Dienstagnachmittag

Das Seniorenheim „City Kant“ lag an einer viel befahrenen Hauptverkehrsstraße, die dem Haus seinen Namen gegeben hatte. Die einst gelbe Fassade war ebenso ergraut wie die Bewohner des fünfstöckigen Siebzigerjahrebaus, sofern ihnen die Haare noch nicht ausgefallen waren. Das allerdings war bei den meisten Männern der Fall, die Frank Erkner im Vorbeigehen freundlich grüßte. Die einen saßen apathisch in abgewetzten Sesseln im Foyer und reagierten nicht auf ihn, die anderen musterten ihn kritisch oder nickten ihm bedeutungsschwanger zu. In Begleitung der Heimleiterin durchquerte der Kommissar das Erdgeschoss einmal ganz, um dann mit dem Aufzug in den dritten Stock zu fahren.

„Die Frau Pfarrer? Ja, die war sehr beliebt bei unseren Senioren. Sie hatte ein Händchen, besonders für die älteren Damen. Sie hat innerhalb von zwei Wochen die Anzahl derer, die zur Singstunde kommen, fast verdoppelt.“

Die Innenräume des Seniorenheims waren weitaus ansprechender, als der Bau von außen versprach.

„Bei uns finden Sie das komplette Abbild der sogenannten dritten Generation: rüstige Rentner, alte Leute und Pflegefälle.“ Christiane Schirmer deutete im Vorbeigehen auf eine geöffnete Tür, hinter der eine Frau im Bett lag und fern sah.

„Wir haben den Ansatz, die Schwächeren in das soziale Leben mit einzubeziehen. Deshalb sind einige unserer Pflegebedürftigen hier in der Nähe der Aufenthaltsräume untergebracht. Auf diese Weise geht das Leben zumindest hin und wieder an ihnen vorbei und sie fühlen sich nicht ganz ausgeschlossen.“ Und angesichts Erkners skeptischem Blick fügte sie hinzu: „Keine Angst, wenn sie ihre Ruhe möchten, können sie die Tür zumachen. Automatisch, von ihrem Bett aus.“

Ein Teil des langen Gangs, der durch das U-förmige Gebäude führte, war zum Hinterhof hin verglast. Dahinter lag ein Wohnhaus, das den Abgasen weniger ausgesetzt war und noch immer in Gelb leuchtete.

„Gehört das auch noch dazu?“

„Das ist der älteste Teil. Zumeist 1- oder 2-Zimmer-Eigentumswohnungen. Die meisten Bewohner leben ganz unabhängig von der Residenz, können aber auf Wunsch unsere Dienstleistungen in Anspruch nehmen.“

„Die rüstigen Rentner“, stellte Erkner fest.

Die Heimleiterin lächelte. „Genau. Einige sind wahre Fossilien und leben schon seit Jahrzehnten hier. Die Stadt hat den Wohnungskauf in den achtziger Jahren subventioniert, die ganze Einrichtung hat eine Weile lang Unterstützung erhalten. War wegen ihres modernen Ansatzes ein Vorzeigemodell.“ Sie wies Erkner den Weg in einen kleineren Saal. Ihrem Alter nach zu urteilen war Christiane Schirmer von Anfang an dabei gewesen, weswegen Erkner aus Respekt nachfragte.

„Und heute?“

„Heute“, antwortete sie mit Bitterkeit in der Stimme, „funktionieren wir wie ein Drei-Sterne-Hotel zu Pensionspreisen. Deshalb sind wir um jeden Ehrenamtler froh und kooperieren mit den Kirchen, um unser Freizeitangebot zu erweitern.“

Ob immer so viele derlei Angebote wahrnahmen oder ob das große Interesse an der heutigen Singstunde der besonderen Umstände geschuldet war, beantwortete die Heimleiterin ohne den geringsten Zweifel und mit einem leichten Grinsen: „Die sind natürlich alle wegen Ihnen hier.“

Kein Platz war an den Vierertischen frei geblieben, erwartungsvoll blickten ihn etwa vierzig Augenpaare an, zumeist ältere Damen, als er durch die Flügeltür eintrat.

„Die meisten Menschen, ganz gleich, aus welchem Milieu sie stammen, müssen zuerst etwas bekommen. Information gibt es grundsätzlich und immer nur im Tausch gegen Aufmerksamkeit“, hatte Inge Nowak dem jungen Kommissar mit auf den Weg gegeben, als er kurz nach Dienstantritt seine ersten Zeugen befragen sollte. Bisher hatte seine Chefin damit Recht behalten.

„Soll ich Sie vorstellen?“, fragte ihn die Heimleiterin.

Er schüttelte den Kopf. „Schaff ich schon, danke.“

Je weiter er den Raum durchquerte, um so stiller wurde es, und als er schließlich vorne am Klavier stand, kam er sich vor, als stünde er vor einer Schulklasse im Sexualkundeunterricht.

