Schade, dass der Krimi zu Ende ist?
Dann lesen Sie am besten gleich weiter: Ein Auszug aus Tod durch Erinnern von Corinna Waffender.
Sie hatte nur noch wenige Meter Vorsprung und ihre Beine wurden immer schwerer. Mit jedem Schritt, der sie vorantreiben sollte, kam sein keuchender Atem näher. Es hatte keinen Sinn zu schreien, niemand würde sie in diesem abgelegenen Waldstück an der Grenze zu Frankreich hören. Es war ein Fehler gewesen, mit ihm hierher zu kommen. Sie hatte es gewusst und dennoch getan. Weshalb nur? Unter ihren Füßen knackten die Zweige, die tiefer hängenden Äste schlugen ihr ins Gesicht und sie lief um ihr Leben, dessen Ende wenige Meter weiter auf sie wartete.
Kai senkte das Buch und blickte auf den kleinen See. In den letzten Wochen war sie öfter zum Lesen in den Park gekommen. Der Sommer hielt in der kleinen Hinterhauswohnung keinen Einzug. Doch es war nicht nur die deprimierende Stimmung in den schattigen Räumen mit den blutrot gestrichenen Holzböden. Sie hatte schon in schlimmeren Unterkünften gehaust, in engeren Küchen gesessen, in schlechteren Betten geschlafen. Das Bedürfnis, unter freiem Himmel zu sein, hatte mehr mit dem Gefühl zu tun, sich in ihren vier Wänden seltsam ungeschützt zu fühlen. Als ob sie hinter ihrer Wohnungstür auf ungebetene Gäste vorbereitet sein müsste. Das war der Grund gewesen, den Park als Treffpunkt vorzuschlagen. Ein Picknick, wie in alten Zeiten, sie würde Kaffee mitbringen. Später war es ihr unangemessen, fast zynisch vorgekommen, die Angelegenheit so betont locker zu verhandeln. Verhandeln? War es darum überhaupt gegangen? Das Gespräch hatte Kai viel mehr aufgewühlt, als sie erwartet hatte. Sie waren nicht laut geworden, sie hatten sich unterhalten wie zwei vernünftige, erwachsene Menschen, sogar das eine oder andere freundliche Wort war gefallen. Und doch, die Begegnung hatte Spuren hinterlassen. Natürlich. Auch wenn sie sich mit einem festen Händedruck verabschiedet hatten, war die Distanz geblieben. Sie begleiteten einander nirgendwohin, beide gingen am Ende wieder ihrer Wege, so allein, wie sie gekommen waren.
Kai war tiefer in den Park hineingelaufen, hatte ihn ziellos durchquert und sich schließlich auf die Bank gesetzt und versucht zu lesen. Sie wollte nicht nachdenken. Noch nicht. Doch immer wieder schweiften ihre Gedanken von dem Krimi ab: Sie hatten auf der Wiese gesessen, und wer auch immer sie von Weitem gesehen hatte, wäre nicht im Traum darauf gekommen, worüber sie redeten. Reden mussten. Kai hatte zuerst nicht gewollt, aber dann hatte sie ihre Chance gewittert. Die Versuchung war zu groß gewesen. Unwillkürlich griff sie jetzt in ihre Tasche und tastete nach dem Umschlag. Startkapital für ein neues Leben. Längst fällige Schulden. Sie nahm die Scheine heraus, betrachtete sie und steckte das kleine Vermögen in die Fächer ihres Portemonnaies, das sich kaum mehr schließen ließ.
Je länger sie das Buch aufgeschlagen in den Händen hielt, umso deutlicher fühlte sie ihre Erschöpfung. Als wäre der Krimi im Taschenformat aus Blei. So wie ihre Augenlider. Zweimal war sie trotz der inneren Unruhe vor Müdigkeit eingenickt und davon aufgewacht, dass sie sich nicht aufrecht halten konnte. Sie kannte das. Ihr Körper war ein Seismograf für das innere Gleichgewicht: Das schon tagelang in ihr schwelende Unbehagen vor der Verabredung, das eigenartige Wiedersehen und die aufgeräumte Unruhe danach, all das löste gerade ein Beben mittlerer Stärke in ihr aus, ließ ihre Kräfte schwinden. Sie legte das Buch neben sich auf die grün gestrichenen Holzlatten und strich sich mit den Händen über Arme und Beine, die schon zu schlafen schienen. Die eigenartige Taubheit in den Fingerspitzen und Zehen mahnte sie, wegen ihrer Kreislaufprobleme doch besser zum Arzt zu gehen, statt sich mit Notfalltropfen zu behelfen. Rescue remedy. Ihre Finger glitten zwischen die verstreuten Gegenstände in ihrem Rucksack, aber sie konnte das kleine Fläschchen zwischen Lippenstift und Schlüssel nicht ertasten. Mehr noch: Sie konnte nichts von dem, was sie zwischen ihren Fingern vermutete, greifen, denn ihre Hände versagten ihr den Dienst. Im selben Augenblick, in dem sie spürte, dass ihr auch die Kontrolle über ihre Arme entglitt, begann sich alles leicht zu drehen. Doch es war kein Schwindel, der sie erfasste, es war eher so, dass ihre Augen nicht mehr gehorchten. Sie wollte sich aufrichten, ihre Beine zitterten, aber sie rührten sich nicht vom Fleck. Sie saß unbeweglich, staunend und mit offenem Mund: Ihre Schultern sanken nach vorn, der Rucksack fiel mitsamt Inhalt vor ihre Füße und das Fläschchen kullerte ins Gras. Sie erschrak. Was geschah mit ihr? Waren ihre Gliedmaßen gelähmt? Ein Kreislaufkollaps? Ein Hirnschlag? Oder hatte sie nur etwas Falsches gegessen und ihr Immunsystem rebellierte? Ihre Zunge lag schwer im Mund und schien anzuschwellen. Keine Chance, sich über die trockenen Lippen zu lecken, sie konnte nicht mehr schlucken. Sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen und sah den Kuchen vor sich. Ihr wurde übel.
