Dienstagmittag
„Wohin fahren wir?“
„Industriepark Ost, zu Intershop.“
„Intershop? Ich dachte, die Mauer wäre weg?“
„Nicht das, was du denkst. Lass nur Erkner nicht wissen, dass du keine Ahnung hast, was Intershop ist.“
Die Kommissarin stöhnte. „Dann hat es mit Internet zu tun.“
„Es ist das größte Onlinekaufhaus Europas. Shoppen per Mausklick. Einkaufen für Faule.“ Berger fuhr auf die Stadtautobahn.
„Für Degenerierte, meinst du.“
„Hast du noch nie was online bestellt?“
„Nein. Wüsste auch gar nicht, wie es geht. Und wenn ich mal keine Zeit mehr haben sollte, shoppen zu gehen, wird es Zeit, dass ich mein Leben verändere.“
„Musst du mir nicht sagen. Aber wir beide gehören zur verschwindenden Minderheit der Internetmuffel. Der Rest der Welt klickt und kauft wie blöd. Ob die Kreditkarten gedeckt sind oder nicht.“
„Daran würde es bei mir schon scheitern.“ Sie grinste.
„Deine Kreditkarte ist nicht gedeckt?“
„Ich hab gar keine.“
Berger schaute sie ehrlich erstaunt von der Seite an. „Du hast keine Kreditkarte?“
„Nein. Nur eine EC-Karte. Die reicht mir völlig.“ Sie schaute zurück: „Und meine Kontoauszüge hole ich mir aus dem Automaten. Ich hab sogar noch ein Sparbuch!“
„So was gibt’s noch?“
„Die Bank legt mir vierteljährlich die Kündigung nahe, aber ich bleibe hart!“
„Du bist ja noch schlimmer als ich!“, lachte er.
Sie schüttelte verständnislos den Kopf. „Was genau machen wir bei Intershop? Oder geht mich das als Leiterin einer Mordkommission nichts an?“
„Eigentlich nein. Aber weil du’s bist: Das letzte Telefonat ihres Lebens hat Erika Mangold mit einem Projektleiter genau dieses Unternehmens geführt. Estebán Valero.“
„Woher wissen wir das?“
„Von ihrem Handy. Er hat sie gegen fünf angerufen, und sie hat das Gespräch angenommen. Danach gab es noch zwei Anrufe: Einen von ihrer Tochter kurz vor und einen von ihrem Mann um kurz nach acht.“
„Aha.“ Die Kommissarin schloss die Augen und genoss den Fahrtwind im Gesicht.
„Wann kommt eigentlich Verónica?“
„Donnerstag.“
„Freust du dich auf das Ende deines Singledaseins?“ In seiner Stimme lag ein leichter ironischer Unterton.
„Ich will ja nicht gleich heiraten“, entgegnete sie schärfer als beabsichtigt.
„Das geht oft schneller, als man denkt.“
Er musste es wissen. Wolfram Berger hatte vor drei Jahren mit Mitte dreißig mehrere Monate Klinikaufenthalt absolvieren müssen, bevor er begriffen hatte, dass ihm seine Beziehung zu eng geworden war. Der privat kontaktscheue, unter Kollegen als eigenbrötlerisch verschriene Kommissar, hatte jahrelang um Jasmin gekämpft und war bei dem Versuch, ein guter Partner zu sein, an sich selbst und seinem Rückgrat gescheitert.
„Ich habe mich von ihr getrennt. Sie will, was ich ihr nicht geben kann: Familie, Kinder. Aber ich bin und bleibe ein Eigenbrötler“, hatte er seiner Chefin auf Nachfragen erklärt. „Und mein Therapeut hat gesagt, das darf ich ruhig sein.“
Das einzige, was an die schmerzhafteste Zeit in seinem Leben erinnerte, war die Tatsache, dass er nun jeden Morgen vor der Arbeit bei Wind und Wetter eine halbe Stunde Schwimmen ging. Und dass er nie länger als fünfundvierzig Minuten an einer Stelle sitzen blieb. Das hatte unter anderem dazu geführt, dass während der Arbeit öfter eingekauft und Kaffee geholt wurde. Der Kollege Berger hatte sich vom Rückenleidenden zum Laufburschen entwickelt.
„Entschuldige, ich wollte dir nicht zu nahe treten“, sagte er, als seine Kollegin nichts erwiderte. Noch immer fürchtete er, die Grenzen der anderen falsch einzuschätzen, wenn er sich aus seiner Verschlossenheit herauswagte.
