3
Sie rasten die sonnige Landstraße entlang. Mehrere Polizeiwagen. Im vordersten saßen Superintendent Baker und Stella. Stella lenkte.
»Ich bin schneller«, hatte sie zu Baker gesagt und ihm den Autoschlüssel aus der Hand genommen, »ich habe weniger Skrupel.«
Tatsächlich fuhr sie so, dass die anderen Mühe hatten, mitzuhalten. Sie trug eine dunkle Sonnenbrille. Selbst im Profil verrieten ihre fest aufeinander gepressten Lippen eiserne Entschlossenheit.
Nachdem Jack Walker zusammengebrochen war, hatten sie zwar keine Mühe mehr gehabt, ihn zum Geständnis der Morde an Sarah Alby und Rachel Cunningham zu bewegen. Auch gab er ohne Umschweife zu, Janie Brown in jenem Schreibwarenladen angesprochen zu haben – in der Absicht, sie ebenfalls in sein Auto und damit in seine Gewalt zu locken. Aber er blieb wirr, was Kim anging. Er konnte nicht über sie sprechen, ohne dass es ihn schüttelte vor Schluchzen, und teilweise waren seine Ausführungen kaum verständlich.
»Ich habe sie geliebt! Ich habe sie doch geliebt! Nie würde ich ihr ein Haar krümmen! Niemals! Niemals!«
»Sie haben sie vorgestern an der Schule abgefangen?«
»Ja.«
»Und in Ihrem Auto mitgenommen.«
»Ja.«
»Und wohin sind Sie mit ihr gefahren? Walker? Wohin?«
»Ich habe ihr nichts getan!«
»Wo ist sie?«
»Sie ist mein Püppchen. Meine Prinzessin. Ich könnte ihr niemals wehtun!«
»Wo ist sie, Walker, verdammt?«
»Ich kann nichts dafür. Es überkommt mich. Ich will es nicht. Bitte, glauben Sie mir. Ich will den Kindern nichts antun. Ich wünschte … Ich wünschte …«
»Was?«
»Ich wünschte, ich wäre nie geboren worden«, hatte Jack Walker hervorgestoßen und wieder so heftig zu weinen begonnen, dass minutenlang überhaupt nicht mit ihm zu reden gewesen war.
Es schien für Jack Walker eine ungeheure Erleichterung zu bedeuten, sich endlich einem anderen Menschen öffnen zu dürfen, sowohl was seine Veranlagung anging als auch die Ermordung der beiden Mädchen. Bis in die letzten Details hinein wollte er sich von der Last seiner Schuld wenigstens so weit befreien, dass er sie nicht mehr allein herumtrug. Baker hätte traumhafte Geständnisse haben können, die Antwort gaben auf alles, was er wissen wollte. Jack Walker hätte Stunde um Stunde geredet, von seiner Kindheit und Jugend in einer spießigen, nach außen hin intakten, aber im Innersten dysfunktionalen Familie angefangen, über das Erwachen seiner schrecklichen sexuellen Neigungen und seinen Bemühungen, diese zu bekämpfen, bis hin zu den Verbrechen, die er dann begangen hatte, als es ihm schließlich nicht mehr gelang, seine Triebhaftigkeit zu unterdrücken.
»Ich wollte die Mädchen nicht umbringen! Das müssen Sie mir glauben! Ich wollte es nicht, ich wollte es nicht! Aber ich hatte … es mit ihnen getan, und ich hatte Angst … Mein Gott, sie hätten mich doch angezeigt, ich wäre ins Gefängnis gekommen … Ich hatte solche Angst …«
Er war wie eine weit geöffnete Schleuse gewesen, die Baker nur noch hätte strömen lassen müssen.
Aber solange noch die geringste Chance bestand, dass Kim Quentin am Leben war, durfte er sich damit nicht aufhalten. Er musste herausfinden, wohin Walker sie gebracht hatte. Er musste es wissen, bevor er sich Walkers Lebenslauf und die Beschreibungen seiner grauenhaften Taten anhörte, über seine gestammelten Rechtfertigungen und sein Mitleid heischendes Gewinsel kotzte und doch widerwillig die Qual und das Ausgeliefertsein dieses Mannes verstand. Vorher musste er versuchen, das Leben Kim Quentins zu retten – wenn es noch zu retten war.
Er hatte Walker immer wieder mit scharfer Stimme unterbrochen.
