Mittwochnachmittag

Kriminaldirektor Helmut Frickel hatte die Angewohnheit, Termine mit Hauptkommissarin Nowak zu vergessen und danach zu behaupten, sie versuche ihn aus den Ermittlungen auszuschließen. Dementsprechend angespannt war er, als er urplötzlich in ihrem Büro aufgetaucht war, nachdem er am Vortag das Meeting verpasst hatte. Die Frage nach dem Stand im Mordfall der Charlottenburger Pfarrerin klang eher wie ein Vorwurf.

„Es ist eine Zehlendorfer Pfarrerin“, berichtigte die Hauptkommissarin ihren Vorgesetzten, womit das Gespräch nicht ungünstiger hätte beginnen können.

„Mich interessiert nicht, woher sie kommt, ich will wissen, wer sie auf dem Gewissen hat“, stellte er unfreundlich klar und tupfte sich die Stirn mit einem gebügelten Taschentuch.

„Der Mann, der Ex, der Sohn“,, antwortete Inge Nowak, „sie alle haben möglicherweise ein Motiv.“ Die Leiterin der Mordkommission legte die Stirn in Falten. „Ob vielleicht auch der ein oder andere Arbeitslose, die Gemeindehelferin, ein Pfarrer aus Charlottenburg oder ein Bewohner des naheliegenden Altersheims in Frage kommen, prüfen wir noch.“

Frickel kochte, nicht nur wegen der Hitze, und beschränkte sich, wie die Leiterin der Mordkommission gehofft hatte, darauf, einen Befehl zu geben und jedem weiteren Konflikt auszuweichen.

„Morgen früh habe ich einen ausführlichen Bericht auf meinem Schreibtisch.“ Er wandte sich der Tür zu und drehte sich noch einmal um. „Um neun.“ Dann rauschte er davon.

„Dass du immer so diplomatisch sein musst“, seufzte Berger, und Erkner fügte hinzu: „Schon klar, wer in den sauren Apfel beißen muss.“

Ihre Chefin winkte ab. „Vergesst ihn. Den Bericht schreibe ich.“

Erkner kniff die Augenbrauen zusammen. „Du?“

„Ja, wieso nicht ich? Ich bin doch sowieso schon lange mal wieder dran.“

Inge Nowak sah aus dem Fenster und wusste nur zu gut, weshalb ihr die Arbeit gerade gelegen kam.

„Wo waren wir stehen geblieben?“, nahm Berger den Faden des vorangegangenen Gesprächs wieder auf.

Hoch auf dem gelben Wagen“, antwortete Erkner. „Es scheint, als hätte die Pfarrerin großen Erfolg bei den Alten gehabt. Jedenfalls haben sie ganz begeistert von ihr erzählt.“

„Und was ist mit Valeros Auftritt?“, fragte Berger.

„Eine der Seniorinnen will gehört haben, dass sich die Mangold und der Valero über ein Baby gestritten haben.“

„Frau Mangold und Herr Valero“, korrigierte ihn seine Chefin, die es nicht mochte, wenn man über Tote und Verdächtige herablassend redete.

„Sorry“, entschuldigte sich Erkner. „Jedenfalls ist die alte Dame über achtzig, hat Alzheimer und konnte sich heute nicht einmal mehr an ihren Namen erinnern, geschweige denn an eine Singstunde.“ Erkner grinste. „Sie dachte, ich wäre ihr Mann. Der ist aber 1943 in Stalingrad gefallen.“ Dann wurde er wieder ernst. „Allerdings hat Annegret Hagen in der Tat Spanischkenntnisse, sie war Fremdsprachensekretärin. Insofern könnte sie uns schon behilflich sein, wenn sie eins ihrer Erinnerungsfenster aufmacht. Das tut sie etwa zweimal am Tag für eine halbe Stunde, und dann kann sie sich so einiges aus jüngster Vergangenheit ins Gedächtnis rufen. Vor allem Männer, die ihr gefallen haben. Und nach Aussage ihrer Freundinnen hat Valero Eindruck bei ihr hinterlassen.“

„Und nun setzt du dich das ganze Wochenende neben die Annegret und wartest, bis das Fenster aufgeht?“

„Nein. Die Heimleiterin hat mir versprochen, dass sie mich sofort auf dem Handy anruft, sollte das der Fall sein, und sie bei Laune hält, bis ich komme.“ Erkner schaute seine Chefin verunsichert an. Wertete sie das etwa bereits als einen seiner Alleingänge?