„Quatsch, das tust du nicht. Du hast ja Recht.“ Sie fingerte ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche. „Darf ich, wenn ich sie aus dem Fenster halte?“
„Wenn du sie aus dem Fenster hältst, fliegt entweder dir oder mir die Glut ins Gesicht, also überlass die Arbeit gegen die Hitze der Klimaanlage und verpeste den Dienstwagen, ich verpetze dich nicht.“
„Danke.“ Inge Nowak steckte sich sofort eine an und nahm einen tiefen Zug. „Einerseits freue ich mich, andererseits habe ich Angst um mein Territorium. Wochenenden und Urlaube zusammen verbringen ist etwas anderes als mich nach der Arbeit jemandem auszuliefern!“
Berger nickte zustimmend und bog von der Autobahn ab. „Wie lange bleibt sie denn überhaupt?“
„Sechs Monate.“
Berger lachte auf.
„Was ist daran so lustig?“, fragte sie ein wenig ungehalten.
„Bei unserem Lebenswandel wirst du so schnell nicht gucken können, dann ist sie schon wieder weg!“
„Eben!“ Sie ließ nun doch die Scheibe herunter, schnippte die Asche aus dem Fenster und wie Berger befürchtete hatte, kam sie postwendend zurück. „Kaum werde ich mich daran gewöhnt haben, es am Ende noch schön finden, dann bin ich wieder allein auf weiter Flur!“ Sie schluckte. Das war weit mehr, als sie ihrem Kollegen hatte sagen wollen.
Berger verstand sofort und wechselte das Thema. „Wir sind gleich da. Da vorne müsste es sein.“
Berger parkte genau vor dem Eingang des verglasten Vorbaus eines fünfstöckigen Firmengebäudes. Intershop stand in bunten Lettern über dem Eingang und nun fiel Inge Nowak ein, dass sie den Schriftzug doch schon das ein oder andere Mal gesehen hatte.
Als sie sich am Empfang auswiesen und nach Estebán Valero fragten, wurden sie gebeten, einen Augenblick im Foyer Platz zu nehmen. Berger blätterte in einem Hochglanzmagazin des Unternehmens, das auf einem Plastiktischchen lag, seine Kollegin steckte unauffällig einen Schlüsselanhänger mit Werbeaufschrift ein. Verónica würde sich sicher freuen, wenn sie ihr daran den Haustürschlüssel überreichte.
Kurz darauf erschien ein etwa Vierzigjähriger im smarten Business-Outfit mit auffallend schwarzen Haaren.
„Estebán Valero, angenehm. Was kann ich für Sie tun?“ Der Mann sprach nahezu akzentfreies Deutsch.
„Kriminalhauptkommissarin Inge Nowak, und das ist mein Kollege Wolfram Berger. Wir möchten uns gern mit Ihnen über Frau Mangold unterhalten.“
„Über Erika?“ Er zog die Augenbrauen zusammen. „Aber warum, was ist mit ihr?“
„Sie ist gestern Abend erschossen worden.“
„Was?“
Die Kommissarin konzentrierte sich auf seine Pupillen. Im Schock vergrößern sie sich. Normalerweise. Doch Estebán Valeros dunkle Augen schienen ohnehin nur aus Pupillen zu bestehen, die sich zur besseren Sichtbarkeit auf weißem Untergrund bewegten. Was sie nun ziemlich hektisch taten, weil er hastig von ihr zu Berger sah.
„Und Sie“, setzte Berger nach, „waren der Letzte, mit dem sie telefoniert hat.“
„Das glaube ich nicht. Erika? Umgebracht? Aber wieso denn?“
„Wir dachten, Sie könnten uns bei dieser Frage vielleicht weiterhelfen.“ Inge Nowak schielte neidisch auf ein Glas sprudelndes Wasser, mit dem ein Mitarbeiter gerade aus der angrenzenden Cafeteria gekommen war. „Vielleicht an einem etwas ruhigeren Ort?“
Wenige Minuten später saßen sie in einem kleinen Besprechungsraum mit Blick auf die nahegelegene Autobahn, Valero servierte ihnen eine Auswahl an kühlen Erfrischungsgetränken.