»Das interessiert mich jetzt nicht, Walker. Erleichtern Sie Ihr Gewissen später. Jetzt will ich nur wissen, wohin Sie Kim Quentin gebracht haben. Wohin, verdammt?«
Er hatte ihn angebrüllt, und Jack Walker hatte zu zittern begonnen. »Ich habe sie … Ich habe angehalten. Ich habe sie angefasst. Sie ist so süß. So zart …«
Baker war ein abgebrühter Polizeibeamter, aber derartige Reden konnte er sich kaum anhören, ohne dass ihm schlecht wurde. Er musste sich sehr bemühen, Walker nicht dadurch zum Schweigen zu bringen, dass er ihn seinen Ekel zu sehr spüren ließ.
»Ich verstehe, Walker. Und dann bekamen Sie Angst? Angst, dass Kim ihren Eltern erzählen würde, dass sie von Ihnen angefasst wurde?«
Walker hatte wieder zu weinen begonnen. »Das alte … Gelände … diese Firma, Trickle & Son, für die ich ab und zu noch arbeite …«
»Ja? Es gibt da ein altes Gelände? Sie meinen, ein verlassenes Gelände?«
»Ja. Richtung Sandringham. Vor zehn Jahren ist Trickle von dort weggegangen. War ja mal eine riesige Spedition. Ich war da fest angestellt. Früher. Jetzt ist da niemand mehr …«
Baker hatte sich vorgeneigt, gespannt wie eine Feder. »Dorthin sind Sie mit Kim gefahren?«
»Ja …«
»Und dort ist sie noch?«
Walker hatte mit den Schultern gezuckt und erneut hemmungslos zu weinen begonnen.
Baker war aufgesprungen. »Okay. Das ehemalige Firmengelände der Spedition Trickle & Son.«
Und so jagten sie nun Richtung Sandringham hinaus, nachdem sich ein Beamter informiert hatte, wo genau sich die seit langem leer stehenden Firmengebäude befanden. Eine gottverlassene Gegend, wie Baker wusste. Ein perfekter Ort für jemanden wie Walker. Ein idealer Ort, sich vor dem Rest der Welt zu verstecken. Dorthin hatte er Kim gebracht. Aber was dann? Er hatte zunächst beteuert, sie nicht angerührt zu haben, und später eingeräumt, dass er an ihr »herumgespielt« hatte. Wie weit er tatsächlich gegangen war, mochte ihm möglicherweise selbst nicht ganz klar sein. Baker wusste, dass Täter vom Typ Jack Walkers ihre Verbrechen tatsächlich bereuten und häufig mit ihrer Schuld nur zurechtkamen, indem sie sie verdrängten. Kim Quentin hatte, anders als die beiden anderen Opfer, eine besondere Rolle in Jack Walkers Leben gespielt. Wenn er ihr etwas angetan hatte, vermochte er sich mit diesem Umstand möglicherweise selbst nicht mehr zu konfrontieren. Und so blieb die bange Frage: Wenn sie Kim überhaupt vorfanden, würde sie tot oder lebendig sein?
»Ich finde nicht, dass er gut aussieht«, sagte Stella.
Baker, aus seinen Gedanken aufgeschreckt, sah sie überrascht an. »Wer? Wen meinst du?«
»Walker. Jack Walker. Ein langweiliger Opa-Typ, so würde ich ihn beschreiben. Weil doch Rachel Cunningham bei ihrer Freundin behauptet hatte, er sähe aus wie ein Filmstar.«
Baker seufzte. »Sie wollte wahrscheinlich ein bisschen angeben. Aber mit den Personenbeschreibungen ist das immer so eine Sache, nicht wahr? Kaum jemandem gelingt es, wirklich objektiv zu sein.«
Rachel Cunningham. Er musste daran denken, was Walker während seines Geständnisses über sie gesagt hatte. Rachel Cunningham hätte davonkommen können. Als er sie angesprochen hatte, hatte er sich für den darauffolgenden Sonntag mit ihr verabreden wollen, aber Rachel hatte ihn wegen der geplanten Ferienreise ihrer Familie um drei Wochen vertrösten müssen. Walker, durchaus stets im Kampf mit seiner schrecklichen Veranlagung, war darauf eingegangen, hoffend, er werde während dieser Zeitspanne das Interesse an dem Mädchen verlieren. Als der betreffende Sonntag gekommen war, hatte ihn jedoch seine sexuelle Unrast schon in der Nacht nicht mehr schlafen lassen. Wie willenlos, so seine Aussage, war er schließlich zum Chapman's Close gefahren, in irgendeinem Winkel seiner Seele hoffend, das Mädchen selbst sei inzwischen der Angelegenheit überdrüssig geworden. Aber Rachel habe bereits gewartet, aufgeregt und erwartungsvoll.