„Einsatz ist alles“, kommentierte Berger trocken und wechselte das Thema. „Also: Wer war’s?“

„Hast du einen Favoriten?“

„Mir gefällt der Chilene nicht. Erika Mangold hat ihm vor vielen Jahren eine Kränkung zugefügt und sein Lebensmodell zerstört. Wer weiß, was das für Konsequenzen für ihn hatte. Wir sollten uns seine Vergangenheit genauer anschauen. Und“, fügte Berger hinzu, „er lügt.“

„Sehe ich genauso. Übernimmst du das?“

Wolfram Berger nickte.

„Auch ein Tipp?“, fragte sie Erkner.

„Ganz klar: der Ehemann. Er hat nichts mehr zu verlieren und gönnt seiner Frau das Leben nicht. Vielleicht hatte sie ja wieder etwas mit Valero, sorry: Herrn Valero, angefangen, er hat es mitbekommen, sich in seinem Todeskampf verlassen gefühlt und überreagiert.“

„Überreagiert“, wiederholte Inge Nowak. „Auch ein interessantes Synonym für töten.“ Dann nickte sie. „Der Argumentation kann ich aber folgen. Vielleicht solltest du noch einmal mit Ingo Mangold sprechen, so einfühlsam, wie du bist?“

„Okay. Gleich morgen, wenn ich sowieso standby für das Altersheim bin?“

„Alleine auf keinen Fall. Nimm Verónica mit, sie kommt morgen.“ Die Hauptkommissarin hob die Augenbrauen und sagte mehr zu sich selbst: „Zumindest ins Büro.“

„Prima“, antwortete Erkner und dann, mit einem Seitenblick zu seiner Chefin: „Und wen hältst du für Mr. X?“

„Ich frage mich, wieso der Sohn mit seiner Mutter seit Wochen nicht mehr geredet hat. Wenn Erika Mangold sich darüber Sorgen gemacht hat, wie die Gemeindehelferin sagt, dann, weil etwas wirklich Dramatisches vorgefallen sein muss. Das sollten wir herausfinden.“

„Na, dann haben wir ja genug zu tun“, schloss Berger und verkündete: „Ich hol jetzt erst mal Eis.“

Kannst du mich sehen?

Mehr als diese Frage brachte sie nicht zu Papier. Das viele Weinen hatte sie erschöpft, eine bleierne Schwere lag auf ihr, dumpf starrte sie aus dem Fenster. Um diese Zeit hätte ihre Mutter gegossen. Wäre zuvor mit dem kleinen, roten Plastikeimer in der einen und der Gartenschere in der anderen Hand durch die Beete gegangen und hätte die verwelkten Blüten abgeschnitten.

„Auf jedes Sterben kommt neues Leben.“ Das hatte sie gesagt, als der Kälteeinbruch im Frühjahr fast alle Knospen hatte abfallen lassen und sie im April die Sträucher radikal auf ein Minimum kürzte. Kahle Zweige, nackt, kein schöner Anblick.

„Da kommt doch nie mehr was“, hatte ihr Vater von seinem Terrassenstuhl aus matt gesagt und ihre Mutter hatte lächelnd geantwortet: „Abwarten.“

Nun stand alles in voller Blüte und sie war tot.

Tot.