„Sie haben also gestern mit Frau Mangold gesprochen?“
„Wir haben telefoniert, ja. Gestern späten Nachmittag.“
„In welchem Verhältnis standen Sie denn?“
„Verhältnis?“ Valero lachte trocken auf. „Unser Verhältnis, wie Sie es nennen, ist lange her! Wir waren vor beinahe zwanzig Jahren ein Paar. Ich war als Student zwei Semester in Freiburg an der Universität. Danach musste ich zurück nach Chile. Ich wollte natürlich wiederkommen, hatte alles schon arrangiert, ein Stipendium beantragt, einen Job gesucht. Aber dann hat sie sich von mir getrennt. Alle meine Briefe sind wieder zurückgekommen, Adressat unbekannt verzogen. Ans Telefon ist sie nicht mehr gegangen, und schließlich habe ich herausgefunden, dass sie nicht mehr in Freiburg wohnte. Dann habe ich es aufgegeben.“
„Und wann haben Sie einander wiedergetroffen?“
„Vor drei Wochen. Ich habe sie zufällig auf der Straße gesehen.“ Er öffnete eine Flasche Mineralwasser und goss sich ein Glas davon ein. „Ich bin erst seit zwei Monaten in Berlin. Eigentlich arbeite ich bei Intershop in den USA. Wir setzen hier ein internationales Projekt auf, das ich leite.“ Er sah aus dem Fenster. „Das Letzte, was ich mir vorgestellt habe, war, Erika hier zu treffen.“
„Haben Sie von ihr so gut Deutsch gelernt?“
„Nein. Ich habe Germanistik studiert.“ Er lächelte. „Also in meinem ersten Leben.“
„Und im zweiten?“
„Informatik.“
Seltene Kombination, dachte Inge Nowak. Ein Intelligenzbolzen, wie es aussah.
Noch bevor sie entscheiden konnte, ob sie einen Schuss ins Blaue wagen sollte, kam ihr Berger zuvor:
„Und dann haben Sie ihr nachspioniert, sind mitten in die Senioren-Singstunde marschiert und haben ihr gesagt, was Sie ihr schon immer mal sagen wollten?“
„Woher…?“ Valero biss sich auf die Lippen und nahm schnell einen Schluck Wasser. „Nein. Das war eine Woche später.“
„Aha“, ermunterte ihn Nowak.
Doch Estebán Valero sprach nicht weiter.
„Würden Sie uns die Geschichte vielleicht zu Ende erzählen?“, wurde die Kommissarin nun deutlicher.
„Nein.“ Er stellte das Glas ab und stand abrupt auf. „Wenn Sie glauben, ich hätte etwas mit dem Tod von Erika zu tun, haben Sie sich getäuscht.“
„Weshalb haben Sie sie gestern angerufen?“
„Ich wollte mich mit ihr zum Essen verabreden, de facto haben wir das auch getan. Heute Abend, in einem Restaurant in der Innenstadt. Warten Sie … “, er holte aus seinem Portemonnaie eine Visitenkarte und reichte sie Berger. „Da habe ich für uns einen Tisch reserviert. Auf meinen Namen.“
„Und was wollten Sie mit ihr besprechen?“
Valero steckte sein Portemonnaie wieder ein und die Hände in die Hosentaschen.
„Nichts Besonderes. Ich wollte mich entschuldigen für den Auftritt im Altersheim.“ Er räusperte sich. „Sie müssen das verstehen. Die ganze alte Geschichte war plötzlich wieder da, und ich wollte einfach eine Antwort auf die Frage, warum sie mich damals verlassen hat.“
„Und?“
Er sah von einer zum andern und dann auf den Boden. Als er den Blick wieder hob, atmete er tief ein und wieder aus: „Sie wollte es mir heute Abend sagen.“
Inge Nowak bedeutete ihrem Kollegen unauffällig, dass es an der Zeit war zu gehen. Als sie schon fast an der Tür waren, dreht sich Berger noch einmal um:
„Wo waren Sie eigentlich gestern Abend zwischen sieben und acht?“
„Hier. Ich habe bis spät in die Nacht noch am Computer gearbeitet. Mein Projekt ist sehr arbeitsintensiv, verstehen Sie?“
An ihrem Gesichtsausdruck konnte Berger ablesen, was er ohnehin schon wusste: Inge Nowak glaubte Estebán Valero kein Wort.
Sein Vater lag auf dem Sofa und schlief. Oder zumindest tat er so. Er schien noch immer unter Schock zu stehen, war abweisend und abwesender als je zuvor. Noch in der Nacht war er zu ihm gekommen und hatte ihn geweckt. War neben seinem Bett stehen geblieben, als wüsste er nicht, wohin mit sich, und hatte tonlos gesagt: „Jemand hat deine Mutter erschossen.“
Ohne seine Reaktion abzuwarten, hatte er sich umgedreht und war nach oben gegangen. Ben hatte gehört, wie er an Saras Tür klopfte und in ihr Zimmer ging. Dort hatte er offenbar die Nacht verbracht, denn er hörte ihn nicht wieder herauskommen. Das Gespräch mit der Polizei hatte seinen Vater erschöpft, und er ließ ihn ruhen.
