Samstag, 19. August

 

1

 

Virginia Quentin hörte in den frühen Morgenstunden des neunzehnten August von dem Schiffsunglück, das sich nicht weit vor den äußeren Hebriden in der Nacht vom Donnerstag auf den Freitag ereignet hatte. Es gab einen kleinen Radiosender auf den Inseln, der Meldungen verbreitete, die hauptsächlich für die Inselbewohner interessant waren. Dabei ging es in erster Linie um das Wetter, dem hier oben, wo viele Menschen vom Fischfang lebten, eine entscheidende Bedeutung zukam. Natürlich wurden auch manchmal Katastrophen gemeldet; es hatte Fischer gegeben, die nicht zurückgekehrt waren, und schon manches Mal hatten die wilden, kalten Winterstürme, die über das Nordmeer herangebraust kamen, Dächer abgedeckt und einmal sogar eine Frau über die Klippen geweht. Was es noch nicht gegeben hatte, zumindest soweit Virginia wusste, war eine derartige Tragödie, die Ausländern zustieß.

Sie war in aller Frühe aufgestanden und zu ihrem Lauf über die Hochebene am Meer aufgebrochen. Sie liebte die Stille und Klarheit der ersten Morgenstunden; es bereitete ihr keine Probleme, ihr Bett noch vor sechs Uhr zu verlassen und sich an der Frische und Unberührtheit des beginnenden Tages zu berauschen. Auch daheim in Norfolk joggte sie frühmorgens, aber hier oben auf Skye war es ein ganz besonderes Erlebnis. Ein Glas mit eiskaltem Champagner konnte ihrer Ansicht nach nicht so belebend, so prickelnd, so besonders sein wie das Atmen des Windes, der über das Meer gestrichen kam.

 

Sie fand auch, dass sie hier oben mehr Ausdauer hatte als daheim, was sicherlich am Sauerstoffgehalt der sie umgebenden Luft lag. So oder so aber war sie gut in Form. Sie lief in langen, federnden Schritten, wiegte sich in ihren eigenen Rhythmus hinein, brachte ihren Körper und ihr Atmen in einen vollkommenen Gleichklang. Das Laufen am Morgen gehörte ihr ganz allein und war ihre Kraftquelle für den folgenden Tag. Sie hätte niemals einen anderen Menschen dabeihaben wollen. Sie genoss das Alleinsein, und sie genoss es in der wunderbaren Einsamkeit der Isle of Skye auf eine besondere Weise.

Daheim duschte sie und setzte sich dann, mit einem Handtuch um den Kopf, an den Tisch im Wohnzimmer und trank ihren Kaffee mit viel heißer Milch, hörte Radio dabei, fühlte Kraft und Ruhe in ihrem Körper und sagte sich, dass ihre Ehe mit Frederic zwar in mancher Hinsicht langweilig sein mochte, ihr aber zwei wundervolle Geschenke eingebracht hatte: ihre siebenjährige Tochter Kim und dieses Häuschen in Dunvegan.

Sie hatte sich ihren Gedanken hingegeben und das Radio nur als Hintergrundgeräusch wahrgenommen, aber sie horchte auf, als der Sprecher von dem Unglück berichtete, das einem deutschen Ehepaar zugestoßen war. Mitten in der Nacht waren sie von einem Frachter, in dessen Fahrrinne sie sich befunden hatten, buchstäblich überrollt worden, nachdem offensichtlich eine Verkettung unglücklicher Geschehnisse ein Ausweichmanöver verhindert hatte. Von dem kleinen Segelschiff gab es keine Spur mehr, seine Einzelteile ruhten auf dem Grund des hier überall sehr tiefen Meeres. Den Namen des Frachters, der das Unglück verursacht hatte, oder auch nur seine Nationalität kannte niemand. Der Skipper des Segelschiffs konnte keine Angaben zu seiner Position zum Zeitpunkt des Unglücks geben. Fischer hatten die im Wasser treibende Rettungsinsel gesichtet und das Ehepaar aufgenommen. Die junge Frau, so wurde berichtet, stehe unter Schock. Beide seien unterkühlt, nachdem sie, aus dem kalten Wasser kommend, fast zwölf Stunden in der Rettungsinsel hatten ausharren müssen. Man hatte sie zu einem Arzt gebracht. Seit dem gestrigen Tag seien sie in einem Bed&Breakfast-Hotel nahe Portree untergebracht.

»Also, das werden doch nicht …«, sagte Virginia zu sich selbst, sprach den Satz aber nicht zu Ende. Wie viele deutsche Ehepaare, die in einem Segelboot auf Weltreise waren, gab es derzeit auf den Hebriden?

Sie vernahm Frederics Schritte auf der Treppe, stand automatisch auf, holte eine zweite Tasse, füllte sie mit Kaffee und Milch. In den Ferien leisteten sie sich den Luxus, den Morgen mit Kaffee und Geplauder zu vertrödeln. Sie redeten über das Wetter, über irgendwelche Neuigkeiten aus dem Dorf, manchmal auch über Bekannte oder Verwandte. Sie gingen vorsichtig miteinander um und mieden ihre Beziehung als Gesprächsthema, ohne dass es dafür einen ersichtlichen Grund gegeben hätte. Gerade an diesen Urlaubsmorgen, aber manchmal auch daheim in Norfolk, konnte Virginia plötzlich von einem Gefühl des Friedens und der Dankbarkeit durchströmt werden, wenn sie sich selbst betrachtete, zusammen mit Frederic, die kleine Kim, die so hübsch und so liebenswert war, dieses Leben ohne materielle Sorgen in einer geordneten, überschaubaren Welt, die enge Grenzen haben mochte, aber dafür ohne Gefahren, Ängste und Dämonen war. Es gab ein paar wenige Momente, in denen Virginia das sichere Gefühl, dass ihre Welt nicht völlig real war, als beklemmend empfand, aber es waren tatsächlich nur Momente, Augenblicke, die schnell vergingen.

Frederic kam zur Tür herein. Daheim sah sie ihn fast nur in Anzug und Krawatte, aber sie mochte es besonders, wenn er so aussah wie jetzt, in Jeans und grauem Rollkragenpullover, ausgeschlafen und entspannt, ohne den etwas verbissenen Zug um den Mund, den er sonst oft trug, weil ihn sein Beruf und alle seine Karrierepläne stets etwas überanstrengten.

»Guten Morgen«, sagte er und fügte, obwohl die Antwort klar war, die Frage hinzu: »Du bist schon gelaufen heute früh?«

»Es war wunderbar. Wie leben andere Menschen, ohne sich richtig zu bewegen?« Sie reichte ihm seine Kaffeetasse, er setzte sich und nahm den ersten Schluck.

