9
Jasha stand bewegungslos in der großen Halle und nahm konzentriert Witterung auf. Er roch das vorüberziehende Gewitter, harzigen Tannenduft und feuchten Waldboden. Diese Gerüche strömten durch das zerbrochene Fenster und erfüllten das gesamte Haus.
Er schnupperte die strengen Ausdünstungen des Wolfsrudels, die er vorhin mit hereingebracht hatte. Anns femininer Duft hing überall im Haus; er entströmte wie ein duftiger Hauch den Unterlagen, die sie aus dem Büro mitgebracht hatte, der Aktentasche, die sie für ihn gepackt hatte, und dem Laptop, den sie benutzte. Jedoch schien dieser Duft jetzt von ihrem Entsetzen überlagert, mit dem sie seine Verwandlungen beobachtet hatte; es war jene Witterung, die er gleich nach ihrer Ankunft aufgenommen hatte. Damit war er auf sie aufmerksam geworden.
Sonst war niemand da gewesen. Zumindest kein Mensch.
Er lauschte angespannt. Im Wirtschaftsraum drehte Ann eben die Dusche ab. Er hörte das Summen des Wasserboilers im Keller. Draußen raschelte es in den Büschen, weil die Wolfsmeute das Haus umkreiste.
Sonst war es still.
Sein Blick glitt forschend in jeden Winkel. Der Wind, der durch das zerbrochene Fenster pfiff, hatte die Zeitschriften auf dem Kaffeetisch aufgeblättert. Er gewahrte die Pfotenabdrücke, die er auf dem Parkett hinterlassen, die Stilettos, die Ann nach ihm geworfen hatte, und betrachtete nachdenklich das eingetrocknete Blut auf seiner Brust.
Die Frau hatte ein gutes Auge und war ziemlich treffsicher.
Er berührte das brennende Mal auf seiner Wange.
Verdammt treffsicher.
Außer Ann war heute niemand in sein Haus eingedrungen.
Aber sie würden kommen.
Seine Mutter hatte eine Vision gehabt. So viel stand fest. Und sie war in einen Trancezustand gefallen. Möglich, dass sie ihre eigenen Vorahnungen ausgesprochen hatte. Irgendwelche düsteren Prophezeiungen. Keine Ahnung, verflucht nochmal. Er hatte sie nie zuvor so erlebt. Hatte nicht mal geahnt, dass sie diese Gabe besaß. War seine Mutter tatsächlich eine Hellseherin?
Die Blinden können sehen, und die Söhne von Oleg Varinski haben uns gefunden.
Die Akten der Familie Wilder waren sicher aufgehoben. Sein Haus war mit einer Alarmanlage gesichert. Es hatte sich nichts verändert.
Doch - alles hatte sich verändert. Alles.
»Du darfst dir nie sicher sein, denn sie sind überall. Um den Pakt nicht zu gefährden, wollen sie dich vernichten.«
Der Pakt. Er wusste um den Pakt. Es war zwangsläufig geschehen: an dem Tag, als seine erste Verwandlung stattgefunden hatte. Da hatte sein Vater sich zu ihm gesetzt und ihm alles erklärt. Aber ein Dreizehnjähriger, der gerade festgestellt hatte, dass er sich in ein Raubtier verwandeln konnte, und dabei ein megacooles Tattoo an seinem Körper entdeckte, dem auf beiden Wangen dünne Tast- statt Barthaare wuchsen, hatte weiß Gott andere Probleme. Ehrlich gesagt hatte ihn dieser unsägliche Pakt damals nicht die Bohne interessiert.
Vor tausend Jahren? Die Familie Varinski? Der meistgefürchtete Name im gesamten russischen Zarenreich? Ein Pakt mit dem Teufel?
Ja, Papa. Klar, Papa. Cool. Jetzt kann ich die ganze Nacht ausbleiben, denn wenn ich mich in ein wildes Tier verwandeln kann, brauche ich nicht mehr in die Schule zu gehen.
Er und Konstantine hatten daraufhin eine hitzige, wortreiche Auseinandersetzung geführt.
Jasha war am nächsten Morgen zur Schule gegangen. Solange er mit seinem Vater unter einem Dach wohnte, hatte er keinen Schultag versäumt, und als er ein einziges Mal nachts weggeblieben war, hatte Konstantine ihm gehörig die Leviten gelesen.
Sein Vater stammte nämlich aus dem früheren Zarenreich, aus Russland, und seine Söhne gehorchten ihm, fürchteten - und liebten ihn.
