Vierzehn

Ich war neununddreißig, als die Mauer gebaut wurde. John F. Kennedy sagte dazu: „Keine schöne Lösung, aber tausendmal besser als Krieg“, und ich gab ihm recht. Vielleicht hätte ich anders gedacht, wäre ich in der sowjetischen Besatzungszone beschäftigt gewesen und nicht in einem Kreuzberger Krankenhaus. Wenn ich –wie Charlotte – in der Bernauer Straße gewohnt hätte, die dort ganz in der Nähe in einem Fotolabor Arbeit gefunden hatte.

„Das mit der Mauer ist doch völliger Quatsch! Hier lässt sich keiner einsperren! Wart nur ab, das legt sich wieder“, hatte sie noch Anfang August gesagt. „Ich komm gut mit den Russen klar, den Amis trau ich noch weniger. Ich hab nichts gegen die sozialistische Umgestaltung.“

Und dann gab es plötzlich kein Durchkommen mehr. Meinen vierzigsten Geburtstag feierte ich allein und war seltsam froh. Walter Ulbricht hatte uns die Trennung abgenommen, das quälende Zehren voneinander, wenn man offen voreinander liegt und zugeben muss, dass es nichts mehr zu entdecken gibt. Charlotte und ich hatten uns bis zu der bitteren Erkenntnis geliebt, dass wir nicht füreinander gemacht waren. Sie war lebenslustig, ich war untauglich zu genießen. Sie wollte die Revolution, ich traumlos schlafen. Ihre Leichtigkeit erstickte unter meiner Schwere und daran konnte auch das Gewicht ihrer Leidenschaft nichts ändern. Mit den Jahren füllte sich jede einzelne Pore meiner Haut mit ungeweinten Tränen, ich löschte ihr Lachen mit jedem Kuss. Je näher wir uns kamen, umso schmerzlicher wurde mir bewusst, dass ich längst eingeschlossen war. Lange vor der Mauer hatte mich eine Grenze umgeben, die unpassierbar wurde – Charlotte konnte mir die Freiheit nicht wiedergeben, die ich in den Jahren zwischen Leid und Sterben verloren hatte.

Wir schrieben uns noch einige Male von West nach Ost und umgekehrt, doch zwischen den Zeilen schwelte schon der Abschied. Keine von uns wusste je, ob es die Umstände waren, die uns schließlich ins Schweigen trieben oder die Einsicht, keine Worte mehr füreinander zu haben.

Plötzlich war ich wieder umgeben von Stacheldraht in einem überschaubaren Terrain, und es hätte mich nicht gewundert, wenn man uns wieder Nummern gegeben hätte. Immerhin saßen wir im Schaufenster des Westens, die Welt schaute auf die geteilte Stadt, die amerikanischen Panzer standen zu unserem Schutz bereit. All das beruhigte mich nicht.

Hinter der Mauer wurde auf Flüchtende geschossen, das erzählten die, die es im letzten Moment geschafft hatten, aus dem Fenster zu springen. Wie der Mann, der, als er mit gebrochenen Knöcheln zu uns kam, sechs Anzüge übereinander trug. Er hatte sie nicht zurücklassen wollen, anders als seine Frau und seine Kinder. Der Bruch durch den Sprung aus dem zweiten Stock verheilte schnell, die Lungenembolie, die er im Krankenhaus bekam, überlebte er nicht. Die Anzüge verschenkten wir einige Tage nach seinem Tod ans Rote Kreuz.

Töten Ist Ein Kinderspiel
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