»Nur noch heute«, sagte er, »dann müssen wir zurück. Oder möchtest du mit Kim noch ein wenig bleiben?«

Es waren noch zwei Wochen, bis die Schule begann. Und sie liebte es, hier oben zu sein. Auch Kim liebte es. Dennoch schüttelte Virginia den Kopf.

»Wir kommen mit. Glaubst du etwa, ich lasse dich allein?«

Er lächelte. Er war so oder so viel allein, zumindest war er ohne seine Familie. Er verließ das Haus morgens um halb acht. Oft kam er nicht vor zehn oder halb elf am Abend zurück. Tagelang hielt er sich in London auf, wo sich seine Bank befand. In Norfolk war er eigentlich nur, wenn es die politische Arbeit in seinem Wahlkreis erforderte. Seine Tochter sah er manchmal die ganze Woche über nicht. Seine Frau im Vorbeilaufen oder abends, wenn sie auf ihn gewartet hatte und noch zehn Minuten mit ihm plauderte, ehe er todmüde ins Bett fiel.

Es war nicht so, dass er diesen Zustand besonders geschätzt hätte. Und bis vor zwei Jahren war es auch ganz anders gewesen. Da hatten Virginia und Kim noch bei ihm in London gelebt, und er hatte sich viel mehr als Teil einer Familie gefühlt als derzeit. Nicht dass Virginia die elegante Wohnung in South Kensington häufig verlassen hatte, um etwas mit ihm zu unternehmen. Er kannte sie nur als einen Menschen, der zum Rückzug neigte, dazu, sich gegen die Außenwelt abzuschirmen. Weniger aus Angst, wie ihm schien. Nach seinem Eindruck hatte es etwas mit der Melancholie zu tun, die fast immer über ihr lag, mal stärker, fast an eine Depression grenzend, dann auch wieder schwächer. Sie hatte diese Krankheit – Frederic bezeichnete es insgeheim als Krankheit – offensichtlich besser im Griff, wenn sie allein war. Dass sie schließlich beschlossen hatte, in das ziemlich düstere, alte Herrenhaus der Quentins in Norfolk umzuziehen, war ihm geradezu folgerichtig erschienen, hatte aber in der speziellen Art von Familienleben resultiert, die sie nun führten.

Sie hatte ihm gegenüber Platz genommen. Ihre Wangen waren noch rosig von der frischen, kühlen Morgenluft.

»Du erinnerst dich bestimmt an diese junge Frau aus Deutschland, die uns hier in der letzten Woche ein bisschen in Haus und Garten geholfen hat«, sagte sie. »Livia. So hieß sie.«

Er nickte. Er erinnerte sich, auch wenn er schon jetzt das Gesicht dieser Livia kaum wiedererkannt hätte. Eine gänzlich farblose Frau, unauffällig und verhuscht.

»Ja. Ich erinnere mich. Die sind doch jetzt weitergezogen, oder?«

»Am Donnerstagabend wollten sie auslaufen. Und eben habe ich im Radio gehört, dass man ein deutsches Ehepaar aus dem Meer gefischt hat. Sie trieben in einem Rettungsboot, nicht allzu weit von der Küste entfernt. Ihr Schiff ist von einem Frachter gerammt worden und gesunken.«

»Guter Gott. Dann haben sie aber Glück, dass sie mit dem Leben davongekommen sind. Und du meinst, dass es sich um diese … diese Livia handelt?«

»Sie haben im Radio keinen Namen genannt. Aber ich denke, sie könnten es sein. Der Zeitablauf würde stimmen. Und ich habe sonst keine Deutschen auf der Insel getroffen.«

»Das heißt aber noch nichts. Es gibt hier etliche Menschen, die wir nicht treffen.«

»Trotzdem. Ich habe so ein Gefühl. Ich glaube, sie sind es.«

»Na ja – wollten sie nicht die Welt umsegeln? Damit dürfte es ja nun vorbei sein.«

»Livia hatte erzählt, dass sie alles, was sie hatten, verkauft haben für das Schiff. Das bedeutet, sie dürften kaum mehr etwas besitzen als die Kleider, die sie am Leib tragen.«

»Dann waren sie hoffentlich gut versichert. Wenn ein Frachter über das Schiff gerollt ist, dann besteht es nur noch aus Einzelteilen.«

Virginia nickte. »Sie sind in Portree in einem Bed&Breakfast vorläufig untergebracht. Ich dachte, ich schaue mal nach ihnen. Sicher können sie ein wenig Aufmunterung gebrauchen.«

Die Leute waren ihm völlig egal, abgesehen davon, dass er nicht begriff, wie man es schön finden konnte, um die Welt zu segeln und monatelang auf einem engen Boot zu hausen, und davon, dass er es dumm fand, allen Besitz zu veräußern, um sich ein Schiff zu kaufen, aber plötzlich beschlich ihn ein mulmiges Gefühl. Es war eine Intuition. Eine Witterung.

»Ich weiß nicht«, meinte er, »vielleicht solltest du sie nicht aufsuchen.«

»Warum nicht?«

»Weil … weißt du, vielleicht waren sie nicht versichert, und …« Er ließ den Satz in der Schwebe.

Sie sah ihn verständnislos an. »Ja, und?«

»Bei der Versicherung sparen die Leute. Das ist allgemein so. Die Pflichtversicherung, die für die Schäden aufkommt, die sie anderen zufügen, schließen sie natürlich ab, aber dann hoffen sie, dass ihnen selbst nichts passiert, und schenken sich den Rest. Dieses Ehepaar steht jetzt womöglich vor dem totalen Nichts. Vielleicht haben sie keinen einzigen Penny mehr, kein Haus, nichts. Sie werden einen Schadensersatzprozess anstrengen, aber …«

»Man weiß offenbar nicht mal den Namen des Frachters«, sagte Virginia, »und auch nicht seine Nationalität.«

Er seufzte. »Siehst du. Noch schlimmer. Die wissen nicht einmal, gegen wen sie klagen können. Also, falls die überhaupt je entschädigt werden, kann das Jahre dauern.«

Virginia begriff immer noch nicht. »Ja, aber weshalb darf ich sie dann nicht besuchen?«

»Weil … weil du dann, oder besser gesagt: wir dann womöglich ihr einziger Strohhalm sind. Ehe du dich versiehst, haben wir sie am Hals. Die werden jetzt nach allem und jedem greifen, was Hilfe verspricht.«

»Die haben bestimmt Verwandte, die sich um sie kümmern werden. Drüben in Deutschland. Ich möchte ja Livia nur ein wenig trösten. Ich mochte sie. Und ich hatte den Eindruck, dass sie schon sowieso nicht besonders glücklich ist. Jetzt noch diese Geschichte …«

»Sei vorsichtig«, warnte er.