Und du, mein Geliebter. Du hast dein Leben verwirkt.
Unfassbar. Mit diesen Worten hatte seine Mutter das Todesurteil über seinen Vater verkündet.
Jasha lief zum Telefon, weil das rote Licht des Anrufbeantworters aufleuchtete. Und lauschte abermals Firebirds Stimme: »Papa wird nicht mehr künstlich beatmet. Es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Die Ärzte haben immer noch keine genaue Diagnose gestellt, außer dass es was mit dem Herzen zu tun hat. Aber was, da stehen sie vor einem Rätsel.« Firebird senkte die Stimme. »Ich hab mitbekommen, wie die Schwestern sich zuflüsterten, dass sie es bei Papa mit einem parapsychischen Phänomen zu tun hätten und wir bei einem Geisterheiler besser aufgehoben wären.«
»Typisch«, grummelte Jasha und löschte die Aufzeichnung.
Zorana liebte Konstantine. Jasha wusste das so sicher, wie der Mond um die Erde kreist. Aber vor drei Tagen, am vierten Juli, hatte sein Weltbild einen Knacks bekommen. Da hatte seine Mutter Dinge gesagt, schauerliche Dinge. Er würde niemals vergessen, wie seine Mom mit dem Finger auf seinen Dad gezeigt und ihm den Tod und ewige Verdammnis prophezeit hatte.
Ihre Prophezeiung war nicht einfach aus der Luft gegriffen - wie sich augenblicklich gezeigt hatte.
Sein Vater hatte Zorana angestarrt. Währenddessen füllten sich seine Augen mit Tränen. Dann war er zusammengebrochen. Und sie war mit einem Satz bei ihm gewesen.
Hatte sie allen Ernstes geglaubt, sie könnte diesem Baum von einem Mann aufhelfen? Seine zarte, winzige Mutter? Gleichwohl hatte sie ihn den ganzen Weg die Treppe hinunter gestützt und zum Krankenwagen begleitet, der ihn mit Blaulicht und Sirene nach Seattle in die Klinik gebracht hatte.
Jasha schlenderte zu den deckenhohen Fenstern und blickte hinaus - über die wild zerklüftete Küstenlinie auf den sturmgepeitschten, gischtsprühenden Atlantik.
Sobald die Ärzte Konstantines Zustand für stabil erklärten, hatte Jasha seine Pflichten als stellvertretendes Oberhaupt der Familie wahrgenommen. Er hatte Zorana, Firebird und Rurik am Krankenbett seines Vaters zurückgelassen und war hierhergefahren, um sich zu vergewissern, dass die geheimen Dokumente der Familie - ihre Wertpapiere, ihre Einwanderungsdokumente, ihre privaten Aufzeichnungen - unangetastet unten im Safe lagen.
Alles war noch da, gut versteckt in seiner bizarr anmutenden Villa am Meer und von der besten Alarmanlage geschützt, die man für Geld kaufen konnte.
Die Alarmanlage, die Ann ausgeschaltet und nicht wieder eingeschaltet hatte.
Hatte sie das absichtlich gemacht? Hatten die Varinskis sie dafür bezahlt, dass sie herkam und ihn in die Falle lockte? Oder Ann mit Drohungen weichgeklopft, weil sie nicht freiwillig mitspielte?
»Hi.« Sie stand in dem gewölbten Türbogen. In seinen flauschigen weißen Frotteebademantel gekuschelt, in dem sie fast versank. Er registrierte die tiefroten Kratzer auf ihren wohlgeformten Waden. Sie hatte ihre noch feuchten Haare streng nach hinten gebürstet, und ihr Gesicht sah blass und mitgenommen aus. Ihre blauen Augen waren dunkel umwölkt. Allerdings lächelte sie zaghaft, ein entrücktes Lächeln, genau wie im Büro, wenn sie sich von ihm unbeobachtet glaubte. »Ist alles in Ordnung?«
»So weit ja.«
»Kann ich mich irgendwie nützlich machen?«
Sie würde niemals falschspielen und ihn ans Messer liefern. Jedenfalls nicht bewusst. Ann Smith war grundehrlich. Dafür würde er seine Hand ins Feuer legen.
Außerdem bewunderte sie ihn. Das war ihm gleich beim Einstellungsgespräch aufgefallen. Anns Schwärmerei für ihn hatte ihre Arbeitsleistung nie negativ beeinflusst, ganz im Gegenteil, das bisweilen elektrisierende Knistern zwischen ihnen wirkte sich höchst positiv aus.