Vertrauen schaffen.

Er räusperte sich unnötigerweise und hob an: „Guten Tag. Frank Erkner mein Name. Was ist denn das letzte Lied, das Sie zusammen mit der Frau Mangold eingeübt haben?“

Für einen Augenblick hätte man eine Stecknadel fallen hören können, dann redeten plötzlich alle durcheinander. Es dauerte eine kleine Weile, bis man ihm ein Blatt reichte, auf dem die Melodie in Noten aufgeschrieben war. Frank Erkner, der bis vor Kurzem noch in einer Jazzband gespielt hatte, setzte sich ans Klavier und improvisierte. Kurz darauf erschallte im Haus Hoch auf dem gelben Wagen, so laut und mächtig, dass selbst die Hörgeschädigten die Ohren spitzten.

Inge Nowak hatte Mühe, ihre Wohnung zu betreten. Neben ihrem vollschlanken Körper mussten zwei Plastiktüten aus dem Bio-Supermarkt mit den gesammelten Einkäufen gegen ihr schlechtes Gewissen durch die Tür: Jeder Zweifel daran, sich auf Verónicas bevorstehende Ankunft uneingeschränkt zu freuen, wurde mit einer Leckerei für die Freundin bestraft. Auf diese Weise war sie nun um viele spanische Delikatessen reicher und um etwa hundert Euro ärmer. Serrano, Rioja und Manchego waren zwar eindeutige Argumente für die Aufrechterhaltung ihres andalusischen Liebeslebens in den eigenen vier Wänden, doch zugleich ertappte sich die Kommissarin bei dem Gedanken, wie schön doch auch das Singleleben mit Tiefkühlpizza war. Fast schon auf der sicheren Seite, blieb sie mit dem Riemen ihrer Handtasche an dem Knauf hängen und die Erste Kriminalhauptkommissarin der Berliner Polizeidirektion 3, Abteilung Verbrechensbekämpfung, wurde unschön nach hinten gerissen und hielt sich nur mit Mühe auf den Beinen. Wäre sie in besserer Verfassung gewesen, hätte die Szene sie zum Lachen gebracht, so aber fluchte sie: „¡Mierda!“ Der zweite Versuch verlief glatt, sie stieß die Tür, ohne sich umzudrehen, mit der Ferse zu und stellte die schweren Tüten auf den Boden, bevor die bereits ausgeleierten Henkel endgültig ausreißen würden.

Verónica würde den Rest des Sommers, den ganzen Herbst und einen Teil des Winters bei ihr wohnen. Ein Praktikum in Deutschland absolvieren, als Teil des Austauschprogrammes europäischer Kriminalbeamter, an dem sie teilnahm. Sie würde nicht nur Inges Kollegin werden, sie würde auch ihr Bett, den Alltag und alle Wochenenden mit ihr teilen. Zu dem Gefühl, Verónica jeden Augenblick verlieren zu können, gesellte sich schleichend die Angst, ihre hart erkämpfte Freiheit aufgeben zu müssen. Morgens beim ersten Kaffee nicht einfach schweigen, abends auf dem Weg ins Bad nicht einfach alles fallen lassen zu können. Sich nach der Arbeit duschen zu müssen, nicht in heruntergekommenen Klamotten herumlaufen zu dürfen und vor allem – sich den Rückzug in die innere Stille einsamer Minuten am Küchenfenster nicht mehr zu gönnen. Zurück in den absoluten Wir-Modus zu fallen, war für Inge Nowak nach einer gescheiterten Ehe und zwei Beziehungen, die mehr Energie und Geld gekostet als Glück bereitet hatten, ein Alptraum. Die Kommissarin sehnte sich nach Zweisamkeit und fürchtete sie wie eine Naturkatastrophe.

Vor drei Jahren hatten sie sich ineinander verliebt und noch immer schien ihr Verónica wie ein Geschenk, das nur eine Leihgabe war. Ihre erste Liebe zu einer Frau war nicht nur ein unbeschreiblich romantisches Abenteuer, sie weckte auch jenseits erotischer Augenblicke eine Sehnsucht nach Nähe, die ihr unheimlich war. Am Anfang war sie zögerlich gewesen. Eine Wochenendbeziehung mit einer nahezu Fremden in Granada? Was sollte dabei herauskommen? Dabei war sie nicht sicher, was sie mehr fürchtete: eine Fernbeziehung oder die Tatsache, dass Verónica kein Mann war. Und dann der Altersunterschied. Mit Sicherheit würde sie früh in die Wechseljahre kommen und Verónica sich spätestens dann von ihr abwenden.

