Freitag, 1. September

 

1

 

Es war kurz nach Mitternacht, als er in die Auffahrt zu Ferndale House einbog. Entlang des gewundenen Wegs brannten Laternen. Er konnte die dicht belaubten Bäume sehen. Es war, als führe man durch einen tiefen Wald.

Mit steifen Gliedern kroch er aus dem kleinen Leihwagen, kramte seine Schlüssel hervor. Er entsicherte die Alarmanlage, dann schloss er die Haustür auf. Im Flur roch es schwach nach Virginias Parfüm. Der Geruch kam von ihren Mänteln und Schals, die an der Garderobe hingen. Ganz kurz senkte er sein Gesicht in eine Jacke aus flauschigem Mohair. Es roch so warm und so tröstlich.

»Wo bist du nur?«, murmelte er. »Wo bist du denn nur?«

Er schaltete die Lichter ein, ging in die Küche. Der Wasserhahn an der Spüle tropfte ein wenig, geistesabwesend drehte er ihn fester zu. Die Küche war sauber aufgeräumt, alle Arbeitsflächen und auch der Esstisch ordentlich gewischt. Die Pflanzen am Fenster – hauptsächlich Kräuter – hatten frisches Wasser bekommen; er sah, dass die Teller unter den Töpfen randvoll mit Wasser waren.

Er ging ins Wohnzimmer hinüber, nahm ein Glas aus dem Schrank und die Whiskyflasche von der Bar und schenkte sich einen doppelten Chevas ein. Trank ihn in einem Zug. Der Alkohol brannte in seiner Kehle, für einen Moment breitete sich eine Hitze in seinem Magen aus, die er als angenehm empfand. Er schenkte sich noch einmal ein. Für gewöhnlich löste er seine Probleme nicht mit Alkohol, aber im Augenblick hatte er das Gefühl, etwas zu brauchen, um nicht völlig durchzudrehen.

Das Glas in der Hand, streifte er durch das Haus. Es war alles wie immer, nirgendwo der kleinste Hinweis, was mit Virginia passiert sein konnte. Im Schlafzimmer waren die Betten gemacht. Er öffnete den Kleiderschrank, aber er hatte zu wenig Überblick über die Sachen seiner Frau, als dass er hätte sagen können, ob etwas fehlte und was es war. Ihm fiel nur auf, dass der kleine rote Reisekoffer, der immer zwischen Schrank und Wand stand, verschwunden war. Sie hatte gepackt. Sie hatte mit einem Koffer dieses Haus verlassen.

Nach einigem Zögern betrat er auch das Gästezimmer. Hier musste Nathan Moor gewohnt haben.

Aber auch das Zimmer gab keinen Aufschluss. Das Bett war gemacht, der Schrank leer. Es gab nichts, was auf Moors Anwesenheit hinwies.

Und selbst wenn ich eine alte Socke von ihm gefunden hätte, dachte Frederic müde, hätte mich das auch um keinen Schritt weitergebracht.

Er verließ das Zimmer wieder, ging ins Schlafzimmer hinüber, zog sich mit langsamen Bewegungen aus. In der Spiegeltür des Schranks sah er einen müden Mann, der grau und ausgebrannt wirkte. In seinen Augen standen Furcht und Verwirrung. Es war ein Gesichtsausdruck, den er von sich nicht kannte. Weder furchtsam noch verwirrt zeigte er sich jemals, auch waren dies keine Gefühle, die für gewöhnlich sein Innenleben beherrschten. Aber in eine derartige Situation war er auch noch nie geraten. Noch nie hatte ihm etwas derart die Kehle zugeschnürt wie Virginias Verschwinden. Noch nie hatte ihn etwas derart aus der Ruhe gebracht.