Sie humpelte zur Treppe und stolperte über die Teppichkante. Mit einem gepressten Stöhnen spähte sie zu ihm, unsicher, ob er sie beobachtete. Dann atmete sie tief durch. »Bist du sauer, dass ich hergekommen bin? Ich meine, du hast mich schließlich nicht erwartet, sonst …«
»Hätte ich mich nicht in einen Wolf verwandelt, meinst du das?«
»Ja. Genau das.«
Er hätte hinauslaufen und sich Leaders Rudel anschließen sollen, aber der Schock war ihm in sämtliche Glieder gefahren. Er hatte nur noch gedacht: Was kann ein einziges Mal schon groß ausmachen?
Jetzt wusste er es.
Hätte er ihren Duft doch bloß früher gewittert …
»Du fragtest vorhin, wer mich geschickt hat. Und du sagtest, ich wäre wie der Teufel und der illegale Jäger und wie deine Mutter.« Ann straffte sich und bohrte den Blick in seinen. »Wie ist das im Klartext zu verstehen?«
»Ich war eben wütend«, entschuldigte er sich halbherzig. Etwas Besseres fiel ihm dazu nicht ein.
»Du liebst deine Mutter, oder etwa nicht?« Auf Anns Gesicht malten sich Hoffnung und Verzweiflung, wie bei einem ungeliebten Kind, das tief enttäuscht worden ist.
Wer war diese Frau, die die Ikone entdeckt hatte? Er wusste nichts über ihr früheres Leben. Es war ihm vorher nie wichtig gewesen. Sie war ihm vorher nie wichtig gewesen.
»Natürlich liebe ich meine Mutter. Sie kann nichts für das, was geschehen ist. Ich weiß nicht, wer uns das eingebrockt hat«, sagte er mehr zu sich selbst.
»Ärgerst du dich über die Verhandlungen mit den Ukrainern? Du kannst die Verträge nachträglich noch annullieren, wenn dir die Sache nicht geheuer ist. Da sehe ich kein Problem. Dann müssen wir die Expansion von Wilder Wines eben noch eine Weile auf Eis legen. Wir finden bestimmt einen anderen Partner, der unsere Weine im Ausland vertreibt.«
»Ich weiß.« Ihre Äußerungen zeigten ihm, dass Ann von dem fremden Unternehmen nicht mehr und nicht weniger wusste als er.
Er musterte sie eindringlich. Naiv? Ja. Unwissend? Ja.
Das besagte gar nichts. Trotz alledem konnte sie eine Verräterin sein.
Sie schauderte unter seinem Blick.
»Dir ist kalt. Geh nach oben ins Bett.«
»Kommst du auch? Ich meine, ins Bett? Vorhin hast du das gesagt. Aber … kommst du auch bald?« In ihrer Stimme schwang Skepsis.
Was für eine faszinierende Frau. Sie hatte sein tiefstes, dunkelstes Geheimnis entdeckt. In einem Anfall von Wut und Verzweiflung hatte er sie wie ein Beutetier gejagt, sie gestellt und hemmungslos bestiegen. Er hatte keinen Funken Rücksicht auf ihre Befindlichkeiten und auf ihre Befriedigung genommen. Und obwohl er über sie hergefallen war, mit heißem, hungrigem Sex, grauste ihr geradezu davor, von ihm zurückgewiesen zu werden.
»Ich komm nach, sobald ich das Fenster repariert hab.« Er gestikulierte in Richtung Eingang.
»Ach ja. Das hätte ich fast vergessen.« Sie wandte sich zur Treppe um.
Keine Frage, er fühlte sich für seine junge, lebensunerfahrene Assistentin verantwortlich, als Unternehmer und als Mensch. Und er war bestimmt kein Typ, der die Bedeutung der traditionellen Symbole unterschätzte.
»Jeder meiner vier Söhne muss eine von den Varinski-Familienikonen finden.«
Ann hatte die Ikone gefunden. Ann war noch Jungfrau gewesen. Sie hatte ihm ihre Unschuld geschenkt. Sie war die Schlüsselfigur, die das Überleben seiner Familie garantierte, folglich lag ihm Anns Sicherheit ganz besonders am Herzen.
Er würde sie beschützen. Für seine Familie. Und für sich selbst.
»Ann.«
Sie sah ihn groß an, ihre Augen irisierend blau.
»Nichts und niemand könnte mich heute Nacht von dir trennen.«
Nachtschwarze Küsse - Scent of Darkness
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