„Du spinnst, Mama!“, lachte Marit sie aus. „Bis du anfängst, ins Schwitzen zu kommen, hab ich schon drei Kinder! Du hast bloß Angst, Verónica könnte dich für eine Knackigere verlassen, so wie Wolfgang damals.“

Ihre Tochter hatte gut reden. Mit ihren knapp dreißig war sie noch weit entfernt von ersten schlaffen Falten am Unterarm, wenn man bloß auf die Uhr schaute. Und ganz sicher war sie nach der Extase lediglich glücklich erschöpft und nicht todmüde. Verónica sah nach einer langen Liebesnacht aus wie das blühende Leben, während Inge im Badezimmer die Nachtcreme erneuerte. Und immer die Angst, es könnte das letzte Mal gewesen sein.

„Sehe ich dich wieder?“, fragte sie einmal pro Monat am Flughafen.

„Immer und immer wieder“, versicherte Verónica, dann und für einen Moment glaubte Inge ihr. Doch überzeugt war sie erst, wenn die Freundin erneut durch die Glastür trat und die Arme ausbreitete, um sie freudestrahlend zu begrüßen.

„Warum glaubst du mir nicht, wie glücklich ich mit dir bin?“, hatte Verónica sie bei ihrer letzten Begegnung ernst gefragt und dabei über den Tisch mit der weißen Tischdecke hinweg ihre Hand genommen, dass alle es sehen konnten.

„Das glaube ich dir“, erwiderte Inge leise. „Ich frage mich nur, wann es wieder aufhört.“

„Aufhört? Es fängt doch gerade erst richtig an.“

Inge drückte die Kippe auf der Fensterbank aus, schraubte das alte Senfglas mit den anderen Stummeln auf, und warf sie hinein: Schluss jetzt – Verónica kam erst übermorgen und zuvor gab es noch jede Menge zu erledigen. Am liebsten hätte sie die tote Pfarrerin bis dahin vom Tisch, was vollkommen illusorisch war.

Sie hatten bisher noch keinerlei Anhaltspunkte, wer Erika Mangold getötet hatte. Dass es eine kaltblütige Tat war, stand für die Kommissarin nicht erst nach dem ballistischen Bericht fest: zwei gezielte Schüsse aus nächster Nähe, einer in die Herzgegend und einer in den Bauch. Die am Tatort gefundenen leeren Patronenhülsen gaben der Spurensicherung nur schwache Hinweise auf die Herkunft der Waffe.

„Pistole, wahrscheinlich eine Walther. Die Art der Munition lässt an einen älteren Typ denken. 9mm Parabellum. Da könnte ein Jugendlicher die Knarre seines Großvaters benutzt haben, eine P 36. Beliebtes Spielzeug der Wehrmacht und später der Alliierten. Wurde bis 1945 hergestellt, danach erst wieder für die Bundeswehr. Aber die Hülsen, die wir gefunden haben, sind eindeutig älter als die Bundesrepublik. Genauere Daten gibt’s später.“

Damit war ein Auftragsmord fast auszuschließen, denn kein Berufskiller würde sich auf dem hochtechnisierten Waffenmarkt eine so alte Pistole besorgen. Wer also erschoss in einer Kirche eine Geistliche mit einer Waffe aus dem zweiten Weltkrieg? Ingo Mangold, der den Gedanken nicht ertrug, vor seiner Frau zu sterben? Unwahrscheinlich, dass ein Mann wie er eine solche Waffe besitzen sollte. Bei der Nähe zur Diplomatie traute die Kommissarin ihm eher eine kleine Automatik zu.

Estebán Valero? Die Spurensicherung hatte bestätigt, dass viele P 36 nach dem Krieg nach Chile geliefert worden waren. Aber reiste ein Informatiker keine zwei Jahre nach dem 11. September von den USA nach Deutschland mit einer Pistole im Gepäck? Niemals wäre er damit durch die Kontrollen am Flughafen gekommen. Natürlich konnte sich der Täter die Waffe kurz vor der Tat besorgt haben. Aber warum ausgerechnet ein solches Modell mit derart alter Munition? Es könnte aus militärischem Bestand stammen. Oder aus der Schublade eines Kriegsveteranen.

Oder aus den Gehirnwindungen deiner Fantasie, Nowak, echote ihre innere Stimme ungeduldig.

Sie schüttelte den Kopf und entschied, die Sache mit der Waffe ihren Kollegen zu überlassen. Sie musste jetzt endlich die Einkaufstüten auspacken, bevor die eingefrorenen Krabben gänzlich aufgetaut wären. Außerdem war noch die Bettwäsche zu waschen, der Kühlschrank zu reinigen und das Badezimmer zu putzen. Vielleicht auch noch das ein oder andere Fenster, wenigstens das im Schlafzimmer.

Ihr Handy vibrierte. Die Kommissarin klickte auf das Briefchen im Display.

Kann ich heute noch mal deine Stimme?

Inge Nowak lächelte, nippte an ihrem Glas, stand auf und ging das Festnetztelefon suchen.

Töten Ist Ein Kinderspiel
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