Er schlüpfte in seinen dunkelblauen Bademantel. Unmöglich, sich ins Bett zu legen und zu schlafen, er würde kein Auge zutun. So früh wie möglich wollte er Livia Moor aufsuchen. Zuvor musste er seine Sekretärin in London anrufen; es waren für den Vormittag etliche Termine abzusagen, einige würden auch von seinen Mitarbeitern wahrgenommen werden können. Was aus dem wichtigen Abendessen werden sollte, das womöglich der Ausgangspunkt für die beunruhigenden Ereignisse gewesen war, wusste er nicht. Ihm bliebe natürlich die Zeit, am Nachmittag nach London zu fahren und an der Einladung teilzunehmen, Virginia mit irgendeiner Ausrede zu entschuldigen. Aber würde ihm das möglich sein, wenn er bis dahin noch immer nichts über ihren Verbleib wusste? Er konnte es sich nicht vorstellen.

Ruhelos wanderte er wieder ins Wohnzimmer hinunter, schaltete die kleinen Lampen am Fenster ein. Auf dem Sofa lagen ein paar Zeitungen der letzten Tage. Ganz oben die von gestern. Er griff danach. Die Morde an den zwei kleinen Mädchen beherrschten die Schlagzeilen auf der ersten Seiten. Was gedenkt die Polizei zu tun?, wurde gefragt, und im Nachfolgenden mutmaßte der Verfasser des Artikels, dass es sich bei beiden Verbrechen aller Wahrscheinlichkeit nach um denselben Täter handelte. Beide Kinder, die vierjährige Sarah Alby und die achtjährige Rachel Cunningham, stammten aus King's Lynn. Beide waren am helllichten Tag verschwunden, ohne dass offenbar irgendjemand etwas bemerkt hatte. Beide waren sexuell missbraucht und anschließend erdrosselt worden. Beide hatte man an abgelegenen, aber mit einem Auto gut erreichbaren Orten gefunden. Die Bevölkerung sei zutiefst beunruhigt, hieß es, Eltern ließen ihre Kinder nicht mehr allein auf der Straße spielen, und es hätten sich bereits Fahrgemeinschaften gebildet, die sicherstellten, dass Kinder auf dem Schulweg keinen Schritt mehr ohne Aufsicht taten. Allgemein wurde der Ruf nach einer SoKo laut, die sich mit konzentriertester Kraft der Aufklärung dieser beiden entsetzlichen Verbrechen widmen sollte. Frederic wusste, dass Sonderkommissionen den ohnehin knappen Polizeietat erheblich belasteten, aber auch er fand, dass man in diesem Fall nicht länger zögern durfte. Er war Politiker genug, um auf Anhieb zu erkennen, wie sehr sich dieses brisante, hoch emotionale Thema für den Wahlkampf eignete.

Nur dass er im Augenblick ganz andere, eigene Sorgen hatte. Um sich abzulenken, vertiefte er sich in die Zeitungen, las sie von der ersten bis zur letzten Seite, selbst den Sportteil, der ihn gewöhnlich nicht besonders interessierte. Als allererstes graues Tageslicht zwischen den Vorhängen hindurch ins Zimmer sickerte, sank sein Kopf zurück auf die Sofalehne, und er schlief zutiefst erschöpft ein.

 

2

 

Ihr Gedächtnis war jetzt wieder klar und hellwach, aber Livia wusste nicht, ob sie diesen Umstand begrüßen sollte. Eigentlich wäre es ihr lieber gewesen, sich nicht so genau zu erinnern. Immer wieder stand ihr die Szene vor Augen, als Nathan sie über die Reling der Dandelion gestoßen hatte: über ihr der dunkle Nachthimmel, unter ihr die schwarzen Wellen des Meeres. Nathan, der brüllte: »Runter vom Schiff! Spring!«

Sie hatte das Gefühl gehabt, in den Tod zu springen. Sie hatte Wasser nie besonders gemocht, das Meer nicht, Schiffe schon gar nicht. Sie hatte schon immer schreckliche Angst gehabt zu ertrinken. Sie konnte sich nicht einmal Filme über Schiffsunglücke ansehen.