»Morgen reisen wir ohnehin ab.«

»Ja, aber die werden auch nicht hier bleiben.«

»Eben. Sie werden nach Deutschland zurückkehren.«

»Falls sie dort noch irgendeine Bleibe haben. Oder finden.«

Virginia lachte. »Du bist ein so hoffnungsloser Schwarzmaler! Ich denke, es gehört sich einfach, dass ich Livia aufsuche. Vielleicht kann ich ihr auch etwas zum Anziehen von mir mitbringen. Wir haben ungefähr die gleiche Größe.«

Er würde sie nicht hindern können, das spürte er. Vielleicht stellte er sich auch wirklich gar zu pessimistisch an. Er wusste, dass er eine ausgeprägte Neigung hatte, die Welt schlecht und feindselig zu sehen, ohne sie allerdings deswegen zu fürchten. Er verstand es durchaus, den Stier bei den Hörnern zu packen. Aber dazu musste man auch genau wissen, wo sich die Hörner befanden. Virginia machte sich da womöglich manchmal etwas vor.

Egal. In einem Punkt hatte sie schließlich Recht: Morgen reisten sie ohnehin ab.

 

2

 

Es war nicht schwierig, herauszufinden, wo man das deutsche Ehepaar, das von dem großen Unglück heimgesucht worden war, untergebracht hatte. Der Schiffsuntergang war in aller Munde, und jeder wusste über jedes Detail Bescheid.

Sie fragte beim Gemischtwarenhändler am Hafen von Portree, und der konnte ihr auch sofort die gewünschte Auskunft geben.

»Bei den O'Brians sind sie! Guter Gott, was für ein Pech, oder? Ich meine, es ist schließlich gar nicht so einfach, auf dem Meer mit einem anderen Schiff zu kollidieren. Da muss schon viel zusammengekommen sein. Mrs. O'Brian war vorhin hier, um einzukaufen, und sie erzählte, die junge Frau stehe völlig unter Schock. Stellen Sie sich mal vor, die besitzt auf der ganzen Welt nichts mehr als ihren Schlafanzug! Ihren Schlafanzug! Das ist doch wirklich verdammt hart!«

Virginia wusste, dass der Gemischtwarenhändler heute jedem seiner Kunden von diesem bedauernswerten Umstand aus dem Leben der jungen Deutschen erzählen würde, und es war klar, dass auch Mrs. O'Brian alles, was sie von ihren Gästen mitbekam, gewissenhaft auf der ganzen Insel verbreiten würde. Plötzlich taten ihr die beiden auch noch in anderer Hinsicht als bisher leid. Nicht nur, dass sie etwas Schreckliches erlebt hatten, das ihnen vielleicht für den Rest ihres Lebens Alpträume bescheren würde; sie waren plötzlich völlig ausgeliefert und schutzlos: dem allgemeinen Mitleid ebenso preisgegeben wie der Sensationsgier.

Die O'Brians wohnten am Rande von Portree, und Virginia hätte sie zu Fuß erreichen können, aber sie hatte plötzlich keine Lust, auf den Straßen anderen Menschen zu begegnen und über die Schiffbrüchigen zu sprechen. Also nahm sie den Wagen. Wenige Minuten später parkte sie vor dem malerischen Backsteinhaus mit der rot lackierten Haustür und den weißen Fensterkreuzen. Mrs. O'Brian war eine leidenschaftliche Gärtnerin. Selbst unter den schwierigen klimatischen Bedingungen der Hebriden hatte sie es geschafft, einen Neid erregend üppigen Blumengarten vor ihr Haus zu zaubern. Virginia ging zwischen rostfarbenen Astern und leuchtend bunten Gladiolen entlang. Der Herbst kündigte sein Kommen unübersehbar an. Hier oben brach er früh herein. Ende September musste man schon mit den ersten großen Stürmen rechnen, und dann kam der Nebel, der Monate lang über den Inseln liegen würde. Virginia fand diese Stimmung reizvoll, was aber vielleicht daran lag, dass sie nicht hier lebte und den kalten, grauen Winter nicht, so wie die Bewohner der Insel, von Oktober bis April ertragen musste. Ein einziges Mal hatte sie Frederic überreden können, das Weihnachtsfest und den Jahreswechsel im Ferienhaus zu verbringen, aber er hatte es schrecklich gefunden und sie gebeten, ihm dies nie wieder anzutun.

»Es gibt nicht viel auf dieser Welt, was mich in Depressionen treiben könnte«, hatte er gesagt, »aber dem Winter auf Skye könnte es durchaus gelingen.«

Schade, dachte sie nun, ich würde gern noch einmal im November oder Dezember hierher kommen.

Auf ihr mehrfaches Klopfen an der Tür reagierte niemand, und so öffnete sie sich schließlich selbst und trat in den schmalen Hausflur. Dies war auf der Insel durchaus üblich. Niemand schloss seine Türen ab, und wenn ein Besucher nicht gehört wurde, durfte er sich selbst einlassen. Man kannte einander gut genug, und nachdem schon Frederics Vater und sein Großvater mit ihren Familien in den Ferien hierher gekommen waren, galt die Familie Quentin als dazugehörig.

»Mrs. O'Brian!«, rief Virginia halblaut, aber sie bekam keine Antwort. Sie sah, dass die Küchentür am Ende des Ganges geschlossen war; vielleicht hielt sich Mrs. O'Brian dort auf und konnte sie nicht hören.

Aber als sie zögernd in die geräumige Küche mit dem Steinfußboden und den vielen blitzenden und blinkenden Kupfertöpfen an den Wänden trat, war es nicht die Hausfrau, die sie dort antraf. Dafür saß Livia am Tisch, eine große Tasse und ein Stövchen mit einer Kanne darauf vor sich. Die Tasse war leer, aber sie dachte offenbar nicht daran, sich etwas nachzuschenken. Teilnahmslos starrte sie auf die Tischplatte. Sie hob zwar den Kopf, als Virginia eintrat, aber in ihren Augen war keine Regung zu entdecken.

»Livia!«, sagte Virginia erschüttert. »Mein Gott, ich habe gehört, was Ihnen und Ihrem Mann zugestoßen ist! Da dachte ich …« Sie sprach nicht weiter, sondern ging stattdessen auf Livia zu und nahm sie in die Arme. »Ich musste einfach nach Ihnen sehen!«

Durch das Fenster konnte sie Mrs. O'Brian entdecken, die im Garten Wäsche aufhängte. Hoffentlich ließ sie sich noch eine Weile Zeit damit. Es war ihr lieber, mit Livia allein zu sein.

