Dienstag, 5. September
1
Es war kurz vor sechs Uhr am Morgen, als das Taxi die Auffahrt zu Ferndale House hochfuhr. Es regnete. Der Fahrer blendete die Lichter auf, gespenstisch anmutend tanzten sie den gewundenen Weg zwischen den dunklen, nassen Bäumen entlang.
Der Wagen hielt vor dem Haus, hinter dessen Fenstern noch alles dunkel war. Nirgends brannte eine Lampe. Nebel spannte sich wie ein feines Netz zwischen den Schornsteinen. Der Morgen erinnerte an den späten Herbst. Hätte nicht so viel Laub noch an den Baumästen gehangen, es hätte ein anbrechender Novembertag sein können.
Die Haustür öffnete sich, und Livia trat heraus. Sie trug Jeans und Turnschuhe und eine blaue Regenjacke. In der Hand die Tasche mit den Kleidungsstücken, die sie von Virginia bekommen hatte.
Der Fahrer stieg aus und öffnete ihr die hintere Wagentür. »Ich bin pünktlich«, sagte er stolz.
Livia nickte. »Ja. Danke schön.«
»Also, zum Bahnhof?«, vergewisserte er sich.
Sie nickte. »Zum Bahnhof.«
Er ließ den Motor wieder an, wendete das Auto.
»Und wohin soll's dann gehen?«, fragte er.
»Nach London.«
»Ich weiß aber nicht, ob so früh schon ein Zug fährt.«
»Das macht nichts. Ich warte, bis einer kommt.«
Sie fuhren die Auffahrt wieder hinunter. Der Fahrer hatte das Tor zum Park offen stehen lassen. Jenseits der Mauer traten die Bäume weiter auseinander, der Morgen wurde ein wenig heller. Aber der Nebel lag wie Blei über den Feldern, und die Luft war voller Regen.
»Kein schönes Reisewetter«, bemerkte der Fahrer. Er erhielt keine Antwort. Als er einen prüfenden Blick in den Rückspiegel warf, sah er, dass sein Fahrgast weinte.
Er schaltete das Radio ein, nahm die Lautstärke aber so weit zurück, dass nur er gerade noch die Nachrichten verfolgen konnte. Wenn er sich schon nicht unterhalten durfte, wollte er wenigstens eine Stimme hören.
Arme Frau. Wie ausgemergelt sie war und wie bedrückt sie schien. Nein, nicht bloß bedrückt. Er spähte noch einmal unauffällig nach hinten.
Verzweifelt. Richtig verzweifelt.
Armes Ding!
2
»Holst du mich auch nach der Schule ab, Mum?«, fragte Kim. Sie saß hinten im Auto, die Schultasche auf dem Schoß, und sah sehr blass und schmal aus.
Sie hatte wie Espenlaub gezittert, als Virginia und Nathan sie in der vergangenen Nacht in dem Baumhaus gefunden hatten; sie hatte Stunden dort verbracht, war völlig durchgefroren, übermüdet und verängstigt gewesen. Nathan hatte sie durch den Wald zurückgetragen, Virginia hatte ihm den Weg geleuchtet. Sie hatte sofort mit ihrer Tochter einen Arzt aufsuchen wollen, aber Nathan hatte gemeint, damit rege man das Kind nur noch mehr auf.
»Sie braucht heiße Milch mit Honig, ein warmes Bad und viel Ruhe«, hatte er geraten, und schließlich hatte sich Virginia seiner Ansicht angeschlossen. Sie war aufgewühlt bis in ihr Innerstes. Noch nie hatte sie ihre fröhliche, ausgeglichene Tochter in solch einem Zustand erlebt.
»Warum hast du dich dort versteckt?«, fragte sie, als die Kleine im Bett lag, einen dicken Schal um den Hals und warme Socken an den Füßen.
»Ich wollte mich nicht verstecken«, sagte Kim. »Ich wollte nur dort sein, und dann war es irgendwann dunkel, und da hab ich mich nicht mehr durch den Wald getraut.«
»Aber warum wolltest du dort sein? An einem regnerischen, kühlen Spätnachmittag? Bei so einem Wetter ist es doch gar nicht schön in einem Baumhaus!«
Kim hatte geschwiegen und den Kopf zur Seite gewandt.
»Ich weiß, dass du traurig warst, weil ich an deinem ersten Schultag nicht da war«, hatte Virginia gesagt, »und es tut mir entsetzlich leid, dass das passiert ist. Ich dachte nur … du bist immer so gern drüben bei Grace. Ich war wirklich überzeugt, du würdest mich nicht vermissen!«
Später, nachdem sie mit Frederic in London telefoniert hatte und als Kim endlich eingeschlafen war, hatte sie das Gleiche zu Nathan gesagt. Sie traf ihn in der Küche an, wo er am Kühlschrank stand und ein Glas Milch trank. Er sah angegriffen aus. Sie wusste, dass er lange mit Livia gesprochen hatte.
»Klar ist sie immer gern bei Grace«, hatte er gesagt, »aber diesmal war die Situation nicht wie sonst. Du warst nicht einfach nur weg. Sie hat mitbekommen, dass die Erwachsenen, allen voran ihr Vater, nicht wussten, wo du steckst. Kinder haben feine Antennen. Dass da im Augenblick etwas zusammenbricht zwischen ihren Eltern, weiß sie zwar noch nicht, aber das Beben der Erde spürt sie durchaus. Es kommt etwas Bedrohliches auf sie zu, und deshalb ist sie in dieses Baumhaus geflüchtet.«
Virginia hatte sich an den Küchentisch gesetzt, den Kopf in beide Hände gestützt. »Wir machen so viel kaputt«, flüsterte sie, »wir richten so viel Zerstörung an!«
»Das war uns bewusst«, sagte Nathan.