Und irgendwie wurde sie das Gefühl, dem Tod direkt ins Auge gesehen zu haben, von ihm bereits umarmt worden zu sein, nicht los. Sie wusste, dass sie lebte. Sie wusste es, seit sie es geschafft hatte, aus dem schwarzen, rauschenden, alles verschlingenden Meer in das Rettungsboot zu kriechen. Seit das Fischerboot aufgetaucht war und sie an Bord genommen hatte. Seit sie in Portree wieder festen Boden unter den Füßen gespürt hatte, gehüllt in eine Wolldecke, in der Hand eine Flasche Mineralwasser, die ihr irgendjemand gegeben hatte. Sie wusste auch jetzt, dass sie lebte. Aber sie schaffte es nicht, den Gedanken an den Tod beiseite zu schieben. Er war immer noch da, dicht neben ihr. In Gestalt der schwarzen, gurgelnden Wellen.

Am frühen Morgen war der Arzt bei ihr gewesen und hatte ihr erklärt, dass man sie an diesem Tag entlassen würde.

»Körperlich sind Sie wiederhergestellt«, hatte er gesagt, »und dies zu erreichen war unsere Aufgabe. Mehr können wir jetzt nicht für Sie tun. Sie sollten sich aber unbedingt in psychotherapeutische Behandlung begeben. Mit einem Schock ist nicht zu spaßen.«

Sie hatte noch im Bett gefrühstückt, mehr als zwei Schlucke Kaffee und einen Löffel Marmelade jedoch nicht herunterbekommen. Ihre Zimmergenossinnen hatten einige Male versucht, sie in ein Gespräch zu verwickeln, aber sie hatte so getan, als verstehe sie nur schlecht Englisch und könne es noch schlechter sprechen, und so hatten die anderen schließlich aufgegeben. Sie aber hielt es in dem Zimmer nicht mehr aus. Sie stand auf, schleppte sich auf weichen Knien ins Bad, starrte das hohlwangige, bleiche Gespenst im Spiegel an. Entlassen! Das stellte sich der Arzt so einfach vor. Sie musste warten, bis Nathan vorbeikam, und nachdem er sich am Vortag nicht hatte blicken lassen, stieg von Minute zu Minute ihre Angst, er werde auch heute nicht auftauchen. Dann stand sie da, ohne ein Bett, aber auch ohne Geld und ohne eine Ahnung, wohin sie gehen sollte. Den höhnischen Blicken der beiden Weiber in ihrem Zimmer ausgesetzt, die sicher schon allmählich spannten, dass in ihrer Ehe etwas ganz und gar nicht stimmte.

Sie wusch sich oberflächlich. Ihre Haare waren schon ganz dunkel vor Fett, aber sie hatte kein Shampoo, und eigentlich waren fettige Haare ihr geringstes Problem. Sie schlich ins Zimmer zurück, kramte ihre Sachen aus dem Schrank. Virginia Quentins Sachen, korrigierte sie sich. Sie selbst besaß ja nichts mehr auf dieser Welt. Überhaupt nichts mehr.

Die Jeans und der Pullover hatten ihr recht gut gepasst, waren aber jetzt viel zu weit. Sie musste viel Gewicht verloren haben. Die Hose rutschte bedenklich tief auf ihre knochigen Hüften hinunter, und in dem Pullover hätte sie glatt eine zweite Person untergebracht. Sie musste aussehen wie eine Vogelscheuche.

Eine skelettierte Vogelscheuche, fügte sie in Gedanken hinzu. Immerhin hatte die Erinnerung an Virginia Quentin sie auf den Einfall gebracht, zu versuchen, die Telefonnummer ihrer Wohltäterin ausfindig zu machen und sich mit ihr in Verbindung zu setzen. Nur so konnte sie mit Nathan in Kontakt treten. Er musste sich um sie kümmern. Sie hoffte aus tiefstem Herzen, dass die Quentins im Telefonbuch standen oder bei der Auskunft registriert waren.

Sie packte ihre wenigen Habseligkeiten in die Segeltuchtasche, die Nathan im Schrank verstaut hatte, als er sie hier ablieferte. Was das betraf, hatte sie im Übrigen noch immer den einzigen Filmriss in ihrer Erinnerung an die vergangenen zwei Wochen: Sie wusste nicht, was auf Skye geschehen war, was Nathan veranlasst hatte, sie in ein Krankenhaus zu bringen. Auch von der Reise nach Norfolk und von der Aufnahme im Krankenhaus existierten für sie keine Bilder. Ihr abgemagerter Körper zeigte ihr jedoch, dass es womöglich unumgänglich für Nathan gewesen war, sie in eine Klinik zu bringen. Die Vorstellung, dass er nicht nur nach irgendeiner Möglichkeit gesucht hatte, sie bequem zu entsorgen, beruhigte sie.

