit einem parapsychischen Phänomen zu tun
hätten und wir bei einem Geisterheiler besser aufgehoben
wären.«
»Typisch«, grummelte Jasha und löschte die
Aufzeichnung.
Zorana liebte Konstantine. Jasha wusste das so
sicher, wie der Mond um die Erde kreist. Aber vor drei Tagen, am
vierten Juli, hatte sein Weltbild einen Knacks bekommen. Da hatte
seine Mutter Dinge gesagt, schauerliche Dinge. Er würde niemals
vergessen, wie seine Mom mit dem Finger auf seinen Dad gezeigt und
ihm den Tod und ewige Verdammnis prophezeit hatte.
Ihre Prophezeiung war nicht einfach aus der Luft
gegriffen - wie sich augenblicklich gezeigt hatte.
Sein Vater hatte Zorana angestarrt. Währenddessen
füllten sich seine Augen mit Tränen. Dann war er zusammengebrochen.
Und sie war mit einem Satz bei ihm gewesen.
Hatte sie allen Ernstes geglaubt, sie könnte diesem
Baum von einem Mann aufhelfen? Seine zarte, winzige Mutter?
Gleichwohl hatte sie ihn den ganzen Weg die Treppe hinunter
gestützt und zum Krankenwagen begleitet, der ihn mit Blaulicht und
Sirene nach Seattle in die Klinik gebracht hatte.
Jasha schlenderte zu den deckenhohen Fenstern und
blickte hinaus - über die wild zerklüftete Küstenlinie auf den
sturmgepeitschten, gischtsprühenden Atlantik.
Sobald die Ärzte Konstantines Zustand für stabil
erklärten, hatte Jasha seine Pflichten als stellvertretendes
Oberhaupt der Familie wahrgenommen. Er hatte Zorana, Firebird und
Rurik am Krankenbett seines Vaters zurückgelassen und war
hierhergefahren, um sich zu vergewissern, dass die geheimen
Dokumente der Familie - ihre Wertpapiere, ihre
Einwanderungsdokumente, ihre privaten Aufzeichnungen - unangetastet
unten im Safe lagen.
Alles war noch da, gut versteckt in seiner bizarr
anmutenden Villa am Meer und von der besten Alarmanlage geschützt,
die man für Geld kaufen konnte.
Die Alarmanlage, die Ann ausgeschaltet und nicht
wieder eingeschaltet hatte.
Hatte sie das absichtlich gemacht? Hatten die
Varinskis sie dafür bezahlt, dass sie herkam und ihn in die Falle
lockte? Oder Ann mit Drohungen weichgeklopft, weil sie nicht
freiwillig mitspielte?
»Hi.« Sie stand in dem gewölbten Türbogen. In
seinen flauschigen weißen Frotteebademantel gekuschelt, in dem sie
fast versank. Er registrierte die tiefroten Kratzer auf ihren
wohlgeformten Waden. Sie hatte ihre noch feuchten Haare streng nach
hinten gebürstet, und ihr Gesicht sah blass und mitgenommen aus.
Ihre blauen Augen waren dunkel umwölkt. Allerdings lächelte sie
zaghaft, ein entrücktes Lächeln, genau wie im Büro, wenn sie sich
von ihm unbeobachtet glaubte. »Ist alles in Ordnung?«
»So weit ja.«
»Kann ich mich irgendwie nützlich machen?«
Sie würde niemals falschspielen und ihn ans Messer
liefern. Jedenfalls nicht bewusst. Ann Smith war grundehrlich.
Dafür würde er seine Hand ins Feuer legen.
Außerdem bewunderte sie ihn. Das war ihm gleich
beim Einstellungsgespräch aufgefallen. Anns Schwärmerei für ihn
hatte ihre Arbeitsleistung nie negativ beeinflusst, ganz im
Gegenteil, das bisweilen elektrisierende Knistern zwischen ihnen
wirkte sich höchst positiv aus.