Sie sah ihn an. »Du hast mit Livia gesprochen?«
»Ich habe es versucht.«
»Versucht?«
»Sie weint die ganze Zeit nur. An ein Gespräch war im Grunde gar nicht zu denken. Zwischendurch fängt sie immer wieder mit dem Schiffsuntergang an. Dabei bricht sie dann fast zusammen. Alles, was ich ihr sonst sage, scheint sie gar nicht richtig wahrzunehmen.«
»Sie ist völlig traumatisiert. Und jetzt auch noch das …«
»Ja«, sagte Nathan, »jetzt auch noch das...«
Er hatte sich ihr gegenüber an den Tisch gesetzt und ihre beiden Hände in seine genommen. Es war Magie in dieser Berührung, genauso wie in den vergangenen Tagen in Dunvegan.
»Aber ich kann nicht zurück«, sagte sie, »ich kann nicht mehr von dir lassen.«
Er hatte nichts erwidert, sie nur angesehen. Ein einziges Licht brannte in der dunklen Küche. Sie hatten Stunde um Stunde so gesessen, schweigend, einander an den Händen haltend. Irgendwann waren sie ins Wohnzimmer gegangen, hatten sich eng aneinandergeschmiegt auf das Sofa gekuschelt und zu schlafen versucht. Sie steckten noch in ihren Kleidern, und es war schmal und unbequem, und bis auf ein gelegentliches Wegdämmern schliefen sie nicht wirklich. Aber es war eine Nacht, die Virginia wie verzaubert schien. Als sie am nächsten Morgen mit steifen Knochen und schmerzendem Rücken aufstand, waren ihre Schuldgefühle gegenüber Frederic und vor allem Kim nicht kleiner geworden, aber die Sicherheit, dass Nathan ihr einziger Weg war, hatte sich noch mehr verfestigt.
Nun saß sie im Auto, hatte soeben vor Kims Schule gehalten, und als Kim fragte, ob sie am Nachmittag von ihrer Mutter auch abgeholt würde, war sie kurz versucht, ihr eine rasche, beruhigende Antwort zu geben. Doch dann dachte sie, wie wichtig es war, dass sie inmitten dieser Situation nicht auch noch das Vertrauen beschädigte, das Kim ihr trotz allem entgegenbrachte.
»Ich weiß nicht, ob ich dich abholen kann«, sagte sie. »Daddy kommt gegen fünf Uhr mit dem Zug aus London. Ich werde ihn wahrscheinlich am Bahnhof abholen müssen. Er hat kein Auto dort stehen.«
Frederic hatte ihr noch in der Nacht angekündigt, zwecks Klärung der Situation so schnell wie möglich nach Ferndale zu kommen und am nächsten Tag gegen fünf Uhr in King's Lynn einzutreffen. Den Wunsch, ihn am Bahnhof erwarten zu dürfen, hatte er ihr sofort abgeschlagen, aber Virginia spielte mit dem Gedanken, es dennoch zu tun. Irgendwie erschien es ihr klüger, ihrer beider erste Begegnung auf neutralem Boden stattfinden zu lassen. Auch hätte sie das Gespräch mit ihm gerne in einem Cafe oder Restaurant geführt, nicht daheim im Wohnzimmer. Sie wusste selbst nicht genau, weshalb ihr dies leichter erschien. Vielleicht lag es an den Stunden und Tagen, die sie mit Nathan in Ferndale verbracht hatte. Das Haus atmete bereits ihrer beider Geschichte, obwohl es dort kein sexuelles Zusammensein zwischen ihnen gegeben hatte. Aber die vergangene Nacht wog für Virginia mehr als jede einzelne ihrer leidenschaftlichen Umarmungen auf Skye. In der vergangenen Nacht waren ihre Seelen verschmolzen. Sollte sie in wenigen Stunden auf demselben Sofa sitzen und mit Frederic reden?
»Aber wer holt mich dann ab?«, fragte Kim. Sie hatte bläuliche Schatten unter den Augen.
»Es wird ganz bestimmt jemand da sein«, versprach Virginia. »Vielleicht Grace, wenn es ihr besser geht. Vielleicht Jack, wenn er bis dahin zurück ist. Vielleicht …«
»Ja?«
»Vielleicht Nathan. Wäre dir das recht?«
Kim zögerte.
Virginia hakte nach. »Du magst Nathan doch, oder?«
»Er ist nett«, sagte Kim.
»Vielleicht holt er dich ab und geht mit dir irgendwo eine Schokolade trinken. Wie fändest du das?«
»Schön«, sagte Kim, aber sie klang nicht wirklich begeistert.
Virginia sah sie an. »Mein Kleines, ich … ich gehe nie wieder von dir weg. Das verspreche ich dir.«
Kim nickte. »Und Daddy?«
»Daddy muss manchmal nach London, das weißt du ja.«
»Aber er kommt dann immer wieder zu uns zurück?«, vergewisserte sich Kim.
»Du verlierst ihn nicht«, sagte Virginia, und dann schaute sie rasch zur Seite, weil ihr die Tränen in die Augen schossen.
Gott verzeihe mir, murmelte sie lautlos.