Sie setzte sich ihr gegenüber und betrachtete sie. Livia trug einen Morgenmantel, der offenbar Mrs. O'Brian gehörte; er war mit einem grellfarbenen Schottenmuster bedruckt und viel zu kurz. Mrs. O'Brian war ziemlich klein, während Livia groß, aber sehr mager war.

»Ich habe Ihnen etwas zum Anziehen mitgebracht«, sagte Virginia, »die Tasche ist draußen im Auto. Ich gebe sie Ihnen nachher. Wir haben ja ungefähr die gleiche Größe. Die Sachen von Mrs. O'Brian sind Ihnen jedenfalls eindeutig zu kurz.«

Livia, die bislang geschwiegen hatte, öffnete endlich den Mund. »Danke.«

»Das ist doch selbstverständlich. Ist der Tee in Ordnung? Dann sollten Sie noch etwas trinken. Das ist jetzt wichtig.«

Virginia wusste nicht genau, weshalb sie das sagte, aber heißer Tee erschien ihr in komplizierten Lebenssituationen immer wichtig. Sie holte auch für sich einen Becher, schenkte ihnen beiden ein, rührte ein wenig Zucker hinein. Livia war wie ersinnt. Im Augenblick schien man jeden Handgriff für sie tun zu müssen.

»Möchten Sie darüber sprechen?«, fragte Virginia.

Livia wirkte unschlüssig. »Es … es war so … schrecklich«, brachte sie nach einer Weile hervor. »Das … Wasser … Es war so kalt.«

»Ja. Ja, das kann ich mir vorstellen. Es tut mir so entsetzlich leid, dass Ihnen das passieren musste. Sie konnten … nichts retten?«

»Nichts. Gar nichts.«

»Aber Ihr Leben. Und das ist das Wichtigste.«

Livia nickte, aber sie wirkte dabei nicht überzeugt. »Wir … haben nichts mehr.«

Virginia wiederholte: »Sie haben Ihr Leben!« Doch gleichzeitig dachte sie, dass sich dies leicht dahinsagen ließ. Hätte sie selbst all ihr irdisches Hab und Gut verloren, könnte man sie mit dem Hinweis aufs nackte Überleben womöglich auch nicht trösten.

Frederic fiel ihr ein, und sie fragte vorsichtig: »Waren Sie … sind Sie versichert?«

Livia schüttelte langsam den Kopf. »Nicht … was unseren eigenen Schaden betrifft.« Sie sprach schleppend. Und plötzlich schaute sie an sich herab, an dem häßlichen, grellfarbenen Bademantel, und die Tränen schossen ihr in die Augen. »Ich hasse dieses Ding! Es ist so scheußlich! Ich hasse es, so etwas tragen zu müssen!«

Virginia wusste, dass es derzeit größere Probleme für Livia gab als die Kleiderfrage, aber sie verstand den Ausbruch dennoch. Der unschöne, viel zu kurze Bademantel stand für den ganzen gewaltigen Verlust, den sie erlitten hatte, für die Abhängigkeit, in die sie unvermittelt geraten war. Für die Armut und für den Umstand, auf die Mildtätigkeit fremder Menschen angewiesen zu sein.

»Ich hole Ihnen gleich meine Sachen«, sagte Virginia und wollte aufstehen, aber Livia rief fast panisch: »Nicht! Gehen Sie nicht weg!«

Virginia setzte sich wieder.

»Okay. Ich bleibe, solange Sie mögen. Ich kann die Tasche auch nachher holen.« Sie sah sich um. »Wo ist denn eigentlich Ihr Mann?«

»Oben. In unserem Zimmer. Er telefoniert mit einem Anwalt in Deutschland. Aber … wie will er jemanden verklagen? Wir wissen doch gar nicht, wer es war!«

»Vielleicht läßt sich das ja noch herausfinden. Sicher weiß die Küstenwache, wer hier zu welcher Zeit vorbeischippert. Ich kenne mich da nicht aus, aber … Geben Sie doch noch nicht auf, Livia! Ich verstehe, dass Sie jetzt nur verzweifelt und geschockt sind, aber …«

Livia unterbrach sie mit leiser Stimme: »Wir können nicht mal das hier bezahlen.« Sie machte eine Kopfbewegung zum Fenster, in Richtung Mrs. O'Brian. »Die möchte doch irgendwann Geld für das Zimmer. Und unser Essen. Und das Telefon. Ich meine«, sie begann schon wieder zu weinen, »ich habe Nathan gesagt, er soll nicht telefonieren, aber schon seit einer Stunde telefoniert er mit Gott und der Welt, und dann auch noch ins Ausland! Das ist doch verrückt! Mrs. O'Brian wird uns doch nichts schenken. Aber wir haben kein Geld! Absolut kein Geld!«

»Sie haben kein Bankkonto mehr in Deutschland?«

»Nathan hat alles aufgelöst. Er nannte das >die totale Freiheit< Ohne Geld zu sein und sich in den verschiedenen Häfen mit Gelegenheitsjobs durchzubringen. Er hat das Haus verkauft, das, in seinem baufälligen Zustand und dazu noch mit einer großen Hypothek belastet, aber nicht allzu viel eingebracht hat. Er hat die Konten geleert und dann das Schiff gekauft. Ich habe wenigstens noch durchgesetzt, dass wir unter der Adresse von Bekannten gemeldet bleiben und eine Krankenversicherung für Auslandsreisen abschließen. Aber ansonsten … Als finanzielle Reserve haben wir nur den Schmuck mitgenommen, den ich von meiner Mutter geerbt hatte. Der war ziemlich viel wert. Aber er liegt jetzt am Meeresgrund.«

»Vielleicht könnten Taucher …«

Livia wischte sich mit dem Handrücken über die verweinten Augen. »Das hat Nathan schon den Polizisten gefragt. Wir waren erst auf der Polizeiwache, wissen Sie, weil die Fischer gar nicht wußten, wohin sie mit uns sollten. Aber der Polizist hat nur gelacht. Wir kennen nicht einmal die genaue Stelle, wo die Dandelion gesunken ist, und dann ist wahrscheinlich alles weit verstreut, und der Meeresgrund ist auch noch felsig, voller Spalten und Schluchten … Er meinte, die Taucher finden sowieso nichts, aber uns kostet jeder Tag, den sie mit der Suche verbringen, ein Vermögen … Es wäre Wahnsinn, das zu tun …« Sie starrte Virginia trostlos an. »Es wäre Wahnsinn«, wiederholte sie.