„Möchtest du noch ein Stück?“
Marmorierte Stücke, fein säuberlich aus Zellophan gewickelt und vor ihr ausgebreitet.
„Greif zu. Ich krieg nichts runter. Die Aufregung, weißt du.“
Sie hatte aus Höflichkeit ein Stück gegessen. Und weil sie nichts im Magen gehabt hatte. Es war so süß gewesen, dass sie es kaum geschafft hatte.
Eine schreckliche Ahnung ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Wie hatte sie nur so naiv sein können?
Sie wollte die Hand nach ihrem Handy ausstrecken, ohne zu wissen, wo es lag. Ihre Augen ließen sich nicht mehr scharf stellen, sie konnte nicht sehen, dass es unerreichbar für sie neben dem aufgeklappten Geldbeutel lag, aus dem die Tausender lugten. Sie war auf der Bank zusammengesunken, der Ausschnitt der Welt um sie herum wurde immer kleiner, zuletzt gaben ihre Augen nur noch den Blick auf einen Gedenkstein im Gebüsch frei: Alles Land bete dich an und lobsinge dir, lobsinge deinen Namen. Im nächsten Augenblick verschwanden wie auf Knopfdruck sämtliche Gedankenfetzen und Kai stürzte in eine Dunkelheit, die sie wirbelnd in die Tiefe zog. Auf ihrer Brust lag ein ungeheurer Druck, sie spürte, wie ihre Lungen blockierten. Ihr Atem stockte, ihr Inneres wölbte sich ohne Erfolg nach außen. Bevor sie wirklich begreifen konnte, dass bereits geschah, wogegen sie gerade noch gekämpft hatte, kippte sie haltlos zur Seite und verlor das Bewusstsein.
Maike Ebling, die mit achtzehn Jahren den ersten und letzten Buchstaben ihres Namens gestrichen und den Rest kräftig durcheinandergeschüttelt hatte, würde das Ende des Krimis, der ins Gras gefallen war, nicht mehr erfahren. Ihr Herz war stehen geblieben.
Inge Nowak schaute auf den grauen Hinterhof. Ihre eigene Aussicht aus dem Schlafzimmer fünfzehn Gehminuten von hier war nicht viel besser. Sie aber hatte hinter Doppelglasfenstern alles aus ihrer Wohnung herausgeholt. Auch wenn sie wohl noch eine Weile der Bank gehören würde. Inge hatte sich nach und nach den Traum von einem behaglichen Zuhause erfüllt. Es kam nur zu selten jemand, um es mit ihr zu genießen. Ihr Freundeskreis hatte sich nach der Trennung von Bernd auf ein Minimum reduziert, und seit Marit in der kleineren Wohnung nebenan wohnte, waren zwei der vier Zimmer zu viel für einen Ein-Personen-Haushalt. Wann war man eigentlich Single und wann alleinstehend? Manchmal überlegte Inge, ob sie eines der Zimmer untervermieten sollte, doch dazu bestand keine finanzielle Notwendigkeit und ihre Einsamkeit wäre dadurch nur allzu offensichtlich geworden. Einsamkeit? Nein. Im Grunde wollte sie keine ständige Gesellschaft. Wenn sie abends nach Hause kam, war sie froh, ihre Ruhe zu haben. Nur an den Wochenenden hätte sie manchmal gerne jemand anderen zum Essen eingeladen als ihre Tochter und wäre danach lieber nicht alleine schlafen gegangen. Was ihr fehlte, war eine Bettgeschichte.
Schrill schepperte die Türklingel, Inge Nowak fuhr herum und sah, wie ihr Kollege sich mit gezückter Pistole filmreif an die Wand drückte. Sie winkte ab und bedeutete ihm mit einem Blick, er möge in die Küche gehen. Mechanisch schob sie die Hand unter ihre Jacke und vergewisserte sich, dass ihre eigene Waffe da war, wohin sie gehörte. Sie ging leise zur Tür und schaute durch den Spion. Draußen stand eine junge Frau, die überrascht einen halben Schritt zurückwich, als sie erkannte, dass ihr eine Fremde öffnete.
„Hallo“, sagte Nowak. „Sie möchten zu Maike Ebling?“
Die junge Frau sah sie zögernd an. „Ja. Störe ich? Ich war nur gerade in der Gegend und wollte ein Buch abholen.“
„Nein, Sie stören überhaupt nicht. Kommen Sie herein. Ich bin von der Kriminalpolizei, Hauptkommissarin Inge Nowak.“
Noch ehe sie sich ausweisen konnte, geriet die junge Frau sichtlich aus der Fassung.
„Ist etwas passiert? Mit Kai?“
„Kai? Wen meinen Sie damit?“
„Meine Dozentin. Maike Ebling. Wir nennen sie alle Kai.“ Sie sah erschrocken zu dem uniformierten Beamten in der Küche. „Ist etwas mit ihr?“
Eines der Klischees über Kommissare entsprachen voll und ganz der Realität: In Augenblicken wie diesen hasste auch Inge Nowak ihren Job.
„Es tut mir leid“, sagte sie möglichst ruhig und ließ die Besucherin dabei nicht aus den Augen, „aber Frau Ebling ist tot.“