Sie murmelte einen Abschiedsgruß in Richtung ihrer Zimmergenossinnen, der jedoch nicht erwidert wurde, dann trat sie hinaus auf den Gang. Im Schwesternzimmer war man erstaunt, dass sie so früh und so schnell gehen wollte, aber sie behauptete, ihr Mann erwarte sie bereits unten in der Eingangshalle. Sie dachte, wie gut es zumindest gewesen war, dass sie sich vor der Abreise in Deutschland für den Abschluss einer Reisekrankenversicherung stark gemacht hatte. Wenigstens die Kosten für ihren Krankenhausaufenthalt waren nun kein Problem.

In der Eingangshalle unten war es zu dieser frühen Stunde recht leer. Die Cafeteria hatte noch nicht geöffnet. Ein Mann, der den Zeitschriftenkiosk betrieb, rollte soeben ein weißes Drehgestell vor die Tür seines Ladens und begann die Tageszeitungen hineinzusortieren. Er gähnte ausgiebig und schien nicht mit besonderer Fröhlichkeit an die vor ihm liegenden Stunden zu denken.

Ein alter Mann im Morgenmantel stolperte, auf seine Gehhilfe gestützt, an den Auslagen einiger Geschäfte entlang, starrte in die Schaufensterscheiben, schien aber nicht wirklich an irgendetwas, das er dort sah, interessiert zu sein. Die triste Krankenhausatmosphäre, der sich Livia schon entronnen glaubte, als sie ihr Zimmer verließ, brach noch einmal mit geballter Wucht über sie herein. Sie kannte nur zu gut ihre gefährliche Neigung zu heftigen Depressionen. Sie musste möglichst rasch hier weg.

In einer Ecke entdeckte sie einen öffentlichen Fernsprecher, daneben lagen glücklicherweise auch etliche etwas ramponiert scheinende Telefonbücher. Sie stellte ihre Tasche ab, zog das erste Telefonbuch heran. Ihr war immer noch schwindelig, bei der kleinsten Bewegung brach ihr der Schweiß aus. Sie hatte zu lange gelegen und zu wenig gegessen. Ihr war klar, wenn Nathan sie nicht abholte, würde sie kaum hundert Meter weit kommen.

Und wohin sollte ich auch gehen?, dachte sie angstvoll.

Noch während sie entsetzt feststellte, dass es zahlreiche Quentins in King's Lynn und Umgebung gab, nahm sie aus den Augenwinkeln wahr, dass sich die automatische Schiebetür öffnete, die von der Eingangshalle ins Freie führte. Ohne besonderes Interesse und eher zufällig wandte sie den Kopf. Der Mann, der in Jeans und Pullover, ungekämmt und unrasiert, das Krankenhaus betrat, kam ihr sofort bekannt vor, aber ihr Gehirn brauchte ein paar Momente, um sich zu erinnern. Noch immer schien alles bei ihr langsamer zu laufen: ihre Bewegungen, ihr Denken, selbst ihr Fühlen. Aber dann begriff sie, klappte das Telefonbuch zu und versuchte, hinter dem Mann herzulaufen, der die Fahrstühle ansteuerte.

»Mr. Quentin!«, rief sie. »Mr. Quentin, warten Sie!«

Der Schwindel, der sie überfiel, war so heftig, dass sie sich an einer der Säulen in der Mitte der Halle festhalten musste.

»Mr. Quentin!«, krächzte sie noch einmal.

Gott sei Dank hatte er sie endlich gehört. Er blieb stehen, drehte sich um, sah sie an. Kam dann mit raschen Schritten auf sie zu.

»Mrs. Moor!«, sagte er überrascht. Er starrte sie an. »Lieber Himmel, Sie …« Er sprach nicht weiter. Sie wusste, dass sie zum Gotterbarmen aussah, sie konnte es in seinen Augen lesen.