Virginia dachte, dass Frederic an diesem Morgen tatsächlich eine gewisse Hellsichtigkeit bewiesen hatte, als er von der Versicherungsfrage gesprochen hatte. Ihr war es eigenartig vorgekommen, an Geld zu denken, wenn jemand gerade knapp mit dem Leben davongekommen war, aber nun, da sie diesem Häuflein Elend gegenübersaß, begriff sie, wie tiefgreifend tatsächlich auch die materielle Tragödie dieser Menschen war. Wie konnte man leben, wenn man nichts, gar nichts mehr auf der Welt besaß? Und kaum Hoffnung hatte, irgendetwas von dem Verlorenen zurückzubekommen.

Sie überlegte. »Haben Sie gar keine Verwandten? Eltern, Geschwister? Irgendjemand, der Ihnen unter die Arme greifen könnte, bis Sie sich … erholt haben?«

Livia schüttelte den Kopf. »Nathan hat seine Eltern ganz früh verloren. Angehörige gab es keine. Er ist in verschiedenen Heimen aufgewachsen. Und bei mir war nur noch mein Vater am Leben. Er ist dann vergangenes Jahr im September gestorben.« Sie lächelte ein wenig, es war ein trauriges, bitteres Lächeln. »Damit fing ja das Unglück auch irgendwie an …«

Virginia setzte an zu fragen, was genau sie damit meinte, doch da wurde die Küchentür geöffnet, und ein Mann trat ein. Sie dachte sofort, dass es Nathan sein musste. Er war tief gebräunt, wenn auch ein fahler Ton auf seiner Haut lag, der besonders bei den Lippen auffiel und der darauf hinwies, dass es diesem Mann nicht so gut ging, wie man auf den allerersten Blick meinen mochte. Er war groß, schlank und muskulös. Der typische Seefahrer. Bis auf das Gesicht. Eher ein Intellektueller, dachte sie.

»Livia, ich …«, begann er, dann sah er, dass Besuch da war. »Entschuldige«, fuhr er auf Englisch fort, »ich dachte, du bist allein.«

»Nathan, das ist Virginia Quentin«, sagte Livia, »die Dame, in deren Ferienhaus ich in der letzten Woche ausgeholfen habe. Virginia, das ist mein Mann Nathan.«

»Nathan Moor«, sagte Nathan und reichte Virginia die Hand. »Meine Frau hat viel von Ihnen erzählt.«

»Es tut mir sehr leid, was geschehen ist«, sagte Virginia, »wirklich, das ist ein schreckliches Unglück.«

»Ja, das ist es«, stimmte Nathan zu. Er wirkte angeschlagen, aber nicht so am Boden zerstört wie seine Frau. Manchmal, dachte Virginia, hängen derartige Eindrücke aber auch einfach mit Äußerlichkeiten zusammen. Livia sah auch deshalb so elend aus, weil sie in Mrs. O'Brians schrecklichem Morgenmantel steckte. Nathan trug offensichtlich seine eigenen Sachen, Jeans und einen Pullover. Sie waren zerknittert und angegriffen vom Salzwasser, aber sie passten, und sie gehörten zu ihm. Kleinigkeiten wie diese vermochten die Psyche eines Menschen durchaus zu stabilisieren.

»Was sagt der Anwalt?«, fragte Livia ihren Mann, aber sie machte nicht den Eindruck, als interessiere sie die Antwort wirklich. Zumindest schien sie nicht zu glauben, dass es eine Antwort sein könnte, die Zuversicht vermittelte.

»Er sagt, dass es schwierig werden wird«, antwortete Nathan denn auch mit verhaltenem Optimismus in der Stimme. »Vor allem, wenn es uns nicht gelingt, herauszufinden, welcher Frachter uns gerammt hat. Und dann müssen wir es noch beweisen.«

»Wie soll das denn gehen?«

»Ich werde versuchen, einen Weg zu finden. Aber gib mir ein bisschen Zeit. Ich bin auch erst gestern aus dem Wasser gefischt worden. Ich brauche einen Moment, um den Schock zu verarbeiten.« Er klang leise gereizt.

»Wenn ich irgendwie helfen kann …«, bot Virginia an.

»Das ist nett, sehr nett«, sagte Nathan, »ich wüßte jedoch nicht …« Er hob in einer hilflosen Geste beide Hände.

»Nathan, wir können hier nicht einfach wohnen bleiben«, drängte Livia. »Mrs. O'Brian wird Geld dafür haben wollen, und …«

»Das müssen wir vielleicht nicht gerade jetzt besprechen!«, fuhr er sie an. Virginia hatte plötzlich den Eindruck, dass sie störte. Seine desolate finanzielle Situation mochte Nathan sicher nicht vor einer Fremden offen legen.

Sie erhob sich rasch. »Ich muss sowieso noch einiges erledigen. Livia, ich bringe Ihnen rasch die Kleider, dann bin ich weg.«

Auf dem Weg hinaus zu ihrem Auto kam ihr ein Einfall. Zwar war sie nicht sicher, was Frederic davon halten würde – genau genommen war sie ziemlich sicher, dass er nichts davon halten würde –, aber sie beschloss, Frederic für den Moment beiseite zu schieben.

Als sie in die Küche zurückkehrte, redete Nathan gerade schnell und, wie es Virginia schien, ungeduldig, ja fast aggressiv auf seine Frau ein. Da er jedoch deutsch sprach, konnte sie nicht verstehen, worum es ging.

»Mir ist da gerade ein Gedanke gekommen«, sagte sie und tat so, als habe sie nichts von der gereizten Stimmung gemerkt. »Wissen Sie, mein Mann und ich reisen morgen ab. Nach Hause. Unser Haus drüben in Dunvegan steht dann leer. Warum wohnen Sie nicht dort, solange Sie hier bleiben und Ihre … Ihre Angelegenheiten regeln müssen?«

»Das können wir nicht annehmen«, erwiderte Nathan, »und wir können tatsächlich nichts zahlen.«

»Ich weiß. Aber Sie könnten sich im Gegenzug ein wenig um Haus und Garten kümmern. Wir finden es immer beruhigend, wenn jemand dort wohnt. Wirklich, wir fragen auch oft Freunde oder Bekannte, ob sie nicht ein bisschen Zeit hier oben verbringen möchten.«

Er lächelte. »Das ist sehr freundlich, Mrs. Quentin. Aber Freunde und Bekannte sind etwas anderes. Wir sind Ihnen im Grunde wildfremd, gestrandete Schiffbrüchige … Fremde soll man nicht einlassen, das wissen Sie bestimmt.«

Sie ging auf seinen scherzhaften Ton nicht ein. »Überlegen Sie es sich. Zumindest Ihre Frau, Mr. Moor, ist mir nicht fremd. Aber es ist natürlich allein Ihre Entscheidung.«

Sie stellte die Tasche mit den Kleidungsstücken neben den Tisch.