3
»Sie ist weg, und sie hat mein Geld genommen«, sagte Nathan. Er sah wütend aus, blass unter seiner Bräune. »Ich meine, das Geld, das du mir geliehen hast. Sie hat zehn Pfund zurückgelassen, aber mit dem Rest ist sie verschwunden.«
Virginia stand am Fuß der Treppe und starrte hinauf. »Livia ist weg?«
»Ihre Kleider – deine Kleider – hat sie auch mitgenommen. Sieht nach einer Abreise aus.«
»Die Kleider hatte ich ihr geschenkt. Das ist in Ordnung.«
Nathan kam die Stufen hinunter. »Ich vermute, sie versucht nach Deutschland zu reisen.«
»Ist das so seltsam?«, fragte Virginia. »Nach allem, was war? Ich verstehe, dass sie es hier nicht mehr aushält.«
»Ich stehe mit zehn Pfund da!«
»Nathan, das ist doch kein Problem! Du kannst jederzeit wieder Geld von mir haben.«
»Ich hatte gehofft, nichts mehr zu brauchen«, sagte er zornig. »Ich meine, es war ohnehin dein Geld, aber ich hoffte, dass es dabei nun bleibt! Kannst du dir vorstellen, wie …«
Er sprach nicht weiter, und sie legte ihm sanft die Hand auf den Arm. »Nathan … zwischen uns sollte das kein Thema sein.«
»Für mich ist es ein Thema. Ich bin dreiundvierzig Jahre alt. Ich stehe mit nichts in den Händen da, mit überhaupt nichts! Ich schnorre mich bei der Frau durch, die ich liebe. Verdammt, kannst du dir vorstellen, wie scheußlich ich mich dabei fühle?«
»Ich kann es mir vorstellen«, sagte Virginia.
Er war unten angelangt, strich sich die Haare aus der Stirn. Seine Bewegung war eher müde als wütend. »Wenn ich nur einen Weg sehen könnte! Ich weiß, dass ich schreiben werde. Ich weiß, dass ich Erfolg haben werde. Aber das ist nichts, was schnell gehen wird.«
»Aber irgendwann bist du am Ziel. Lass dir doch bis dahin von mir helfen.«
»Mir bleibt kaum etwas anderes übrig«, sagte Nathan. Virginia stellte erstaunt fest, dass er wirklich elend aussah. Offenbar hatte er tatsächlich vorgehabt, sie nicht um weiteres Geld zu bitten, wobei sie nicht wusste, wie er das hätte durchhalten wollen. Die Tatsache, dass Livia seine magere Barschaft hatte mitgehen lassen, schien ihn in eine echte Krise zu stürzen.
»Mir bleibt nichts anderes übrig«, wiederholte Nathan, »weil ich ja von irgendetwas leben muss. Und ich werde zunächst kaum hier in Ferndale bleiben können, so wie es aussieht.«
Sie sah ihn an. »Wieso?«, fragte sie begriffsstutzig.
Er lächelte, aber er wirkte nicht glücklich dabei. »Süße, dein Mann kommt heute. Schon vergessen? Ich meine, ich habe ja nichts gegen ihn, aber glaubst du, er kann wirklich gelassen damit umgehen, wenn ich im Wohnzimmer sitze und ihm einen Drink anbiete, sobald er hereinkommt?«
Sie wunderte sich, dass sie bislang nicht über das Problem nachgedacht hatte, wie sich ein Zusammentreffen zwischen Nathan und Frederic vermeiden ließe. Sie war wohl zu sehr in die Aufregung um Kim verstrickt gewesen.
»Das stimmt«, sagte sie, »du solltest besser nicht hier sein.«
»Ich werde mir irgendwo ein Bed & Breakfast suchen und mich dort einmieten. Ich müsste dich nur leider bitten …«
»Kein Problem. Ich bezahle das.«
»Du bekommst jeden Penny zurück. Das schwöre ich dir.«
»Wenn es dir damit besser geht …«
»Anders könnte ich es nicht ertragen«, betonte er.
Unschlüssig standen sie voreinander. »Ich weiß nicht, wie ich die nächsten Nächte ohne dich aushalten soll«, sagte Virginia leise.
»Wir haben noch unser ganzes Leben«, erwiderte er ebenso leise.
In schneller Folge zogen Bilder wie Momentaufnahmen vor Virginias innerem Auge vorüber: ein kleines Haus auf dem Land. Ein sonnendurchfluteter Garten. Sie und Nathan am Küchentisch, Becher mit starkem, schwarzem Kaffee vor sich. Sie diskutierten über sein neuestes Buch, leidenschaftlich, tief versunken, jenseits der Welt und doch nicht einsam, weil sie zusammen waren. Gemeinsame Nächte, ineinander verschlungen, einer den anderen spürend und atmend. Ein Glas Wein bei Sonnenuntergang. Stunden vor dem Kaminfeuer, während draußen Schneeflocken fielen und die Welt in vollkommene Schweigsamkeit hüllten. Spaziergänge, Hand in Hand, lachend und redend, oder in tiefer Übereinstimmung schweigend. Partys, Menschen, Musik, wortlose Verständigung mit den Augen.
Glück, Glück, Glück.
Sie würde es wiederfinden. Sie konnte seine Nähe schon spüren. Es war zum Greifen nah. Es stand bereits vor ihr, so dicht, dass es ihren Herzschlag zu beschleunigen vermochte.
Nathans Lippen waren in ihrem Haar. »Ich gehe dann jetzt«, sagte er.