»Wo ist Ihr Mann?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.« Sie hätte gern lauter gesprochen, denn sie merkte, dass Frederic Quentin sich sehr anstrengen musste, sie zu verstehen, aber sie war mittlerweile so entkräftet, dass sie nur noch flüstern konnte. »Ist er … ist er denn nicht bei Ihnen? Er sagte, dass er … bei Ihnen wohnt.«

»Das ist alles etwas kompliziert«, sagte Frederic. Sie war dankbar, dass er ihren Arm fasste, denn sie war dicht daran, einfach umzufallen.

»Hören Sie, ich glaube, wir sollten nach oben gehen und einen Arzt …«

»Nein!« Sie schüttelte den Kopf. Fast panisch wiederholte sie: »Nein! Ich will hier weg! Ich will hier weg! Der Arzt hat gesagt, dass ich gehen darf. Bitte helfen Sie mir, dass ich …«

»Okay, okay«, sagte er beschwichtigend, »es war nur ein Vorschlag. Wir verlassen jetzt das Krankenhaus, in Ordnung? Haben Sie Gepäck?«

Sie wies zu der Telefonzelle, wo ihre Tasche stand. »Ja. Diese Tasche.«

Er hielt weiterhin ihren Arm fest, als er mit ihr die Halle durchquerte und die Tasche hochnahm.

»Ich fürchte, in einem Cafe kippen Sie mir um«, sagte er. »Ich denke, wir fahren nach Ferndale. Zu mir nach Hause. Sind Sie einverstanden? Dort können Sie sich auf das Sofa legen, und irgendwo finde ich bestimmt noch ein paar Kreislauftropfen. Sind Sie ganz sicher, dass Sie hier weg dürfen?«

»Ja.«

Sie hatte den Eindruck, dass er ihr nicht recht glaubte, aber wenigstens versuchte er nicht, sie wieder nach oben zu schaffen, sondern steuerte die Tür ins Freie an.

»Mein Mann ist also nicht da?«, vergewisserte sie sich. »Er ist nicht bei Ihnen daheim?«

Frederics Lippen pressten sich zu einem Strich zusammen. Livia erkannte, dass er wütend war. Sehr wütend. »Nein«, sagte er, »er ist nicht da. Und, offen gestanden, hatte ich gehofft, von Ihnen zu erfahren, wo er sein könnte.«

 

Eineinhalb Stunden später war Livia nur noch ratlos. Körperlich ging es ihr besser, der schreckliche Schwindel war abgeflaut, der Schweiß auf ihrer Haut getrocknet. Sie saß am Tisch in der Küche von Ferndale House und trank ihre dritte Tasse Kaffee. Frederic hatte ihr ein Brot getoastet, an dem sie mit winzigen Bissen herumkaute. Sie konnte nicht schnell essen, da ihr sonst wieder übel wurde. Sie hatte aber eingesehen, dass sie irgendetwas zu sich nehmen musste.

Frederic hatte sich nicht gesetzt, er war, seine Kaffeetasse in der Hand, auf und ab gegangen. Er hatte ihr erzählt, wie er vergeblich in London am Bahnhof auf Virginia gewartet hatte und wie er sich schließlich am späten Abend noch auf den Weg nach King's Lynn gemacht hatte. Dass seine Tochter wie vereinbart bei dem Verwalterehepaar abgegeben worden war und dass Virginias Koffer fehlte. Dass ihr Auto fort war, dass er das Haus verriegelt vorgefunden hatte. Dass es keine Spur von Nathan Moor gab, der in den vergangenen Tagen hier gewohnt hatte.