Das ehemalige Gelände der Firma Trickle war seit Jahren dem Verfall preisgegeben und bot trotz des sonnigen Wetters einen trostlosen Anblick. Baker war längere Zeit zuvor einmal dort gewesen, hatte aber nicht mehr in Erinnerung gehabt, wie weitläufig sich Garagen, Lagerhallen und einstige Bürogebäude erstreckten. Der Hof war völlig mit Unkraut überwuchert. Aus allen Fenstern waren längst die Glasscheiben herausgebrochen, und tote, dunkle Höhlen starrten aus dem schmutzigen Mauerwerk. Die Dächer waren halb abgedeckt, Stahltüren standen offen und hingen schief in ihren Angeln. Vor einer der lang gestreckten Lagerhallen stand ein gänzlich verrosteter Lieferwagen ohne Räder. Aus seiner zersplitterten Windschutzscheibe wuchs Löwenzahn.
Stella öffnete die Autotür. »Das wird dauern«, sagte sie, »wenn das hier alles auch noch unterkellert ist …«
»Wir haben keine Minute Zeit zu verlieren«, drängte Baker und stieg aus.
Die Beamten verteilten sich sofort über das ganze Gelände. Wie mit bloßem Auge zu erkennen war, waren etliche der Gebäude einsturzgefährdet, und man musste sich in ihrem Inneren mit äußerster Vorsicht bewegen. Zudem stellte sich heraus, dass sämtliche Bürogebäude tatsächlich unterkellert waren.
»Wenn sie noch lebt«, sagte Stella, »wird sie sich irgendwann bemerkbar machen.«
»Es sei denn, sie ist vor Angst wie erstarrt«, meinte Baker, »sie kann auch völlig entkräftet sein. Wir dürfen keinen Winkel auslassen.«
Während der ersten Dreiviertelstunde fanden sie überhaupt nichts. Nicht den kleinsten Hinweis darauf, dass überhaupt je ein Kind hier gewesen war. In einem Speicher stießen sie schließlich auf eine Menge leerer Bierflaschen und auf Kerzenstummel, die auf dem hölzernen Fußboden klebten.
Baker schüttelte den Kopf. »Hat vermutlich nichts mit Walker zu tun. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich hierhersetzt, Kerzen anzündet und Bier trinkt. Wahrscheinlich haben Jugendliche eine Party gefeiert.«
»Aber hier«, erklang die Stimme eines Beamten, der soeben den Nebenraum durchsuchte, »hier ist etwas, das könnte mit Walker zu tun haben!«
Bei dem Nebenraum handelte es sich eher um eine Art begehbaren Wandschrank, mit einer Tapetentür fast bis zur Unkenntlichkeit getarnt. Baker spähte hinein. Auf dem Fußboden stapelten sich Fotos, die kleine Kinder in eindeutig pornografischen Posen zeigten. An der Wand klebte ein Poster, das einen erwachsenen Mann im Geschlechtsakt mit einem höchstens zehn Jahre alten Mädchen zeigte. Die Augen des Mädchens waren weit aufgerissen und voller Entsetzen.
»Nach all meinen Jahren bei der Polizei«, sagte Stella, die gleich hinter Baker stand, »kann ich so etwas nicht sehen, ohne das Gefühl zu haben, schreien zu müssen.«
»Da bist du nicht allein«, erwiderte Baker und wandte sich ab. »Dreckskerl«, sagte er inbrünstig, »dieses Zeug hat er daheim nicht aufzubewahren gewagt.«
»Glaubst du, seine Frau hat wirklich keine Ahnung?«, fragte Stella.
»Zumindest will sie ganz sicher keine Ahnung haben«, meinte Baker. Dann wandte er sich an die anwesenden Beamten. »Weitersuchen! Er war hier. Das bedeutet, mit der Preisgabe dieses Geländes hat er uns nicht belogen. Kim könnte wirklich hier irgendwo sein.«
Anderthalb Stunden später waren alle ratlos und erschöpft.