»Jetzt schon? Frederic kommt erst am späten Nachmittag.«
»Trotzdem. Ich muss ein bisschen für mich sein. Vielleicht fahre ich ans Meer. Es ist so viel geschehen.«
»Du kannst mein Auto haben. Ich nehme dann das von Frederic.«
Er ballte die Hände zu Fäusten. »Eines Tages«, sagte er, »werde ich nicht mehr abhängig sein. Alles wird anders werden.«
»Natürlich.« Mach dich doch nicht so fertig deswegen, dachte sie.
Sie drückte ihm ihren Autoschlüssel in die Hand, kramte in ihrer Handtasche nach ein paar Geldscheinen. Dann fiel ihr noch etwas ein.
»Könntest du um fünf Uhr Kim von der Schule abholen? Grace ist, fürchte ich, noch zu krank, und Jack wird wohl noch nicht zurück sein. Ich beschreibe dir den Weg.«
»Kann ich machen. Klar.«
»Setze sie bei Grace ab. Ich will Frederic am Zug abholen und dann irgendwo mit ihm reden.«
»Ich hole Kim rechtzeitig ab. Keine Sorge.«
Sie nickte. Sie klammerte sich an den Worten Keine Sorge förmlich fest. Ein schwerer Tag lag vor ihnen. Schwere Wochen. Eine schwere Zeit.
»Nathan«, sagte sie, »wir schaffen das. Ganz sicher.«
Er lächelte erneut. Diesmal nicht bitter, sondern zärtlich.
»Ich liebe dich«, sagte er.
4
Grace fühlte sich nicht gesund, aber es ging ihr ein bisschen besser. Sie hatte den ganzen Tag im Bett gelegen, war nur gelegentlich aufgestanden, um zur Toilette zu gehen oder sich einen frischen Tee zu machen. Sie war noch recht wackelig auf den Beinen, aber nicht mehr so schwindelig wie am Tag zuvor.
Und auch ihre Knochen schmerzten schon weniger. Das Schlimmste hatte sie überstanden.
Jack hatte zweimal angerufen und gesagt, er werde bis zum frühen Abend zurück sein. Selten hatte sie ihm so entgegengefiebert. Er war ein ruppiger Mensch, aber er konnte recht fürsorglich sein, wenn es anderen schlecht ging. Sicher würde er ihr etwas Schönes kochen und ihr den Fernseher ins Schlafzimmer tragen, dann konnte sie gemütlich im Bett liegen und sich den Liebesfilm ansehen, der an diesem Abend gezeigt werden sollte.
Sie war so froh und erleichtert, dass Kim noch in der Nacht wohlbehalten in die Arme ihrer Mutter zurückgekehrt war. Sie hätte es sich nie verziehen, wenn dem Kind etwas zugestoßen wäre, nur weil sie eingeschlafen war, anstatt auf sie aufzupassen. Aber trotz ihrer Grippe und ihrer fast lähmenden Angst um Kim war ihr die Brisanz des Moments noch durchaus bewusst gewesen. Dass zwischen Virginia Quentin und dem gut aussehenden Deutschen etwas lief, war so spürbar, dass die beiden ihre Gefühle füreinander auch in roter Leuchtschrift auf ein Transparent hätten schreiben und vor sich hertragen können. Livia Moor hatte ein Gesicht gemacht, als werde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen. Schneeweiß war sie gewesen, und ihre Lippen hatten gezittert. Aber sie hatte auch Angst vor ihrem Mann, das hatte Grace begriffen. Obwohl er sie so offensichtlich betrog, wagte sie es nicht, ihm eine Szene zu machen. Er hatte ihr einen Blick zugeworfen, der sie verstummen ließ. Er behandelte sie wie ein Stück Dreck, voller Verachtung und ohne die geringste Rücksicht auf ihre Gefühle. Grace fragte sich, weshalb sich Virginia Quentin mit einem Mann einließ, der eine andere Frau so offenkundig schlecht behandelte. Merkte sie das nicht? Oder glaubte sie, Nathan Moor sei mit ihr zusammen ein neuer Mensch? Grace, die gern tratschte, hätte sich zu gern mit ihren Freundinnen über den Fall ausgetauscht, aber abgesehen davon, dass sie sich zu schlecht fühlte, gab es einen weit gewichtigeren Hinderungsgrund: Es gehörte zu Graces eisernen Prinzipien, dass sie über ihre Familie nicht klatschte. Da konnte sein, was wollte, über ihre Lippen würde kein Sterbenswörtchen kommen. Vom möglichen Ende des glücklichen Ehepaares Frederic und Virginia Quentin würden die Menschen in King's Lynn vielleicht durch die Regenbogenpresse erfahren, nichts jedoch von Grace Walker.