Sara saß an ihrem Schreibtisch und malte die drei Buchstaben unter die Frage, auf die sie seit zwei Tagen keine Antwort bekam. Je länger sie wartete, umso wütender wurde sie. Wenn ihre Mutter bei Gott war, warum gab sie ihr kein Zeichen, und wenn sie noch nicht bei Gott war, warum gab er ihr kein Zeichen? Und warum hatte keiner von beiden ihr vorher ein Zeichen gegeben? Immer hatte sie die Nähe zu einem der beiden verspürt, ein ganzes Leben lang, Tag und Nacht, nun war der Kontakt abgebrochen. Sie fühlte ihre Füße auf dem Teppichboden, die Unterarme auf der Schreibtischplatte, alles seltsam kühl, trotz der flirrenden Hitze, die sich durch alle Ritzen zwängte. Im Haus war es still, jeder Winkel schien eingeschlossen von dem Schweigen, das über sie hereingebrochen war, ihren schmächtigen Körper ausfüllte, sich immer mehr ausweitete in ihrem Inneren, bis selbst ihre Gedanken leiser wurden.

Allein.

Wie ein ungebetener Gast schob sich das Wort von ihrem Kopf in ihr Herz, wo es erschöpft liegen blieb. Wenn ihre Mutter sie verlassen hatte, dann hatte Gott sie verlassen. Der, auf den sie immer vertrauen sollte, der immer an ihrer Seite wäre, der auf sie aufpassen würde, er meldete sich einfach nicht mehr. Seit zwei Tagen und Nächten betete Sara Mangold, und Gott antwortete nicht. Sie hatten Wort gebrochen, beide. Sich aus dem Staub gemacht und ließen sie zurück mit einem verrückten Bruder und einem sterbenden Vater. Als ob sie nicht wüsste, was los war!

Es war die erste Lüge, die sie ihr hatten auftischen wollen:

„Vati wird wieder gesund, mein Schatz.“

Wahrscheinlich hatte ihre Mutter längst gewusst, dass auch sie sterben musste. Wenn sie wirklich mit Gott reden konnte – wieso hatte sie ihr nichts davon gesagt? Vielleicht war sie deshalb in letzter Zeit so oft in der Kirche gewesen, um mit ihm zu diskutieren. Den Zeitpunkt zu verschieben.

„Gott holt die Menschen zu sich, wenn es an der Zeit ist. Er hat seine Gründe.“

Und wann holt er mich? Oder holt er mich gar nicht? Will er mich gar nicht?

Der Magen des Mädchen zog sich zusammen. Sara hatte nichts von dem angerührt, was der Vater ihr zum Essen vor die Tür gestellt hatte, seit sie sich eingeschlossen hatte. Auch auf sein Bitten und Flehen hatte sie nicht reagiert. Aufschließen solle sie und herauskommen, miteinander reden müssten sie und er brauche sie doch jetzt. Ihre Mutter würde wollen, dass sie jetzt füreinander das wären. Sara hatte gehört, dass ihn das Reden Mühe kostete. Durch das Schlüsselloch geschaut und gesehen, wie er auf der Treppe zusammengesackt war, bevor er wieder nach unten verschwand.

Konnte sich jemand Gottes Willen widersetzen?

„Wir sind für alles verantwortlich, was wir tun. Gott lehrt uns, was falsch und richtig ist.“

Wenn aber Gott den Zeitpunkt bestimmt, wann er einen Menschen zu sich holt, dann braucht er auch einen, der die Arbeit für ihn übernimmt. Eine Krankheit. Einen Unfall. Oder einen Mörder. Was, wenn sich ein Mörder weigert?

Du sollst nicht töten.

Kommt dann ein anderer ins Spiel? Oder bestimmt Gott am Ende doch alles? Und die Menschen haben keine Chance, sich seinem Willen zu widersetzen? Versteckt er sich deshalb?

Umbringen, schreibt Sara unter das Wort tot.

Sie hat es ganz genau gehört. Obwohl ihr Vater ganz leise gesprochen hat, ungewöhnlich leise, mit einer Stimme, die ihr einen Schauer den Rücken hinuntergejagt hatte.

„Wenn du es ihm sagst, solange ich noch lebe, bring ich dich um!“

Töten Ist Ein Kinderspiel
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