»Ich habe heute in aller Frühe mit meiner Tochter gesprochen«, sagte er, »aber leider hat das nicht viel gebracht. Ihre Mutter hat ihr gesagt, dass sie zu mir nach London fahren wird und dass wir beide am Samstag wiederkommen werden. Sie haben zusammen ein paar Sachen eingepackt und sind dann hinüber zu den Walkers gegangen. Von Nathan Moor hat sich Kim im Wohnzimmer verabschiedet, er schaute sich irgendeine Sportsendung im Fernsehen an. Gegenüber Mrs. Walker hat meine Frau nur erwähnt, dass sie nun packen will. Das Angebot Mr. Walkers, sie zum Bahnhof zu fahren, lehnte sie ab. Es gab aber nicht den kleinsten Hinweis, dass sie nicht vorgehabt haben sollte, tatsächlich nach London aufzubrechen.«

Livia würgte den nächsten kleinen Bissen Brot hinunter. Es kam ihr vor, als sei ihr Magen verschlossen. Jeder kleine Krümel Nahrung musste sich mühsam und langsam seinen Weg bahnen.

»Ich verstehe das nicht«, sagte sie hilflos, »ich denke dauernd über den letzten Besuch meines Mannes im Krankenhaus nach. Das war vorgestern. Das Schlimme ist, dass es mir so schlecht ging. Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt alles wahrgenommen habe, was er sagte. Ich erinnere mich, dass er zum Schluss versprach, am nächsten Tag wiederzukommen. Aber das tat er nicht.«

»Fällt Ihnen sonst noch irgendetwas ein?«, fragte Frederic. Sie konnte spüren, dass er sie am liebsten geschüttelt hätte, um den Fluss ihrer Erinnerungen anzukurbeln, dass er sich nur mühsam beherrschte.

Er hat Angst, dachte sie, er hat richtig Angst um Virginia.

»Er … er sagte, dass ich am Freitag entlassen würde, und ich fragte, wohin wir dann gehen sollten. Er meinte, wir könnten für eine Weile hier wohnen … bei Ihnen.« Sie wagte nicht, ihn anzusehen. Es war demütigend. So schwerfällig sich ihr Gehirn bewegte, hatte sie doch längst begriffen, dass Frederic Quentin vom Aufkreuzen der Moors in King's Lynn alles andere als begeistert gewesen war, von der Einquartierung Nathan Moors in seinem Haus noch viel weniger. Dass er die Moors am liebsten schon oben auf Skye losgeworden wäre. Dass er die Gutmütigkeit seiner Frau gegenüber den schiffbrüchigen Habenichtsen verfluchte.

»Er hatte sich das Auto Ihrer Frau geliehen«, fuhr sie fort, »ja, das erwähnte er noch.«

»Er hat sich hier richtig heimisch gefühlt«, sagte Frederic zynisch, »wie schön!«

Sie legte das Brot auf den Teller zurück. Ausgeschlossen, dass sie noch einen Bissen herunterbekam. »Es … tut mir leid«, flüsterte sie.

Frederics Stimme nahm einen versöhnlicheren Klang an. »Sie können für das alles überhaupt nichts, Livia«, sagte er, »entschuldigen Sie, wenn mein Ton grob war. Es ist nur … ich mache mir größte Sorgen. Es passt nicht zu Virginia, einfach unterzutauchen und sich nicht mehr zu melden. Nicht einmal bei den Walkers hat sie angerufen, um sich nach Kim zu erkundigen oder ihr gute Nacht zu sagen. Das ist so absolut ungewöhnlich, dass ich …« Er sprach den Satz nicht zu Ende. Er stellte seine Tasse ab, trat auf den Tisch zu, stützte beide Arme auf und sah Livia eindringlich an.

»Ich muss wissen, was mit Ihrem Mann los ist, Livia«, sagte er, »und ich bitte Sie, ganz offen zu sein. Etwas stimmt doch hier nicht. Ihr Mann ist angeblich ein bekannter Schriftsteller. Trotzdem besitzt er keinen Penny. Sie beide sind deutsche Staatsbürger. Ihre Botschaft hier in England würde sofort für Sie sorgen, in erster Linie für Ihre Heimreise. Trotzdem kommt Ihr Mann nicht auf die Idee, sich dorthin zu wenden. Stattdessen klebt er wie eine Klette an meiner Familie. Meine Frau packt ihren Koffer für eine Reise zu mir nach London, kauft das Bahnticket und ist nun spurlos verschwunden. Mit ihr Ihr Mann Nathan Moor und das Auto. Livia, was, zum Teufel, geht hier vor?«