Es war vier Uhr. Grace stand im Bademantel am Fenster und blickte hinaus. Es regnete noch immer. Was für ein schrecklicher September das war in diesem Jahr! Keine spätsommerlichen Tage mit klarer, warmer Luft, blauem Himmel und leuchtend bunten Gärten. Nur Regen und Nebel. Novemberstimmung. Kein Wunder, dass sie sich diese heftige Erkältung zugezogen hatte! Grace hasste es, sich schwach und elend zu fühlen; in ihrer zupackenden, energischen Art fand sie kaum etwas so ärgerlich, wie hilflos und matt in der Ecke liegen und die Stunden des Tages vertrödeln zu müssen. Sie bewegte sich gern, liebte es, das Haus und den Garten in Ordnung zu halten, schöne Dinge zu kochen und zu backen, die Wäsche säuberlich zu bügeln und in die mit kleinen Lavendelsträußen versehenen Schubfächer der Schränke zu räumen. Sie sorgte gern für andere, kümmerte sich. Sie hätte es sich gut vorstellen können, mindestens sechs Kinder zu haben und ihnen eine fürsorgliche Mutter zu sein, aber am Anfang ihrer Ehe war das Geld immer so knapp und Jack ständig mit dem Lastwagen unterwegs gewesen. Sie hatten auf günstigere Lebensumstände gewartet, aber als sie dann tatsächlich günstiger wurden, war Grace schon Mitte vierzig gewesen und nicht mehr schwanger geworden. Oft dachte sie, dass ihre Kinderlosigkeit immer wie ein Schatten über ihrem ansonsten glücklichen Leben liegen würde. Wie gut, dass sie wenigstens eine Art Großmutter für die kleine Kim sein durfte!
Doch während sie hinaus in den verregneten Tag starrte und sich zum hundertsten Mal ihre ständig laufende Nase putzte, dachte sie plötzlich: Ob wohl alles so bleibt, wie es ist? Wenn sich Mr. und Mrs. Quentin trennen und Mrs. Quentin am Ende mit diesem Schönling auf und davon geht – dann nimmt sie Kim bestimmt mit! Das Kind bleibt doch immer bei der Mutter. Und Mr. Quentin verkauft dann vielleicht Ferndale House, er ist ja doch immer nur in London, was soll er dann mit einem Landsitz voll trauriger Erinnerungen?
Ihr wurde so schwer ums Herz, dass sie sich rasch auf das Sofa setzen und tief durchatmen musste. Jack meinte immer, man solle sich nicht wegen etwas aufregen, das noch gar nicht geschehen war.
»Am Ende kommt es ganz anders, und du hast jede Menge Kraft vergeudet«, pflegte er zu sagen. Oft hatte er damit Recht behalten.
Vielleicht sehe ich Gespenster, versuchte sich Grace zu trösten, aber ihr Herz ging trotzdem schneller, und am ganzen Körper brach ihr der Schweiß aus.
Mitten in diese trüben Gedanken hinein klingelte das Telefon.
Sie hoffte, es wäre Jack, der ihr sagen würde, er sei jeden Moment zu Hause; dann könnte sie ihm von ihren Ängsten berichten, und sicher fiele ihm eine beruhigende Antwort ein.
»Ja?«, sagte sie erwartungsvoll.
Es war jedoch der Deutsche, sie hörte es sogleich an seinem Akzent.
»Mrs. Walker, ich bin es, Nathan Moor. Der … Gast von Mrs. Quentin.«
»Ich weiß, wer Sie sind«, sagte Grace kühl.
»Ich bin hier in einer Telefonzelle in Hunstanton. Mein Wagen springt nicht an.«
Grace fiel keine schlauere Erwiderung ein als: »Was machen Sie denn bei diesem Wetter in Hunstanton?«
Er klang ein wenig ungeduldig. »Manche Leute gehen auch im Regen gern am Meer spazieren. Hören Sie, Mrs. Walker, das Problem ist, dass ich Virginia … dass ich Mrs. Quentin versprochen habe, Kim um fünf Uhr von der Schule abzuholen. Wie es aussieht, kann es aber länger dauern, bis ich das Auto in Gang bringe. Ich habe versucht, Mrs. Quentin telefonisch zu erreichen, aber sie geht nicht an den Apparat. Und bei ihrem Handy springt sofort die Mailbox an.«
»Mrs. Quentin ist vor einer halben Stunde hier vorbeigefahren. Soviel ich weiß, will sie ihren Ehemann«, Grace legte nachdrückliche Betonung auf das Wort Ehemann, »am Bahnhof abholen.«
»Mist!«, sagte Nathan.
»Offenbar hat sie ihr Handy nicht eingeschaltet«, sagte Grace, die es ein wenig genoss, Nathan Moor hilflos und von seiner Geliebten abgeschnitten zu erleben. Obwohl sie natürlich ahnte, worauf dies nun hinauslief: Blieb Virginia Quentin unerreichbar, würde sie, Grace, Kim abholen müssen, und wieder war es nichts mit einem Tag im Bett, um sich auszukurieren.
Prompt kam es auch schon. »Es ist mir wirklich unangenehm, Sie bitten zu müssen, Mrs. Walker«, sagte Nathan, »aber könnten Sie vielleicht Kim abholen? Ich weiß, Sie sind krank, aber …«
»Was ist denn mit Ihrer Frau?«, fragte Grace.
Eine kurze Pause.
»Meine Frau ist abgereist«, antwortete Nathan dann.
»Oh«, sagte Grace.
»Mein Geld ist gleich aus«, fuhr Nathan fort, »Was ist nun? Können Sie …?«
Mit so viel Verachtung in der Stimme, wie es ihr nur möglich war, sagte Grace: »Ich werde Kim abholen. Es ist selbstverständlich, dass ich das Kind nicht im Stich lasse.« Und mit diesen Worten legte sie den Hörer auf.
Livia Moor war also schon abgereist. Die Lage spitzte sich zu.
Ruhig bleiben, befahl sich Grace, ganz ruhig bleiben.
Aber ihr Herz raste, und auf einmal war ihr wieder genauso schwindelig wie am Vortag. Sie hätte ins Bett kriechen und weinen mögen, aber ihr blieb nichts übrig, als jetzt zu funktionieren.