»Nach menschlichem Ermessen«, sagte einer der Beamten, »gibt es hier jetzt keinen Winkel mehr, in dem wir nicht waren. Nirgends eine Spur von dem Kind.«
»Er hat uns eine Geschichte aufgetischt«, sagte Stella, »wahrscheinlich ist er mit Kim hier gewesen. Aber dann … ich meine, die anderen Kinder wurden auch ganz woanders …«
Baker strich sich über das Gesicht. Seine Augen brannten vor Anstrengung. »Das hieße, Kim ist tot? Die Leichen der anderen Kinder tauchten alle in der Nähe von King's Lynn auf, alle an Stellen, an denen über kurz oder lang jemand vorbeikommen musste. Warum haben wir dann Kim nicht gefunden? Obwohl Hundertschaften der Polizei seit zwei Tagen jeden Grashalm nach ihr umdrehen!«
»Weil er sie vielleicht ganz woanders abgelegt hat«, sagte Stella, »eben gerade deshalb, weil es um die Stadt herum von Polizei wimmelt. Da hebt man nicht einfach so ein totes Kind aus dem Auto und legt es an den Straßenrand. Vielleicht ist er Richtung Cromer gefahren. Oder nach Süden, in die Gegend um Cambridge. Im Grunde kommt jeder Ort in Frage.«
Baker schwieg. Er hätte nicht zu begründen gewusst, weshalb er dieses einsame, trostlose Gelände noch nicht verlassen wollte. Sie hatten alles abgesucht. Sie hatten nicht die geringste Spur von Kim gefunden. Stella hatte wahrscheinlich Recht. Walker mochte mit Kim hier gewesen sein, später hatte er sie jedoch anderswo hingebracht. Was den Schluss, dass sie nicht mehr am Leben war, mehr als wahrscheinlich machte.
Und dennoch war da eine Stimme. Sie hatte etwas mit dem Instinkt zu tun, den Baker im Laufe jahrelanger Ermittlungsarbeit entwickelt hatte. Diese Stimme mochte ihn nicht fortgehen lassen. Die Stimme warnte ihn, jetzt schon aufzugeben.
»Noch einmal«, sagte er, »wir durchsuchen hier noch einmal jeden Winkel.« Alle starrten ihn an.
»Sir …«, begann einer der Beamten, doch Baker brachte ihn mit einem einzigen Blick zum Schweigen.
Stella war nicht so leicht einzuschüchtern. »Jeffrey, das bringt doch nichts! Es gibt hier einfach keine Stelle mehr, an der wir noch nicht nachgesehen hätten. Wir sind alle völlig erschöpft. Und wir verschwenden Zeit. Zeit, die wir dringend brauchen, um Kim an einem anderen Ort zu suchen.«
»Wenn Kim nicht hier ist, dann ist sie tot«, sagte Baker. »Wenn er sie am Leben gelassen und irgendwo versteckt hat, dann hier. Auf diesem Gelände. Einen anderen Ort wird er nicht kennen und zur Verfügung haben.«
»Okay«, sagte Stella ohne jede Überzeugung, »okay. Also los, von vorn!«
Der Trupp schwärmte erneut aus, und obwohl die Beamten inzwischen überzeugt waren, nichts zu finden, suchten sie dennoch mit ebenso großer Sorgfalt und Genauigkeit wie zuvor. Stella blieb in Bakers Nähe.
»Die Kellerräume«, sagte Baker, »sie stellen meiner Ansicht nach die einzige Chance dar, doch noch etwas zu finden. Einen Hohlraum, eine Kammer, irgendetwas, das wir übersehen haben. Sie sind dunkel und verwinkelt. Ich glaube nicht, dass uns oben etwas entgangen ist.«
»Gut«, meinte Stella ergeben, »dann gehen wir noch einmal hinunter.«
Sie durchsuchten das Kellergewölbe des vordersten Bürogebäudes. Feuchtigkeit war hier im Lauf der Jahre eingedrungen und hatte die gemauerten Gänge und Räume in nasse, kalte Verliese verwandelt.
Ein paar halb verfaulte Holzregale standen noch entlang den Wänden. Schwer vorstellbar, dass darin Akten gestanden und Papierstapel gelegen hatten. So schwer vorstellbar wie die Tatsache, dass täglich viele Menschen hierher zur Arbeit gekommen waren. Dass alles in einem sauberen, ordentlichen Zustand gewesen war und eine große Firma von hier aus ihre Transporte in alle Richtungen Europas organisiert und gestartet hatte.