»Wie gesagt, morgen sind wir weg«, wiederholte sie. »Sie müssten nur vorher wegen des Schlüssels vorbeikommen.«

Sie strich Livia über den Arm und nickte Nathan kurz zu, dann verließ sie die Küche. Sie hatte gesehen, dass Mrs. O'Brian draußen fertig war und auf das Haus zukam, und aus irgendeinem Grund hatte sie gerade keine Lust auf eine Begegnung. Vielleicht, weil sie sich plötzlich große Sorgen machte. Natürlich würden die Moors auf ihr Angebot eingehen, sie hatten gar keine Wahl. Aus Höflichkeit, aus Stolz zierten sie sich, aber vermutlich noch heute im Laufe des Tages, spätestens morgen in aller Frühe würden sie nach dem Schlüssel fragen.

Ehe du dich versiehst, haben wir sie am Hals, hatte Frederic gesagt.

Sie musste ihm beibringen, dass es nun tatsächlich so gekommen war.

Obwohl – konnte es ihn wirklich stören? Sie würden in Norfolk sein und ihren ganz normalen Alltag leben. Die Moors würden hier oben auf der Insel bleiben, eine Woche oder zwei Wochen vielleicht, und sehen, ob sie ihre desolate Situation klären konnten.

Das war alles. Kein Grund für Frederic, sich aufzuregen.

Dennoch hatte sie das sichere Gefühl, dass einiger Ärger auf sie zukam.

 

3

 

Frederic Quentin galt in seinem Freundes- und Bekanntenkreis als freundlich, aber schweigsam und manchmal sogar als ein wenig verschlossen, als ein Mann, der sich vorwiegend um seinen Beruf kümmerte und nicht allzu viel Zeit und Energie in sein Privatleben investierte. Wenige vermochten sich vorzustellen, dass er über sich, seine Frau und ihrer beider Beziehung zueinander überhaupt je nachdachte. Doch tatsächlich stellte er dann und wann Überlegungen an, und es war keineswegs so, dass ihn sein Familienleben nicht interessierte.

Er wusste, dass er viel zu wenig Zeit mit seiner Frau und seiner Tochter verbrachte, und manchmal nahm er sich vor, sich mehr darum zu kümmern, dass Virginia nicht so häufig allein war, auch wenn sie selbst diesen Umstand offenbar als nicht unangenehm empfand. Es konnte nicht normal sein, wenn eine Frau vorwiegend in Gesellschaft ihrer siebenjährigen Tochter lebte, in der Einsamkeit eines viel zu großen Landhauses, das wiederum in einem riesigen Park lag, dessen hohe Bäume in die Zimmer zu wachsen und sie zu erdrücken schienen. Ferndale House, der Landsitz der Quentins in Norfolk, war sehr düster, und er war kaum der richtige Ort für eine sechsunddreißigjährige Frau, die eigentlich mitten im Leben hätte stehen sollen.

Frederic überlegte oft, dass er mehr Zeit und Energie darauf verwenden müsste, herauszufinden, was seine Frau so traurig stimmte, was sie häufig so bedrückt erscheinen ließ. Gespräche hätten ihr vielleicht geholfen, aber er war nicht sehr geübt darin, die komplizierte Seelenlage eines anderen Menschen zu ergründen. Eher verspürte er oft eine unbestimmte Furcht davor, sich in Regionen zu wagen, die ihm fremd waren und von denen er nicht wusste, was alles er dort finden würde. Manches wollte er einfach nicht wissen.

Und außerdem: Gerade jetzt hatte er einfach so schrecklich wenig Zeit.

Denn Frederic Quentin war entschlossen, sich ins Unterhaus wählen zu lassen, und er wusste, dass er gute Chancen hatte.

Die kleine, feine Privatbank, die sein Urgroßvater gegründet hatte und die er selbst heute mit großem Erfolg führte, sicherte ihm neben beträchtlichem Wohlstand auch den Kontakt zu einflussreichen und vermögenden Persönlichkeiten des Landes. Die Harold Quentin & Co. galt als beste Adresse für die Mitglieder der upper class, und Frederic Quentin hatte es immer verstanden, für seine Kunden nicht nur der zuverlässige, umsichtige Bankier zu sein, sondern auch der Freund, der zu großzügigen Festen in sein Landhaus einlud, der an Golfturnieren und Segelausflügen teilnahm, der Kontakte genau dort pflegte, wo sie ihm nützlich sein konnten. Er hatte sich ein erstklassiges Sprungbrett ins Parlament gebaut. Mit vierundvierzig Jahren war er dicht davor, sein Ziel zu verwirklichen.

Eine sich durch intensive Gespräche möglicherweise verschlechternde psychische Verfassung Virginias war das Letzte, was im Augenblick passieren durfte.

Was blieb, war das schlechte Gewissen seiner Frau gegenüber.

Als sie ihm beim Mittagessen erzählte, dass sie das schiffbrüchige deutsche Ehepaar in ihrem Ferienhaus einquartieren wollte, dass sie genau genommen dies mit den beiden bereits – von ihrer Seite aus sogar verbindlich – vereinbart hatte, wollte er sie schon verärgert fragen, was sie sich dabei denke, so einfach über ein Haus zu verfügen, das schließlich nicht ihr allein gehörte, und darüber hinaus genau das zu tun, was zu unterlassen er sie gebeten hatte. Aber er schluckte seine Verärgerung und die dazugehörende Bemerkung mit einiger Mühe hinunter.

Frauen, die zuviel allein sind, tun seltsame Dinge, dachte er resigniert, manche haben plötzlich zwanzig herrenlose Hunde im Haus, andere bieten schiffbrüchig gewordenen Fremden einen Unterschlupf an. Wahrscheinlich kann ich noch froh sein, dass ich daheim nicht ständig auf drogensüchtige Kids treffe, die sie irgendwo aufsammelt. Insgesamt komme ich noch immer ganz gut weg bei ihr.

»Sei trotzdem vorsichtig«, sagte er.