Sie rief Jack auf seinem Handy an und schilderte ihm die Situation, aber sie erwischte ihn im dicksten Rush-Hour-Stau auf der Umgehung Londons steckend, und er meinte, kaum vor sieben Uhr zurück in King's Lynn sein zu können.
Es war wirklich zum Heulen.
»Dann muss ich doch raus und Kim abholen «, sagte Grace.
Jack polterte natürlich wieder los. »Du bist krank, du gehörst ins Bett! Wer ist denn dieser Typ, dem Mrs. Quentin ihr Kind anvertrauen wollte? Und wieso ist sie nicht erreichbar?«
»Das ist eine längere Geschichte. Ich erzähle sie dir später. Jetzt muss ich mich anziehen«, sagte Grace, legte den Hörer auf und brach in Tränen aus.
5
Grace hatte es nicht bis fünf Uhr geschafft, aber um genau vierzehn Minuten nach fünf, wie sie mit einem Blick auf ihre Armbanduhr feststellte, fuhr sie an der Schule vor. Sie ärgerte sich, dass sie nicht pünktlich war, denn für gewöhnlich war absolute Zuverlässigkeit ihre herausragende Tugend. Aber sie hatte nicht geahnt, wie schwer ihr jede Bewegung fallen, wie lange sie allein zum Anziehen brauchen würde. Als sie sich hinuntergebeugt hatte, um sich die Schuhe zuzubinden, war ihr am ganzen Körper der Schweiß ausgebrochen, und es war ihr so schwindelig geworden, dass sie sich wieder hatte aufrichten und minutenlang abwarten müssen, ehe sie den nächsten Anlauf wagte.
»Ich bin richtig krank«, jammerte sie leise, »richtig krank. Ausgerechnet jetzt!«
Der Regen war in leichtes Nieseln übergegangen und hüllte die Welt in graue Trostlosigkeit. Das rote Backsteingebäude, in dem die Schule untergebracht war, schien still und verlassen, auf dem geteerten Schulhof hatten sich viele Pfützen gebildet, auf der Mauer am Eingang saß ein kleiner Spatz und blickte etwas trübsinnig in die Welt.
Genau auf dieser Mauer saß auch Kim für gewöhnlich, wenn sie und Grace sich an der Schule trafen und Kim früher als erwartet herausgekommen war. Heute konnte Grace außer dem Spatz niemanden entdecken, was ihr aber angesichts des Regens nicht verwunderlich schien.
Sie ist drinnen, natürlich, dachte sie müde. Nun musste sie einen Parkplatz suchen und das Auto verlassen, und das, obwohl das Fieber sie am ganzen Körper zittern ließ. Ihr blieb nichts erspart an diesem Tag. Mehr denn je sehnte sie sich nach ihrem Bett, einer Tasse heißem Tee und Ruhe, viel Ruhe.
Sie stellte den Wagen einfach im Parkverbot direkt vor der Schule ab, stieg aus und eilte, so schnell sie konnte, über den Hof. Sie hatte vergessen, einen Schirm mitzunehmen. In ihrer Hast trat sie mitten in eine Pfütze und merkte gleich darauf, wie sich ihr Schuh und ihr Strumpf mit kaltem Wasser vollsogen.
»Scheiße«, murmelte sie inbrünstig.
Endlich hatte sie das schützende Vordach erreicht und zog die große gläserne Schwingtür auf, die in das hohe Treppenhaus führte. Rechts und links des Eingangs waren Tafeln und Pinnwände angebracht, auf denen sich eine Vielzahl Zettel und Inschriften befanden: Informationen, Aufrufe, Nachrichten aller Art. Man ging drei Stufen hinauf und stand in der riesigen Halle, in der auch Versammlungen abgehalten oder Vorträge veranstaltet wurden. Aus der Mitte führte eine breite Treppe hinauf zu einer Galerie mit steinerner Brüstung. Von dort gingen zahlreiche Türen in die verschiedenen Klassenzimmer, Büros und Konferenzräume ab.
Die Halle war menschenleer.
Grace hatte erwartet, Kim auf der Treppe sitzend anzutreffen, und sah sich nun suchend um. Nirgendwo konnte sie das kleine Mädchen entdecken.
Stirnrunzelnd wandte sie sich um, spähte durch die Glastür ins Freie. War Kim doch draußen? Unter einem der Bäume vielleicht? Nein, auch dort stand niemand.
Ihr nasser Fuß war eisig kalt, in ihrem Schuh quietschte das Wasser. Grace nieste und umrundete einmal die ganze Halle, stieg dann die Treppe hinauf, wobei sie sich krampfhaft am Geländer festhielt. Ihre Knie zitterten.
Von irgendwoher klang leise Klavier- und Flötenmusik. Auf gut Glück öffnete Grace ein paar Türen, schaute in leere Klassenzimmer hinein. Nichts. Keine Spur von Kim.
In einem der hinteren Räume stieß sie auf eine Gruppe von zehn Jungen und Mädchen, die unter der Leitung einer gestresst wirkenden jungen Frau mehr schlecht als recht auf ihren Blockflöten herumfiepten. Ein Junge saß am Klavier und schlug ebenso kräftig wie ungekonnt in die Tasten.
»Ja, bitte?«, fragte die Lehrerin genervt, als sie Grace erblickte. Die Kinder ließen erleichtert ihre Instrumente sinken.
Grace nieste wieder. Sie hätte dringend ein Taschentuch gebraucht, konnte aber in ihrer Manteltasche keines finden.