Sara hatte sich, nachdem sie vor den Kommissaren davongelaufen war, in ihrem Zimmer eingeschlossen.
Sie wird Mutter immer ähnlicher, hatte Ben in den letzten Wochen ein paar Mal gedacht, und es ärgerte ihn. Überhaupt ging ihm seine Schwester mit ihrem Gezicke auf die Nerven. Entweder sie redete belangloses Zeug, oder sie schmollte. Außer Hockey schien sie sich für nichts mehr zu interessieren, am wenigsten für die Menschen, mit denen sie zusammenlebte. Seit einiger Zeit wurde sie wegen nichts und wieder nichts hysterisch und war die meiste Zeit schlecht gelaunt und entsprechend unausstehlich.
„Lass sie, das ist die Pubertät“, hatte seine Mutter Sara in Schutz genommen.
„War ich auch so in dem Alter?“
„Nein. Du warst um einiges umgänglicher.“ Sie hatte ihm lächelnd über den Kopf gestrichen, wie sie es früher oft getan hatte, doch dieses Mal hatte er sich schnell abgewandt und beide spürten, dass eine solche Geste von nun an der Vergangenheit angehören würde.
Ben stand unschlüssig im Flur. Er hatte Mitleid mit Sara, für die eine heile Welt zusammengebrochen war. Gehörte es nun zu seinen Aufgaben als großer Bruder einer Halbwaise, sich um Sara zu kümmern? Zögerlich stand er vor ihrer verschlossenen Zimmertür, hielt ein Ohr daran und lauschte. Nichts zu hören. Er atmete auf. Hätte sie geweint, hätte er geklopft. So aber konnte er davon ausgehen, dass sie schon allein zurechtkam. Was hätte er ihr auch sagen sollen? Dass alles wieder gut würde, wo er doch wusste, dass ihnen das Schlimmste erst noch bevorstand?
Auf leisen Sohlen schlich er sich wieder davon, verschwand schnell im Zimmer seiner Mutter und schloss die Tür hinter sich.
Alles war penibel aufgeräumt, die Bettdecke war akkurat zurechtgezupft, die Kissen lehnten gewollt aufgelockert an der Wand. Auf dem Schreibtisch vor dem Fenster türmten sich bedruckte und beschriebene Blätter, ordentlich aufeinander gestapelt, umrahmt von Büchern und Karteikarten. Als ob sie jeden Moment hereinkommen könnte, um an ihrer Doktorarbeit zu schreiben. Was sie schon Jahre nicht mehr getan hatte. Dennoch hatte sie ihre Aufzeichnungen und Materialien niemals entsorgt oder auch nur weggeräumt. Die Papiere waren ewig nicht mehr bewegt worden, verrückte man sie, zeichneten sich an den Druckstellen vergilbte Ränder ab. Die Zeitungsausschnitte waren allesamt Reliquien einer bedeutungslos gewordenen Recherche. Der ganze Raum war eine Art Heiligtum, es ohne Erlaubnis zu betreten war streng verboten, und außer Staub zu wischen, waren hier schon lange keine Arbeiten mehr verrichtet worden. Es gab Fotos, auf denen er als Baby in einer Wiege neben dem Schreibtisch gelegen hatte, und Ben war sicher, dass damals dieselben Aktenordner im Regal gestanden, dieselben Unterlagen in denselben Schnellheftern auf seine Mutter gewartet hatten.
„Ich promoviere“, war für ihn zum Inbegriff eines Zustands geworden, der seiner Mutter anhaftete wie eine unheilbare Krankheit. Die aufrührerische Klosterschwester im Mexiko des 17. Jahrhunderts, die sich für das Recht der Frauen auf Wissen und Bildung eingesetzte hatte und deren Wirken seine Mutter erforschte, hatte ihre Brille zerstören müssen, um mit dem Schreiben aufzuhören. Seine Mutter hatte es subtiler angestellt – sie schien von ganz alleine vergessen zu haben, was sie einmal gewollt hatte. Oder war sie wirklich nur überfordert gewesen?
