Sechzehn
Das alte Eisen spürt man zuerst in den Gelenken und dann als Prothese. Doch zu viele Kniefälle und Bücklinge kann man nicht wegoperieren, auch wenn die Ersatzteile verführerisch sind: Meine Hüfte war reparaturbedürftig, und ich wollte keine neue. Wenn man im Krankenhaus arbeitet, weiß man, was die Patienten niemals erfahren dürfen. Ich habe viele glückliche Gesichter mit künstlichen Gelenken hinaushumpeln und zu viele schmerzverzerrte wieder zurückkommen sehen: Fünf Jahre, so meinen unsere Oberärzte, bringt es durchschnittlich Linderung, und danach kann es zur Hölle werden.
Die Hölle. Ich musste immer noch milde lächeln, wenn ich solche Vergleiche hörte. Und dennoch war mir nicht danach zu leiden. Statt an meinen körperlichen Einsatzfähigkeiten zu feilen, beantragte ich Frührente. Nach über vierzig Jahren Berufstätigkeit, von denen mir drei mangels Nachweis nicht angerechnet wurden. Für die Opfer gab es im Krieg keine Sozialversicherung, nur eine Belohnung: Sie hatten mir das Leben nicht genommen. Wie ich es aushielt, war meine Sache.
Es fiel mir leicht abzudanken. Man überreichte mir einen großen Blumenstrauß und eine Urkunde, die Schwesternschaft hatte Sekt gekauft. Wir stießen darauf an, dass wir uns nie wiedersehen würden, und ich warf meine weißen Kittel in die Wäsche zu den Handtüchern.
Langeweile hatte ich danach nie. Langeweile gehört zu den Zuständen, die ich mir nur vorstellen, jedoch nicht empfinden kann. Ich saß oft da und tat nichts oder ich tat etwas, ohne erkennbare Absicht dahinter, aber es störte mich nicht. Ebenso wenig wie das Wetter, das ich hinzunehmen gelernt hatte, als es noch über Leben und Tod entscheiden konnte. Seit ich im Besitz eines Wintermantels und gefütterter Schuhe war, seitdem ich wieder mit Schirm und Schal spazierengehen konnte, seither freute ich mich über Regen, Schnee und Wind wie ein Kind, das seine neuen Gummistiefel ausprobiert. Nach meiner Verrentung hatte ich viel Zeit, und ich verschwendete sie, so oft ich konnte. Einkaufen gehen wurde zu einem Ausflug, Schlendern zu meiner Lieblingsbeschäftigung. Es ist vielleicht der größte Luxus überhaupt, ziellos herumzulaufen, nur stehen zu bleiben, wenn das Auge es verlangt. Ohne Uhr am Handgelenk zu bestimmen, wann es Zeit für eine Tasse Kaffee ist und wo. Kein Buch aufzuschlagen, sondern im Leben zu lesen. Den Geschichten der Vorbeieilenden, der Häuser und Hofeingänge zu lauschen und zu nicken, wenn man sie versteht.
Das hätte ich bis an mein Lebensende tun können, und ich wäre so glücklich gewesen, wie man eben nur sein kann, wenn man dem Teufel begegnet und ihm vom Feuerhaken gesprungen ist. Von den Flammen gezeichnet, aber noch fähig, die Wärme der Sonne von der Hitze eines Flächenbrands zu unterscheiden. Unendlich dankbar, unsagbar verbittert.
Aber dann war da das Haus. Das Testament meiner Mutter. Und die Versuchung von Heimat.