Sie humpelte zur Treppe und stolperte über die
Teppichkante. Mit einem gepressten Stöhnen spähte sie zu ihm,
unsicher, ob er sie beobachtete. Dann atmete sie tief durch. »Bist
du sauer, dass ich hergekommen bin? Ich meine, du hast mich
schließlich nicht erwartet, sonst …«
»Hätte ich mich nicht in einen Wolf verwandelt,
meinst du das?«
»Ja. Genau das.«
Er hätte hinauslaufen und sich Leaders Rudel
anschließen sollen, aber der Schock war ihm in sämtliche Glieder
gefahren. Er hatte nur noch gedacht: Was kann ein einziges Mal
schon groß ausmachen?
Jetzt wusste er es.
Hätte er ihren Duft doch bloß früher gewittert
…
»Du fragtest vorhin, wer mich geschickt hat. Und du
sagtest, ich wäre wie der Teufel und der illegale Jäger und wie
deine Mutter.« Ann straffte sich und bohrte den Blick in seinen.
»Wie ist das im Klartext zu verstehen?«
»Ich war eben wütend«, entschuldigte er sich
halbherzig. Etwas Besseres fiel ihm dazu nicht ein.
»Du liebst deine Mutter, oder etwa nicht?« Auf Anns
Gesicht malten sich Hoffnung und Verzweiflung, wie bei einem
ungeliebten Kind, das tief enttäuscht worden ist.
Wer war diese Frau, die die Ikone entdeckt hatte?
Er wusste
nichts über ihr früheres Leben. Es war ihm vorher nie wichtig
gewesen. Sie war ihm vorher nie wichtig gewesen.
»Natürlich liebe ich meine Mutter. Sie kann nichts
für das, was geschehen ist. Ich weiß nicht, wer uns das eingebrockt
hat«, sagte er mehr zu sich selbst.
»Ärgerst du dich über die Verhandlungen mit den
Ukrainern? Du kannst die Verträge nachträglich noch annullieren,
wenn dir die Sache nicht geheuer ist. Da sehe ich kein Problem.
Dann müssen wir die Expansion von Wilder Wines eben noch eine Weile
auf Eis legen. Wir finden bestimmt einen anderen Partner, der
unsere Weine im Ausland vertreibt.«
»Ich weiß.« Ihre Äußerungen zeigten ihm, dass Ann
von dem fremden Unternehmen nicht mehr und nicht weniger wusste als
er.
Er musterte sie eindringlich. Naiv? Ja. Unwissend?
Ja.
Das besagte gar nichts. Trotz alledem konnte sie
eine Verräterin sein.
Sie schauderte unter seinem Blick.
»Dir ist kalt. Geh nach oben ins Bett.«
»Kommst du auch? Ich meine, ins Bett? Vorhin hast
du das gesagt. Aber … kommst du auch bald?« In ihrer Stimme schwang
Skepsis.
Was für eine faszinierende Frau. Sie hatte sein
tiefstes, dunkelstes Geheimnis entdeckt. In einem Anfall von Wut
und Verzweiflung hatte er sie wie ein Beutetier gejagt, sie
gestellt und hemmungslos bestiegen. Er hatte keinen Funken
Rücksicht auf ihre Befindlichkeiten und auf ihre Befriedigung
genommen. Und obwohl er über sie hergefallen war, mit heißem,
hungrigem Sex, grauste ihr geradezu davor, von ihm zurückgewiesen
zu werden.
»Ich komm nach, sobald ich das Fenster repariert
hab.« Er gestikulierte in Richtung Eingang.
»Ach ja. Das hätte ich fast vergessen.« Sie wandte
sich zur Treppe um.
Keine Frage, er fühlte sich für seine junge,
lebensunerfahrene Assistentin verantwortlich, als Unternehmer und
als Mensch. Und er war bestimmt kein Typ, der die Bedeutung der
traditionellen Symbole unterschätzte.
»Jeder meiner vier Söhne muss eine von den
Varinski-Familienikonen finden.«
Ann hatte die Ikone gefunden. Ann war noch Jungfrau
gewesen. Sie hatte ihm ihre Unschuld geschenkt. Sie war die
Schlüsselfigur, die das Überleben seiner Familie garantierte,
folglich lag ihm Anns Sicherheit ganz besonders am Herzen.
Er würde sie beschützen. Für seine Familie. Und für
sich selbst.
»Ann.«
Sie sah ihn groß an, ihre Augen irisierend
blau.
»Nichts und niemand könnte mich heute Nacht von dir
trennen.«