Als sie mit dem ersten Gebäude fertig waren und wieder nach oben kamen, seufzte Stella tief, rutschte langsam an der Außenmauer des Hauses herab und blieb erschöpft zwischen Disteln und Löwenzahn sitzen.
»Nur fünf Minuten«, bat sie und strich sich mit der Hand über das Gesicht, »gib mir fünf Minuten, Jeffrey. Ich brauche einfach eine Zigarette.«
Er grinste. Stellas hoffnungslose Nikotinsucht war oft Gegenstand zahlreicher Hänseleien unter den Kollegen.
»Versau du dir deine Lungen«, sagte er, »ich gehe inzwischen ein Haus weiter in den Keller.«
»Bin gleich bei dir«, versprach Stella, zündete eine Zigarette an und nahm einen tiefen, genießerischen Zug.
Baker machte sich allein auf den Weg in den nächsten Keller. Er sah genauso aus wie der erste, war nur noch größer und weitläufiger. Strom gab es hier draußen keinen mehr, aber Baker hatte eine starke Taschenlampe, mit deren Hilfe er sich seinen Weg suchte.
Der Keller war sehr verwinkelt. Immer wieder ging es ein paar Treppenstufen hinauf oder hinab. Man musste sich konzentrieren, um wegen der Feuchtigkeit nicht auszurutschen. Baker ging in jeden Raum hinein, leuchtete Millimeter um Millimeter die Wände ab. Er hoffte auf eine Tür oder auf Steine zu stoßen, die locker aufeinander lagen und vielleicht den Weg zu einem verborgenen Hohlraum freigeben würden. Etwas, das er bei seinem ersten Durchgang möglicherweise übersehen hatte. Aber da war nichts. Festgefügte Mauern. Kein Durchgang, keine getarnte Tür. Nichts.
Ich habe mich geirrt, dachte er. Müde stolperte er die nächste Treppe hinunter. Erschöpfung und Resignation breiteten sich auf einmal wie ein schnell wirkendes Gift in ihm aus. Kim Quentin war nicht zu retten. Wieder würde er mit leeren Händen vor ihren Eltern stehen. Vielleicht hatte Stella Recht, und er vertat gerade kostbare Zeit. Vielleicht hätte er fortfahren müssen, Jack Walker, dessen Redefluss kaum zu bremsen gewesen war, zu verhören. Walker hätte ihm alles über Sarah und Rachel erzählt, und vielleicht wäre er dann zwangsläufig bei Kim gelandet und hätte anstelle von wirren Andeutungen klipp und klar gesagt, was er mit ihr getan hatte. Und wo sie zu finden war.
Womöglich hatte er einen großen Fehler gemacht. Seine Entscheidung hatte sich auf das Gefühl gegründet, dass die Zeit drängte. Dass Kim noch lebte, aber dass sie schnell gefunden werden musste. Dass keine Zeit blieb, Walkers endlosen, ausschweifenden Schilderungen zu lauschen. In der Hoffnung, dass er irgendwann das sagte, worauf alle brennend warteten.
Gefühl. Instinkt. Er hatte sich oft davon leiten lassen. Und oft gewonnen. Einige Male jedoch auch verloren.
Gott, wenn es diesmal schiefgegangen ist! Und wenn sich herausstellt, dass ein kleines Mädchen am Ende für meinen Irrtum bezahlen muss.
Schwer atmend blieb er stehen. Am liebsten wäre er auf dem Absatz umgekehrt, hätte sich ins Auto gesetzt, wäre zurück nach King's Lynn gerast, hätte sich Jack Walker vorgenommen und die Informationen über Kim Quentin aus ihm herausgeprügelt. Aber das wäre eine Panikreaktion gewesen. Und von Panik, das war nun wirklich klar, durfte man sich gerade in seinem Beruf keinesfalls leiten lassen.
Ganz ruhig, mahnte er sich, du führst zu Ende, was du begonnen hast. Du durchsuchst diesen Keller und dann den nächsten. Dann erst brichst du die Aktion hier draußen ab.
Und genau in diesem Moment hörte er es.
Das Geräusch war so schwach, dass er es mit seinen eigenen Schritten übertönt hätte, wäre er nicht gerade still gestanden. Vermutlich hätten schon die Anwesenheit Stellas und ihr Atmen gereicht, das Geräusch unhörbar zu machen. Nur weil er allein war, nur weil er gerade innehielt, nur weil für ein paar Momente vollkommene Stille um ihn herrschte, konnte er es wahrnehmen.