»Entschuldigen Sie bitte, ich wollte hier die Tochter einer … einer Bekannten abholen. Ihr Unterricht war um fünf Uhr zu Ende. Leider war ich nicht ganz pünktlich. Nun kann ich sie nirgendwo finden.«
»Also, hier ist sie nicht«, sagte die Lehrerin. »Oder?«
»Nein. Nein, Kim spielt nicht Flöte. Vielleicht kennen Sie sie trotzdem? Kim Quentin.«
Der jungen Frau war anzumerken, dass es ihr schwer fiel, höflich zu bleiben. »Nein, ich kenne sie nicht. Und meines Wissens sind wir mit unserer Flötengruppe die Letzten, die sich heute noch im Haus aufhalten. Außer dem Hausmeister dürfte hier niemand sonst mehr sein.«
»Ich verstehe … Gibt es hier eine Art Aufenthaltsraum? Irgendwo muss Kim ja auf mich warten. Wir treffen uns sonst draußen, aber bei diesem Wetter …«
»Unten am Eingang, erste Tür rechts«, sagte der Junge am Klavier, »da ist ein Aufenthaltsraum. Vielleicht sitzt sie da drin.«
»Oh, danke, vielen Dank!«, sagte Grace erleichtert. Sie schloss die Tür, und sogleich setzte dahinter wieder das schiefe, von zahlreichen Misstönen durchsetzte Konzert der Flöten ein.
Schwerer Job, dachte sie, während sie nach unten eilte, schneller und leichtfüßiger diesmal, denn sie war nun fast sicher, Kim in dem beschriebenen Raum anzutreffen, und diese Gewissheit beflügelte sie. Kein Wunder, dass diese Frau so gereizt ist!
Sie riss die Tür gleich rechts hinter dem Eingang auf und blickte in einen Raum voller Tische und Bänke, die in ungeordneten Gruppen herumstanden. Zweifellos der Aufenthaltsraum.
Er war leer.
Grace seufzte tief vor Enttäuschung. Auch hier keine Spur von Kim.
Inzwischen war halb sechs vorbei. Hatte Kim sich auf den Weg zur Bushaltestelle gemacht, als um fünf Uhr niemand da gewesen war?
Grace war einige Male mit der Kleinen zusammen in dem Bus gefahren, aber nur bei schönem Wetter oder wenn sie aus irgendwelchen Gründen Lust auf einen Spaziergang gehabt hatte. Denn die Ferndale House nächstgelegene Haltestelle lag immer noch eine gute halbe Stunde zu Fuß entfernt, mitten zwischen Wiesen und Feldern. Kim war noch nie allein gefahren. Grace hatte keine Ahnung, ob sie überhaupt Geld dabei hatte.
Ein anderer Gedanke kam ihr: Vielleicht hatte der Deutsche doch noch Mrs. Quentin auf deren Handy erreicht, und diese selbst hatte ihre Tochter um fünf Uhr abgeholt.
Die sind längst gemütlich daheim, und ich irre hier herum, dachte Grace.
Trotz des Regens umrundete sie noch einmal das ganze Schulgelände, schaute auch in den Toiletten nach, die in einem gesonderten kleinen Gebäude untergebracht waren, und als sie sicher war, dass sich Kim dort tatsächlich nirgends aufhielt, ging sie zu ihrem Auto zurück und stieg ein. Sie sehnte sich danach, endlich den nassen, eiskalten Schuh ausziehen zu können. Ihre schmerzenden Glieder auszustrecken. Vor sich hin zu dösen und nicht nachdenken zu müssen.
Sie startete ihr Auto.
Bestimmt ist Kim daheim, sagte sie sich noch einmal. Es war zehn vor sechs, als sie losfuhr. Sie hatte ein ungutes Gefühl.
6
Frederic und Virginia verließen das Cafe in der Main Street um kurz nach sechs Uhr. Sie hatten eine gute Stunde dort verbracht, jeder zwei Tassen Kaffee getrunken, einander angeschaut, ein Gespräch zu führen und das Geschehene zu begreifen versucht.
Als er sie am Bahnhof erblickte, hatte Frederic gesagt: »Du solltest mich doch nicht abholen! Ich hatte dir …«
»Ich weiß«, hatte sie ihn unterbrochen, »aber ich wollte irgendwo mit dir sprechen, wo uns Kim nicht hören kann.«
»Wie geht es ihr?«
»Besser. Sie wirkte ganz ausgeglichen heute früh.« »Wer holt sie von der Schule ab?«
»Grace«, log Virginia. Ihm in diesem Moment zu erklären, dass es ihr Liebhaber war, der Frederics Tochter abholte, erschien ihr unmöglich. Eine Notlüge hingegen angesichts der Umstände verzeihlich.
Frederic kommentierte den Umstand, dass Virginia in seinem Auto gekommen war, nicht; vielleicht, so dachte sie, fiel es ihm gar nicht wirklich auf. Sie war erleichtert, denn so musste sie ihm nicht offenbaren, dass sie ihr Auto an Nathan verliehen hatte.