„Wie, bitte schön, stellst du dir das denn vor: Haushalt, Kinder, Job und Schreibtisch?“, hatte sie seinen Vater mehr als einmal gefragt.
„Wir könnten eine Putzfrau beschäftigen.“
„Die meine Doktorarbeit schreibt?“
Ben war gerade in die dritte Klasse gekommen, seine Schwester besuchte eine Kita, und seitdem seine Mutter begonnen hatte, als Religionslehrerin zu arbeiten, hing der Haussegen schief. Es war, als ob die Zeit mit einem Mal schneller verginge und sie alle nicht mehr hinterherkämen, als ob ein unsichtbarer Gast bei ihnen am Mittags- und Abendbrottisch säße. Viel später begriff er, dass tatsächlich etwas bei ihnen eingezogen war, das vorher keinen Platz in ihrem Leben gehabt hatte: Stress.
Er war sicher, dass es nicht daran lag, dass seine Mutter arbeitete, denn tatsächlich war sie nicht weniger zu Hause. Nur brachte sie von draußen eine Unruhe mit herein, die sich ungut mit der Erschöpfung seines Vaters vertrug, wenn er aus dem Büro kam. Meist gingen die Diskussionen erst los, wenn die Kinder schon im Bett sein sollten, und oft schlich Ben zur Treppe, setzte sich auf die oberste Stufe und verfolgte den Schlagabtausch. Wenn er die Augen schloss, schien es ihm wie ein Tennisspiel mit luftigen Worten, die immer schneller und härter hin und her flogen.
„Du hast es dir so ausgesucht. Niemand zwingt dich, arbeiten zu gehen.“
„Ach, nein? Soll ich in meinem Mutterglück versauern und dir das Leben überlassen?“
„Welches Leben? Wir können gerne tauschen und du setzt dich von morgens bis abends hinter den Schreibtisch.“
„Als ob du so viel hinter dem Schreibtisch sitzen würdest!“
„Was willst du mir denn damit sagen? Dass ich nichts arbeite?“
„Du verstehst überhaupt nichts. Gar nichts.“
Seine Mutter, so schien es Ben, wollte gar nicht, dass alles wieder gut würde, sie war erst zufrieden, wenn einer von beiden die Türen knallte und sie sich zurückziehen konnte in ihr Zimmer, auf ihr Bett. Dort konnte sie stundenlang liegen und an die Decke starren, er hatte oft genug durch das Schlüsselloch geschaut und sich ihrer vergewissert. Und immer Angst um sie gehabt.
Unberechenbar. Das war das Wort, das ihm spontan eingefallen war, als die Kommissarin ihn nach seinen Eltern gefragt hatte. Im Grunde hielt er in dieser Familie alles für möglich. Nach außen wirkte ihr Zusammenleben vollkommen in Ordnung, doch kaum hatte man die Tür hinter sich geschlossen, begann die Welt zu schwanken. Schon lange bevor sein Vater krank geworden war.
Es war schon immer so gewesen, als ob das ganze Haus an einer Krankheit litt, an einer Schwäche, die seine Bewohner verlangsamte, sie zu Schnecken machte im eigenen Innern. Die Wände schienen unter Spannung zu stehen, die Räume hielten die Luft an, die Böden knirschten sowenig, wie die Holztreppen knarrten, es war, als ob, was hier geschähe, luftdicht abgeriegelt werden, nicht nach außen dringen sollte. Bis es sich mit Gewalt Gehör verschaffte.
Nie hatte er sich vor seinen Eltern gefürchtet, eher einen Drang verspürt, sie zu beschützen. Das erste Mal, als er seinen Vater weinend im Keller vorgefunden hatte, mit blutigen Händen zwischen Glasscherben sitzend, war er seltsam ruhig geworden. Behutsam hatte er ihm über den Rücken gestrichen und den Verbandskasten geholt. Gemeinsam hatten sie mit einer Pinzette die Splitter aus der Hand gepickt, die Wunde desinfiziert und verbunden.
Es war wie ein Spiel in Zeitlupe gewesen und Ben hatte gebetet, dass seine Mutter nicht dazukäme, die Intimität zwischen ihnen zu beenden. Doch niemand hatte sie gestört. Sein Vater war es gewesen, der das Schweigen schließlich brach: „Du bist ein toller Junge, Ben.“
Dann hatte er ihn trotz des Verbands an der Hand genommen und war mit ihm die Treppe hinaufgegangen, als wäre nichts passiert. So war es gewesen, seit er denken konnte: Katastrophen kamen und gingen, aber niemand wollte sie wahrhaben.