Acht
Es gefiel ihm nicht, aber Hannes willigte ein, die Pistole in der Schublade meines Küchenschranks zu deponieren. Aber ich musste versprechen, sie ihm auszuhändigen, wenn er danach verlangen würde.
„Hier ist sie besser aufgehoben als in deiner Tasche“, sagte ich und war mir nicht sicher, ob das stimmte.
Allein die Gewissheit, eine Waffe im Haus zu haben, machte mich nervös. Zu deutlich hatte sich der Klang des Krieges in meinem Gedächtnis festgesetzt, der bloße Gedanke an dunkles Metall ließ mich erschauern. So durchdringend, so schnell, so unberechenbar war eine Kugel, so tief fraß sie sich in Fleisch und Blut, zerschnitt mit Leichtigkeit den Faden, an dem ein Leben hing. Doch das Schlimmste war das Geräusch. Das eiserne Peitschen, als ob sich zwei in Stahl getriebene Nägel am Horizont verfolgten. Der pfeifende Ton, der sich im Windkanal verfing, Wolken durchbrach und zerschellte an Mauern, eindrang in Holz oder zu langsame Körper. Es sind nicht die Schüsse, die fallen, es sind ihre Ziele. Wer Glück hatte, starb gleich. Wer Pech hatte, wurde nur leicht getroffen. Und vom Teufel geholt. Wie die Polinnen im Lager, die nicht getroffen, sondern ausgesucht worden waren.
„Wofür?“, fragte Hannes
„Sie waren ihre Versuchskaninchen. Das Militär hatte ein Problem mit der Wundinfektion der Soldaten an der Front. Man suchte nach einem Mittel, Verwundete zu retten. Also haben sie es an den Frauen ausprobiert.“
„Sie haben mit ihren Wunden experimentiert?“
Ich nickte nur. Ich erzählte nicht, dass sie ihnen, wenn sie keine hatten, welche zufügten. Dass ihnen die Waden aufgeschnitten und mit Holz- und Glassplittern gespickt wurden, nur, um sie zu infizieren. Wie die Frauen schrien vor Schmerzen, bettelten um Medikamente, Fieber bekamen und elend zugrunde gingen. Wie ich daneben stand und nichts für sie tun konnte, außer ihnen den Schweiß von der Stirn zu tupfen, ihre Lippen zu befeuchten, das eine oder andere Schmerzmittel in ein Glas Wasser zu mischen und zu hoffen, ihr Immunsystem möge gnädig sein und schnell zusammenbrechen.
Ja, es gab Momente, in denen auch ich an Selbstmord dachte. Mehr als solche, die mich auf Erlösung hoffen ließen. Vielleicht bereitete mir auch deshalb der Gedanke an eine Pistole in Griffbereitschaft Unbehagen.
Ich konnte ja nicht wissen.
Schlimmes hat man nie hinter sich, denn die Angst, es könnte wieder passieren, läuft vor einem her, solange man lebt. Überleben heißt, den Tod im Nacken spüren müssen, um ein wenig Ruhe zu finden. Und doch wird der müde Geist unvorsichtig. Ruht sich mit den Jahren aus und glaubt an etwas so Unvorstellbares wie Frieden. Bis an einem Sonntagnachmittag das Grauen aus heiterem Himmel über ihn hereinbricht und ihn eines Besseren belehrt.
Ich hätte den Vogel ängstlich flattern sehen müssen. Wachsamer sein. Doch Hannes hatte etwas in mir zum Leben wieder erweckt, das mich unvorsichtig machte.
Ein zweites Mal in meinem Leben öffnete ich dem Unglück die Tür. Und wieder waren sie zu dritt.
Ich hatte verlernt zu schreien. Vielleicht hatte ich auch gelernt, dass niemand gerne Schreie hört.
Hannes war nicht schnell genug am Küchenschrank. Er war wehrlos: Ich hatte ihn entwaffnet.
Und keiner von uns konnte schnell genug aus dem Fenster springen.
In Gefangenschaft wird der Körper zum Aufbewahrungsort der Seele. Er schließt sie ein, versenkt sie in der Tiefe eines unberührbaren Inneren. Und wird zur Hülle.
Mich haben viele Hände angefasst, berührt hat mich keiner.
Als seine Peiniger Hannes in meinem Schlafzimmer gefesselt und ausgezogen hatten, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass er seine Seele in Sicherheit gebracht hätte.
Als sie mich auf das Bett stießen und an meinen Kleidern zerrten, war ich mir nicht sicher, ob es richtig war, meine Seele fortzuschicken und ihn den Augen der anderen preiszugeben.
Als seine glatte, weiße Haut auf meinen Panzer traf, versuchte ich ihn zu schützen. Einen Mantel der Unerschütterlichkeit über ihn zu werfen, gewebt aus dem letzten Rest Glauben an Gerechtigkeit und der Gnade zu verdrängen.
In seinen Augen pure Fassungslosigkeit. Die Finger gespreizt, die Muskeln angespannt, seine Mitte hilflos mir ausgeliefert.
Ritschratschklick.
Ritschratschklick.
Ritschratschklick.
Zwischen uns die Blitze und ihr blechernes Lachen. Die Dummheit satter Überlegenheit, das niedere Kleinmachen des Höhergeglaubten.
Ja, Hannes war ein Engel, und sie spürten es.
Wie sie spürten, dass ich sie niemals an den Pranger stellen könnte.
Wer würde mir, einer Verrückten, schon glauben?
Als die Flügel des Vogels brachen, ließen sie von ihm ab.
„Ein Wort zu irgendwem, und die Fotos stehen in der Zeitung. Und ihr seid tot.“
Nicht mehr nötig, dachte ich und blieb solange auf dem schmächtigen Körper liegen, bis ihre Stimmen verklungen waren.
Dann stand ich auf, holte ein Messer und schnitt Hannes die Fesseln durch. Zog mich an, schloss die Tür hinter mir, ging in die Küche und kochte Tee.
Und versteckte seine Pistole an einem anderen Ort.