Er war sehr laut geworden am Ende. Livia zuckte zusammen.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie. Ihre Stimme schwankte. Sie musste aufpassen, dass sie nicht in Tränen ausbrach. »Ich weiß nicht, was hier vorgeht. Ich weiß nicht, wo mein Mann ist.«

»Sie sind seine Frau. Sie müssen ihn kennen. Sie müssen etwas über sein Leben wissen. Sie können nicht so ahnungslos sein, wie Sie jetzt tun!«

Sie zog die Schultern hoch, hätte sich am liebsten in sich selbst verkrochen. »Ich weiß nichts«, flüsterte sie.

Seine Lippen waren schmal und weiß vor Wut. »Das nehme ich Ihnen nicht ab, Livia. Sie wissen nicht, wo er jetzt gerade ist, das glaube ich Ihnen. Aber Sie können mir Informationen über ihn geben. Und zwar solche, die mir vielleicht dabei helfen, etwas über den Verbleib meiner Frau herauszufinden. Verdammt noch mal, Sie werden mir alles sagen, was Sie wissen. Das sind Sie Virginia schuldig nach allem, was sie für Sie getan hat!«

Sie begann zu zittern. »Er … er ist kein schlechter Mensch. Er würde … er würde Virginia nichts antun …«

Frederic lehnte sich noch weiter vor. »Aber?«

Ihre Stimme war nun kaum noch hörbar. »Aber es stimmt manches nicht, was er …«

»Was stimmt nicht?«

Sie fing an zu weinen. Das alles war ein Albtraum. Und er hatte nicht erst mit dem Untergang der Dandelion begonnen.

»Es stimmt nicht, dass er Schriftsteller ist. Das heißt, er schreibt schon, aber … aber es ist noch nie etwas veröffentlicht worden. Noch … noch nicht eine einzige Zeile.«

»Habe ich es mir doch gedacht. Wovon haben Sie gelebt in all den Jahren?«

»Von … von meinem Vater. Ich habe ihn versorgt. Dafür wohnten wir bei ihm und lebten von seiner Pension. Nathan schrieb, ich kümmerte mich um Haus und Garten.«

Frederic nickte grimmig. »Der Bestsellerautor! Ich hatte sofort ein dummes Gefühl. Ich wusste, dass mit diesem Mann etwas nicht in Ordnung ist.«

»Mein Vater starb im letzten Jahr. Ich erbte sein Haus, das allerdings noch mit einer hohen Hypothek belastet war. Zudem war es alt und verwohnt. Der Verkauf brachte nicht allzu viel Geld, aber es hätte gereicht, Nathan und mich für eine Weile über Wasser zu halten. Ich hatte gehofft, dass Nathan in dieser Zeit versuchen würde, eine Arbeit zu finden. Dass er endlich aufhören würde zu glauben, zum großen Schriftsteller berufen zu sein.«

»Aber so kam es nicht?«

Sie schüttelte den Kopf. Die Erinnerung an die trostlose Kälte jener Zeit breitete sich wieder in ihr aus. Ihr Flehen und Bitten. Ihre Versuche, eine Arbeit zu finden. Gleichzeitig die stetig wachsende Erkenntnis, dass er weg wollte. Dass er sich gar nicht bemühen würde, Livia und sich ein Heim, eine sichere Existenz zu schaffen.

»Nathan hat nie einen richtigen Beruf ausgeübt. Er hat Verschiedenes studiert: Anglistik, Germanistik, Geschichte … Was soll man damit anfangen? Aber er versuchte es auch gar nicht. Stattdessen kam er wieder auf die Weltumsegelung zu sprechen. Damit hatte er mir schon seit Jahren in den Ohren gelegen, aber es war immer klar gewesen, dass ich meinen Vater nicht allein lasse. Doch nun …«

»Und da setzte er Ihr ererbtes Geld in ein Schiff um?«

Sie nickte. »Was bedeutete, dass alles weg war. Wir hatten fast nichts mehr. Seine Idee war, dass wir uns in den Häfen mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten. Er wollte an seinem Buch arbeiten. Er sagte, das würde sein Durchbruch werden. Er müsse nur endlich weg aus der Enge. Das Haus, die Kleinstadt, mein Vater … all das habe ihn gelähmt.«