Sie sah ihn an. »Das sind nette Menschen. Wirklich.«

»Du kennst sie doch gar nicht.«

»Ich habe durchaus ein bisschen Menschenkenntnis.«

Er seufzte. »Das bestreite ich doch auch gar nicht. Aber … aus ihrer Situation heraus können die sich zu Zecken entwickeln. Egal, wie nett sie sind. Diesen Gedanken solltest du zumindest im Kopf behalten.«

Er hatte den Eindruck, dass auch sie seufzte, eigentlich unhörbar, eher an ihrer Mimik zu erkennen. »Sie ziehen – vielleicht – morgen hier ein. Wir reisen zum selben Zeitpunkt ab. Ich kann einfach das Problem nicht erkennen.«

»Ist das Schiff von den Leuten für immer weg?«, erkundigte sich Kim, die etwas unlustig in ihrem Spinat stocherte.

»Für immer«, sagte Frederic. »Die sind arm wie Kirchenmäuse.«

»Wie Kirchenmäuse?«, wunderte sich Kim.

»Das ist nur so ein Ausdruck«, erklärte Virginia. »Er soll besagen, dass diese Leute nichts mehr haben auf der Welt. Was sie aber nicht zu schlechten Menschen macht.«

»Oh, sie haben aber doch noch etwas«, sagte Frederic spitz, »und zwar eine kostenlose, unbefristete Unterkunft. Ich würde sagen, das ist gar nicht so schlecht!«

»Unbefristet! Wer sagt das denn? Lediglich solange sie hier sein müssen, um ihre Angelegenheiten zu klären, werden sie …«

»Virginia«, unterbrach Frederic, »manchmal bist du wirklich ein bisschen naiv. Hast du mit ihnen einen Termin vereinbart, wann sie hier wieder ausziehen müssen? Ihnen ein Datum genannt?«

»Natürlich nicht. Ich habe …«

»Dann ist ihr Aufenthalt in unserem Haus unbefristet. Und was die Klärung ihrer Angelegenheiten betrifft: Da gibt es nichts zu klären. Darin besteht ja ihr Schlamassel. Was das angeht, ist es gleichgültig, ob sie die Insel heute oder morgen oder in drei Monaten verlassen.«

Sie erwiderte nichts. Er fragte sich, ob sie ihn für kaltherzig hielt.

»Im Übrigen«, fügte er hinzu, »habt ihr auch schon das Problem gelöst, wovon sie eigentlich leben wollen? Deine neuen Freunde?«

Ihrer Miene sah er an, dass diese Frage wohl bislang nicht aufgetaucht war.

»Ich meine«, sagte er, »sie haben nun ein Dach über dem Kopf, aber sie müssen ja auch irgendetwas essen oder trinken. Unsere Vorratskammer gibt nicht allzu viel her. Du solltest dich also darauf gefasst machen, dass sie dich um Geld anpumpen werden. Sie haben gar keine andere Möglichkeit.«

»Es wird uns nicht ruinieren, ihnen ein bisschen Geld zu leihen«, sagte Virginia, »ich bin sicher, sie werden alles daransetzen, uns …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Ein Klopfen an der Haustür, nicht fordernd, aber durchaus deutlich, hatte sie unterbrochen.

»Das könnten sie sein«, sagte sie, »sie müssen ja den Schlüssel abholen.«

Frederic legte seine Gabel zur Seite und lehnte sich zurück. »Irgendwie habe ich keinen Appetit mehr«, sagte er.

Es waren tatsächlich Nathan und Livia, die vor der Tür standen. Livia sah viel besser aus als am Morgen. Sie trug Jeans und ein Sweatshirt von Virginia und hatte sich die Haare gewaschen und gekämmt. Sie wirkte noch immer verzweifelt, aber nicht mehr so völlig verloren. In der Hand hielt sie die Reisetasche, die Virginia mit Kleidungsstücken vollgepackt hatte.

»Sie sollen das alles behalten«, sagte Virginia, »nicht gleich wieder zurückgeben!«

Livia errötete tief und starrte auf den Boden.

»Es ist uns wirklich sehr unangenehm«, sagte Nathan, »aber … nun, wir wollten die Sachen nicht zurückgeben. Wir haben sie mitgebracht, weil … Ich meine, wäre es möglich, dass wir heute bereits hier einziehen? Es ist unverschämt von uns, wir zerstören Ihnen womöglich den letzten Ferientag, aber das Problem ist, dass wir Mrs. O'Brian einfach nicht bezahlen können, und eine weitere Nacht bei ihr …« Er sprach nicht weiter, deutete nur mit einem hilflosen Heben der Hände an, dass er keinen anderen Weg sah als den des demütigen Bittens bei Fremden.

Virginia empfand es beinahe als eine Schicksalsironie, mitzuerleben, wie schnell und präzise all die düsteren Prophezeiungen Frederics eintrafen. Zwar hatte er nicht ausdrücklich davon gesprochen, dass die Fremden früher als geplant einziehen würden, aber er hatte deutlich gemacht, dass er eine rasche Weiterentwicklung der Dinge fürchtete. Nun standen Nathan und Livia mit ihrem wenigen Hab und Gut vor der Tür – und wie hätte sie sie fortschicken sollen?

»Selbstverständlich können Sie heute schon einziehen«, sagte sie, »wie dumm von mir, dass ich nicht gleich daran gedacht habe …« Sie hatte natürlich daran gedacht, es Frederics wegen jedoch für besser gehalten, den Einzug der Fremden auf die Zeit nach ihrer eigenen Abreise zu legen.

Nathan schien ihre Gedanken lesen zu können. »Ist denn Ihr Mann auch damit einverstanden?«, fragte er.

»Machen Sie sich da keine Sorgen«, wich sie aus, hatte aber das Gefühl, dass der Fremde längst wusste, dass es von Seiten Mr. Quentins Schwierigkeiten gab.

Livia schien das auch zu spüren und sah aus, als werde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Virginia ergriff ihren Arm und zog sie rasch ins Haus herein.

»Ich zeige Ihnen jetzt erst einmal Ihr Zimmer«, sagte sie.

Es gab ein geräumiges Gästezimmer im ersten Stock, aber es lag gleich neben Frederics und Virginias Schlafzimmer, und auch das Bad musste man sich teilen. Virginia konnte sich Frederics Gemaule nur zu gut vorstellen. Sie fühlte sich, als sei sie unversehens zwischen zwei Mühlsteine geraten.

Nur ein halber Tag und eine Nacht, dachte sie, wäre die Zeit bloß erst vorüber!

Sie merkte, dass sie Kopfschmerzen bekam, als sie hinunterging, um Frederic davon in Kenntnis zu setzen, dass die beiden Fremden soeben im Stockwerk über ihm einzogen. Erwartungsgemäß reagierte er aggressiv.

