Drei

Hannes nannte man nicht behindert, er hatte ein Gymnasium besucht.

„Für einen Krüppel ist mein Abi gar nicht übel.“

Aber man erwartete, dass er mit seinen Flügeln nicht zu wild um sich schlug. Für sein Anderssein gab es ein Wort, so unberechenbar wie das Mittel, das seine Mutter während der Schwangerschaft eingenommen hatte: Contergan.

„Wenn sie mich lassen, studiere ich Medizin.“

„Und wenn nicht?“

„Dann auch.“

Er war in dem Dorf, in dem auch ich groß geworden war, der Einzige, dessen Hände an den Oberarmen herausgewachsen waren und der ungewöhnliche Verrenkungen machen musste, um sich seiner Finger zu bedienen. Nackte Füße immer, und keiner befahl ihm je, sie vom Tisch zu nehmen. Geschickte Glieder, ein beweglicher Sommermensch, der Winter sein Feind.

„Ich hasse Strümpfe. Strümpfe sind Gefängnisse, sie sperren mich ein.“ Er schaute mich an, erwartungsvoll. „Füße wollen frei sein.“

„Füße wollen Wärme“, sagte ich. „Die Kälte nagelt sie fest, sie treibt das Blut über die Ränder des Körpers. Der Schmerz abgestorbener Zehen pflockt dich in die eisige Erde, nicht ans Weglaufen denkst du, nur an den Schlaf, der nicht kommt, wenn es in den Adern pocht und du fürchtest, dir platzt die Haut. Meine Füße haben sich von den Erfrierungen nie wieder erholt, drei Winter mit nichts als gewickelten Lumpen zwischen Haut und Frost, Beulen an Leib und Seele, jeder Schritt einer mehr in Richtung Eis.“

„Trägst du deshalb solche Schuhe?“, fragte der Leichtfüßige.

Wer nach ’45 ein guter Schuhmacher war, hatte ausgesorgt. Tausende verkrüppelter Füße warteten auf quietschendes Leder, hochgeschnürt bis zu den bläulichen Knöcheln. Derbes Schuhwerk für das, was übrig geblieben war von den Märschen an die Front und durch die Lager. Siebzig Mark Zuzahlung für die orthopädische Sonderanfertigung, den Rest bezahlte die Kasse, maßgeschneiderte Wiedergutmachung für die Kriegsversehrten. Für mich hatte keiner etwas übrig. Ich wollte kein Mitleid, aber was ich noch viel weniger wollte, war Aufsehen.

„Verstehe ich nicht“, sagte Hannes.

Natürlich nicht. Sein Anderssein ließ sich nicht verstecken. An seiner Stelle hätte ich danach vielleicht eine kleine Rente bekommen, Entschädigung, wer weiß. Wahrscheinlicher aber wäre gewesen, ich hätte das Ende des Krieges nie erlebt. Sadisten wie Wenger hätten mich zu medizinischen Zwecken benutzt oder gleich exterminiert. Hannes wäre ein klarer Fall für die Euthanasie gewesen. Oder für Dr. Rech, der eigentlich Zahnarzt gewesen war. Niemals habe ich Hannes von ihm erzählt, denn noch nach all den Jahren fürchtete ich, seine Seele könnte heimatlos herumirren und den Jungen in meinem Wohnzimmer vergiften.

Abspritzen.

So viele habe ich vor den Injektionen nicht retten können. Beobachtete Rechs Schatten im Krankenbau und konnte mir genau vorstellen, wie er einer Kranken oder Schwachen, die um Linderung flehte, die Todesspritze setzte. Wenn Ilse und ich dann frühmorgens in die Ambulanz kamen, um unseren Dienst anzutreten, fanden wir eine Leiche auf der Bahre. Kalt, starr, erlöst.

„Iris, sei bloß still“, hüstelte Ilse. „Wir haben Glück, dass wir nicht da liegen.“

Glück. Ein Wort, das ich damals nicht einmal mehr hätte buchstabieren können, und doch hatte Ilse recht. Der Todesengel, der mich am 17.03.1943 aus dem Schlaf riss, hatte ein anderes Schicksal für mich vorgesehen.

Asozial. Wie die anderen Gefangenen steckten sie uns in Streifenkleider, unförmige Hosen, zwängten uns in blaue Schürzen und krönten uns mit weißen Kopftüchern. Nähten uns den schwarzen Winkel und eine Nummer auf den linken Kleiderärmel.

„Von nun an meldest du dich so: Schutzhäftling Iris Lenz, Nr. 6745.“

Und dann schnitt eine stählerne Stimme in die Dämmerung, in der wir in Fünferreihen unbeweglich stehen mussten, hungrig, frierend, die kalte Hand der Todesangst am Herzen.

„Krankenschwestern vortreten!“

Ich stand in der ersten Reihe und zögerte keine Sekunde. Machte einen großen Schritt und stand direkt vor Wenger. Eine lächerliche Figur in gestreiften Lumpen vor dem stattlich Uniformierten, der mich um einen Kopf überragte.

„Mund auf!“, befahl er mir, und ich gehorchte.

Er betrachtete mein Gebiss, und ich musste an meinen Vater denken.

Mein bestes Pferd im Stall.

Bevor er hatte merken können, was faul an mir war, war ich ihm davongaloppiert. Der SS-Lagerarzt hatte nichts an meinen Zähnen auszusetzen.

„Du willst etwas können?“, fragte er mit Blick auf meinen linken Arm.

Er hielt mein Kinn zwischen seinen Fingern und ich nuschelte: „Gelernte Krankenschwester.“

Für einen Augenblick hing alles in der Luft. Wenger ließ seine eisigen Augen über die Frauen wandern, und dann, als wäre er des Anblicks plötzlich überdrüssig geworden, drehte er ab und gab einer der Aufseherinnen einen Wink mit Blick auf mich.

„Mach sie für mich fertig.“

Am nächsten Tag fing ich an, im Krankenlager zu arbeiten.

„Warum haben Sie dich überhaupt ins KZ gesteckt?“, Hannes gab sich nicht mit einfachen Antworten zufrieden. So lange hatte ich geschwiegen und nun kam so ein armloser Bengel daher und wollte es wissen.

„Das geht dich nichts an.“

„Doch.“

„Ach?“

„Wir sind Freunde und vor Freunden hat man keine Geheimnisse.“

Ich hatte keine Freunde und jede Menge zu verbergen.

„Unsinn! Gerade Freunde sollten verstehen, wenn man etwas für sich behalten muss.“

„Will“, korrigierte mich Hannes.

Ich wollte und ich wollte doch nicht.

„Ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen soll.“

„Am Anfang, natürlich.“

Töten Ist Ein Kinderspiel
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