»Wie bequem«, sagte Frederic zynisch. »Es geht nichts über die Möglichkeit, andere für das eigene Scheitern verantwortlich zu machen.«

Sie wusste, dass er Recht hatte – und dass es doch komplizierter war. Sie dachte an das alte, düstere Haus mit den knarrenden Treppenstufen, dem muffigen Geruch zwischen den Wänden, der einfach nicht verschwinden wollte, den zugigen Fenstern, der mitten im eiskalten Winter immer wieder streikenden Heizung. An ihren halsstarrigen Vater, der so geizig geworden war, dass er sich weigerte, dringend notwendige Erneuerungen vornehmen zu lassen. Der es nicht einmal gestattete, die Wände zu streichen, um einen frischen Geruch und hellere Farben in die Räume zu bringen. Mit ihrem Vater zu leben war in den letzten Jahren eine Strafe gewesen. Die kleine Stadt, in der jeder jeden kannte, in der Tratsch und Klatsch blühten, in der jeder Schritt, jedes Wort der Mitmenschen beäugt und beurteilt wurde, musste jemanden, der das nicht gewöhnt war, in die Schwermut treiben. Sie hatte damit umgehen können. Sie war dort aufgewachsen, war beheimatet gewesen in dieser Enge. Was Nathan mit tödlich und lähmend bezeichnet hatte, war für sie doch zumindest vertraut gewesen. Und so sehr sie gelitten hatte damals nach dem Tod ihres Vaters, so sehr hatte sie auch verstanden, dass Nathan ganze Ozeane zwischen sich und den Ort hatte legen wollen, der zwölf Jahre lang sein Zuhause gewesen war.

Sie seufzte, verzweifelt, müde und ratlos. »Wir haben nichts mehr. Absolut nichts. Sie sagen, die deutsche Botschaft würde uns helfen, zurückzukehren. Aber wohin? Wir haben kein Haus, kein Geld, keine Arbeit. Nichts, nichts, nichts! Ich kann nur vermuten, dass Nathan sich deshalb so sehr an Sie und Ihre Familie klammert. Um ein Dach über dem Kopf zu haben. Weil er buchstäblich nicht weiß, wohin er sonst gehen soll.«

Frederic richtete sich auf, strich sich langsam die Haare zurück. »Mist«, sagte er, und zweifellos meinte er damit den Umstand, dass es ausgerechnet Virginia hatte sein müssen, die zum Opfer eines auf ganzer Linie gescheiterten Traumtänzers geworden war, »verdammter Mist. Ich möchte nur wissen, was Ihr Mann sich vorstellt. Dass er sich auf ewig hier hätte einnisten können? Oder hatte er irgendwelche Pläne, wie er seine missliche Situation in den Griff bekommen wollte?«

»Er meinte, dass es einen Schadensersatzanspruch …«

Frederic lachte. »So dumm kann er nicht sein. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden Sie überhaupt nie herausfinden, wer Sie da eigentlich in jener Nacht gerammt hat. Und sollte es Ihnen doch gelingen, können sich entsprechende Prozesse über Jahre hinziehen. Wie wollte er das denn durchhalten?«

Sie hob ihren Blick, sah Frederic an.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie, »ich weiß es wirklich nicht. Ich war sehr krank. Ich habe von den letzten Tagen überhaupt nichts mitbekommen. Ich weiß nicht, was geschehen ist in dieser Zeit. Ich weiß nicht, wo Nathan ist. Und ich weiß nicht, wo Ihre Frau ist. Ich schwöre Ihnen, ich habe keine Ahnung. Ich bitte Sie nur, mich nicht auf die Straße zu setzen. Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll.«

Der Blick, den er ihr zuwarf, war nicht verächtlich, aber ein stummes Seufzen spiegelte sich in ihm wieder. Vor dem Gefühl, sich bis in den Staub erniedrigt zu haben, schloss sie sekundenlang die Augen.

Aber wenigstens würde er sie nicht wegschicken.