»Das kann doch nicht wahr sein! Du hast sie wirklich hereingelassen? Und sie nisten sich gerade neben unserem Schlafzimmer ein?«

»Was hätte ich denn tun sollen? Frederic, diese Menschen …«

Er war aufgestanden und ging im Zimmer auf und ab. Sie sah, dass er sich bemühte, seine Wut unter Kontrolle zu bekommen. »Diese Menschen gehen uns nichts an! Ich finde es lobenswert, dass du offenbar deinen Hang zum Samaritertum entdeckt hast, aber du siehst jetzt, wohin das führt. Die Dinge entgleiten dir ja bereits. Jedenfalls läuft es schon jetzt nicht mehr nach Plan, und ich kann dir nur vorhersagen, dass es immer schlimmer werden wird!«

»Ich finde, wir sollten nicht …«, begann Virginia, führte den Satz aber nicht zu Ende. Denn Nathan betrat, gefolgt von Livia, das Wohnzimmer.

Es war von der ersten Sekunde an klar, dass Frederic und Nathan einander nicht leiden konnten, und Virginia hatte dabei den eigenartigen Eindruck, dass dies unabhängig war von der Situation, in die beide Männer geraten waren: die den einen zum Bittsteller und den anderen zum Gönner wider Willen gemacht hatte. Sie hätten einander auch auf einer Party oder bei einem Abendessen vorgestellt werden können, und sie hätten einander auch dort nicht ausstehen können. Vermutlich hätte keiner von ihnen sagen können, weshalb das so war. Es stimmte einfach nicht zwischen ihnen, und unter normalen Umständen wäre jeder nach einem kurzen, kühlen Gruß seines Wegs gezogen. So aber mussten sie sich die Hand reichen und es irgendwie miteinander aushalten.

»Es tut mir sehr leid für Sie, Mr. Moor«, sagte Frederic höflich, »und für Sie natürlich auch, Mrs. Moor.«

»Danke«, flüsterte Livia.

»Eine Verkettung sehr unglücklicher Umstände«, sagte Nathan, »die uns tragischerweise in eine absolute Katastrophe geführt hat. Es ist ein äußerst seltsames Gefühl, plötzlich ohne den geringsten irdischen Besitz auf dieser Welt zu stehen. «

»Um Situationen wie diese zu vermeiden, wurde das Versicherungswesen erfunden«, entgegnete Frederic, immer noch in seiner höflichsten Tonlage, aber sein Ärger war nur allzu deutlich spürbar.

Virginia hielt den Atem an.

In Nathans Augen meinte sie kurz aufflackernden Hass zu entdecken, aber er hatte sich unter Kontrolle. »Da haben Sie völlig Recht«, sagte er ebenso höflich wie zuvor Frederic, »und Sie können mir glauben, dass ich es mir bis an mein Lebensende nicht verzeihen werde, an dieser Stelle gespart zu haben. Es war leichtsinnig und verantwortungslos. Ich habe ein solches Unglück nicht einkalkuliert.«

»Dass so etwas geschehen kann, übersteigt ja auch jedes normale Vorstellungsvermögen«, sagte Virginia rasch. Sie hoffte, dass Frederic nicht länger auf der Versicherungsfrage herumreiten würde. Nathan Moor konnte es in seiner Situation nicht auf einen Streit ankommen lassen, aber es war unnötig, ihn noch länger zu demütigen. Sie fand, dass er ohnehin gestraft genug war.

»Wie sehen denn Ihre nächsten Schritte aus, Mr. Moor?«, fragte Frederic. »Ich vermute, Sie werden nicht ewig hier auf Skye herumsitzen wollen?«

Der unausgesprochene Nachsatz und sich durch schnorren wollen stand mit schmerzhafter Deutlichkeit im Raum.

»Wir haben noch nicht allzu viel klären können«, antwortete Nathan, »aber das Wichtigste wäre, die Identität des Frachters, der uns überrollte, herauszufinden. Nur dann haben wir eine vage Hoffnung auf Schadensersatz.«

»Den Frachter zu finden dürfte sich als höchst schwierig erweisen«, meinte Frederic. »Wenn Sie meine Meinung hören wollen …« Er zögerte.

»Natürlich würde mich Ihre Meinung interessieren«, sagte Nathan in eisiger Höflichkeit.

»Dann rate ich Ihnen, Ihre Zeit nicht hier auf der Insel zu verschwenden. Es bringt Sie nicht weiter. Es löst keines Ihrer Probleme. Sie sollten so rasch wie möglich nach Deutschland zurückkehren und zusehen, wieder in Ihrem alten Leben Fuß zu fassen. Es muss schließlich noch irgendwelche Verbindungen geben. Zu Ihrem früheren Beruf, beispielsweise. Als was haben Sie gearbeitet?«

Er verhört ihn regelrecht, dachte Virginia mit steigendem Unbehagen.

Sie spürte, dass auch Livia den Atem anhielt.

»Ich bin Schriftsteller«, sagte Nathan.

Frederic wirkte überrascht. »Schriftsteller?«

»Ja. Schriftsteller.«

»Und was haben Sie veröffentlicht?«

So kannst du nicht mit ihm sprechen, dachte Virginia.

»Mr. Quentin«, sagte Nathan, »Ihre Frau war so liebenswürdig, uns eine Unterkunft in diesem Haus anzubieten. Ich kann mich inzwischen allerdings nicht mehr des Eindrucks erwehren, dass dies offenbar ganz und gar nicht in Ihrem Sinn ist. Warum sagen Sie dann nicht einfach, dass wir gehen sollen? Es gibt kaum etwas, das wir packen müssten. In drei Minuten wären wir verschwunden.«

Virginia wusste, dass es Frederic mit jeder Faser danach verlangte, die Fremden wieder loszuwerden, aber dass ihn sein gutes Benehmen daran hindern würde, seine Frau derart bloßzustellen.

»Wenn meine Frau Ihnen eine Unterkunft in diesem Haus angeboten hat«, sagte er, »dann steht Ihnen diese Unterkunft selbstverständlich zu. Bitte betrachten Sie sich als unsere Gäste.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, erwiderte Nathan.

Wenn Blicke töten könnten, dachte Virginia, wäre keiner von beiden jetzt noch am Leben. Da sie Skye so sehr liebte, hatte sie noch nie zuvor die Abreise von dort herbeigesehnt, sie, im Gegenteil, stets gefürchtet.

Jetzt hoffte sie von ganzem Herzen, die nächsten zwanzig Stunden wären bereits vorüber und sie befänden sich schon auf der Brücke, die nach Lochalsh auf dem Festland führte.