Es klang wie ein ganz feines Kratzen. Wie das Echo eines Kratzens. So zart, dass er einen Augenblick später schon wieder meinte, sich getäuscht zu haben. Doch dann hörte er es erneut. Es kam aus der Richtung, in der sich der Gang vor ihm in der Dunkelheit verlor.
Mit raschen Schritten, befreit plötzlich von aller Müdigkeit, ging er weiter. Er sagte sich, dass er nicht zu siegesgewiss sein sollte. Vielleicht waren es bloß Ratten, die hier unten herumhuschten, vielleicht hörte er nur ihre kleinen Krallen auf dem steinernen Boden.
Immer wieder blieb er stehen, hielt den Atem an, versuchte erneut, das Geräusch zu orten. Voller Angst, es könnte verstummen, ehe er seine Quelle gefunden hatte.
Doch es hielt an. Leise, kraftlos.
Er erreichte das Ende des Gangs. Rechts und links befanden sich zwei Räume. Die Türen waren längst aus den Scharnieren gebrochen und lagen auf dem Boden.
Wieder lauschte er. Das Geräusch kam aus dem Raum, der rechts von ihm lag. Er trat ein. Stella und er waren bei ihrem ersten Durchgang bereits dort gewesen. Ein Haufen zusammengebrochener und zu einem wirren Bretterhaufen gestapelter Holzregale hatte ihre Aufmerksamkeit erregt, sie hatten zwischen die Latten geleuchtet, nichts von Belang jedoch dahinter entdeckt. Jetzt aber glaubte er ganz sicher zu hören, dass das Kratzen genau von dort kam. Wieder näherte er sich den Regalen. Es waren so viele, und sie waren derart zerborsten und ineinander verkeilt, dass er ganz schwer nur etwas dahinter erspähen konnte. Er legte die Taschenlampe zur Seite, platzierte sie so, dass sich ihr Strahl auf die Bretter richtete, und begann, die Regale zur Seite zu räumen. Da er nicht wusste, was sich dahinter befand, musste er sehr vorsichtig zu Werke gehen. Er wollte nicht, dass der ganze Aufbau in sich zusammenfiel.
Er keuchte. Das Kratzen war verstummt.
Dann erklangen Schritte hinter ihm, der Strahl einer zweiten Taschenlampe fiel in den Kellerraum.
»Hier bist du«, sagte Stella. »Was machst du da?«
»Da war ein Geräusch«, erklärte er, »hinter diesen Regalen. Hilf mir mal.«
Auch Stella legte ihre Lampe zur Seite. Es ging viel einfacher und schneller mit ihrer Hilfe. Sie konnte einzelne Bretter abstützen, während er andere vorsichtig darunter hervorzog. Der Stapel lichtete sich.
»Da steht irgendetwas«, sagte Stella.
Sie holte sich ihre Lampe, richtete den Strahl auf den Gegenstand, der sich unter den Regalen verborgen gehalten hatte. »Eine Kiste!«, rief sie überrascht.
Baker merkte, dass es in seinen Ohren zu summen begann. Das kratzende Geräusch. Eine Holzkiste unter einem Stapel zuammengefallener Regale. Sein Instinkt, der ihm geraten hatte, nicht aufzugeben.
»Halt die Lampe«, sagte er. Mit einem raschen Blick vergewisserte er sich, dass ihm nichts auf den Kopf fallen konnte, dann kletterte er über die letzten herumliegenden Holzteile und beugte sich über die Kiste. Sie hatte kein Schloß. Aber der Deckel war schwer. Er brauchte seine ganze Kraft, ihn zu öffnen.
Kim Quentin lag auf einem Stapel Decken. Sie hatte die Beine angewinkelt, weil sie sie nicht ausstrecken konnte. Das Licht blendete sie, sie schloss sofort die Augen. Sie lebte.
Er hob den leichten, geschwächten Körper heraus. Er lag wie eine Feder in seinen Armen.
»Mein Gott«, hörte er Stella mit leiser Stimme murmeln, »wie gut, dass wir …«
Sie sprach den Satz nicht zu Ende.
»Kim«, sagte Superintendent Baker und strich mit einer Hand behutsam über die feuchten, verklebten Haare des Kindes. »Kim, es wird alles gut.«
Kim schlug die Augen auf und sah ihn an. Ihr Blick war klar.
»Ich habe so furchtbaren Durst«, sagte sie.