Im Cafe hatte lange Zeit keiner von ihnen einen Anfang gefunden. Virginia merkte, mit welch geschärfter Aufmerksamkeit Frederic sie musterte, und ihr war klar, was er sah und wie es auf ihn wirken musste. Trotz der gestrigen Aufregung um Kim, trotz der Sorgen, die sie sich der ganzen Situation wegen machte, sah sie aus wie eine glückliche Frau, das hatte sie im Spiegel festgestellt und nicht ändern können. Rosige Wangen, leuchtende Augen, eine Art inneres Strahlen, das selbst dann auf ihrem Gesicht lag, wenn sie ernst dreinblickte. Das, was sie stets so verhärmt und sorgenvoll hatte erscheinen lassen, war wie von Zauberhand weggewischt. Die Lebenslust, für die sie als junge Frau bewundert worden war und die die Männer um sie herum so anziehend gefunden hatten, war dabei, wieder zu erwachen. Das war es, was sie so erstaunt hatte, als sie sich am Morgen im Spiegel gemustert hatte, nach dieser wunderbaren, verzauberten Nacht mit Nathan: Sie sah aus wie die zwanzigjährige Virginia. Da war wieder dieses lebendige, herausfordernde, neugierige Glitzern in ihren Augen. Als hätte es die Jahre zwischen damals und heute nicht gegeben.
Irgendwann, nachdem er sie lange genug angesehen und dabei abwesend in seiner Kaffeetasse gerührt hatte, hatte sich Frederic vorgebeugt und sehr leise gefragt: »Warum?«
Jede Erklärung konnte ihn nur verletzen.
»Ich weiß es auch nicht genau«, sagte sie, »es ist, als ob …«
»Ja?«
»Als ob er mich aufweckt nach einem langen Schlaf«, hatte sie, ebenso leise wie er, erwidert und an seinem Gesichtsausdruck erkannt, dass er sich fragte, was, um Himmels willen, sie damit meinte.
Aber vielleicht dämmerte ihm doch etwas, denn nachdem wiederum etliche Minuten verstrichen waren, sagte er: »Ich habe deine Melancholie immer einfach hingenommen. Als einen Teil von dir. Etwas, das unabdingbar zu dir gehörte. Ich wollte sie dir nicht nehmen, weil ich dich in deinem Wesen nicht verändern wollte. Weil ich gar nicht glaubte, das Recht dazu zu haben.«
»Vielleicht hattest du auch Angst.«
»Wovor?«
»Die Frau, die hinter den hohen Bäumen lebte und sich kaum je hervorwagte, war sehr ungefährlich. Meine Melancholie machte mich schwach. Damit auch abhängig. Ich war schutzbedürftig und klein. Vielleicht mochtest du das auch nicht ändern.«
»Oh«, seine Stimme war nun etwas schärfer geworden, »jetzt springen wir mitten ins Klischee, oder? Als was siehst du mich? Als Macho, der sich groß und stark fühlt, wenn die Frau neben ihm klein und schwach ist? Sehr schlicht, findest du nicht? Ich habe dich nicht zu der Frau gemacht, die du warst. Ich habe dich nicht nach Ferndale hinter die hohen Bäume verbannt. Im Gegenteil. Ich wollte, dass wir in London wohnen. Ich wollte dich teilhaben lassen an meinem Leben. Ich wollte auch an deinem Leben teilnehmen, wenn du mir nur einmal gesagt hättest, worin es besteht. Aber du hast mir keine Chance gegeben. Was also wirfst du mir vor?«
»Ich werfe dir gar nichts vor.«
»Dass ich nicht mehr Druck ausgeübt habe? Ja, vielleicht hätte ich das tun sollen. Aber als ich es einmal tat, in der letzten Woche wegen dieses wichtigen Abendessens in London, wie ist es mir da ergangen? Ich stand wie ein Trottel am Bahnhof und wartete drei Züge aus King's Lynn ab, ehe ich mir eingestand, dass du nicht kommen würdest, und dann musste ich auch noch herausfinden, dass du stattdessen mit einem mehr als zwielichtigen Typen durchgebrannt und flugs in die Kiste gesprungen warst. Es sind höchst angenehme Gefühle, durch die man dabei geht, das kann ich dir sagen.« Dann war der Sarkasmus jäh aus seiner Stimme verschwunden, und leise und traurig hatte er gesagt: »Mein Gott, Virginia, ich hätte nie gedacht, dass uns das passiert. Alles, aber nicht das. Nicht ein so furchtbarer, im Grunde banaler und doch am Ende tödlicher Seitensprung!«
Sie hatte nichts erwidert. Was sollte sie sagen? Er war im Recht und sie im Unrecht, und es gab nichts, was sie zu ihrer Verteidigung hervorbringen konnte. Man durfte aus einer Ehe ausbrechen, natürlich, aber nicht so. Nicht indem man den anderen hinterging und betrog. Die meisten, denen das passierte, hatten es nicht verdient, und Frederic Quentin ganz bestimmt nicht.
Irgendwann fragte er: »Und jetzt? Wie geht es weiter?«
Sie sagte nichts, aber ihr Schweigen war sehr beredt.
»Verstehe«, sagte er bitter, »es ist kein Abenteuer gewesen, stimmt's? Es ist ernst. Die Sache ist nicht vorbei.«
Sie hasste sich für ihre Feigheit, aber sie wagte nicht, ihn anzusehen. »Nein. Sie ist nicht vorbei.«
»Aha.« Er schwieg einen Moment. »Du wirst verstehen, dass ich nicht vorhabe, geduldig zu warten, bis es irgendwann vorbei ist«, sagte er dann.
»Natürlich nicht. Ich glaube auch nicht …« Sie brach ab, biss sich auf die Lippen.
Er wusste, was sie hatte sagen wollen. »Du glaubst nicht, dass es je vorbei sein wird.«
»Nein.«
Er stützte den Kopf in die Hände, in einer Geste, als wolle er sich die Haare raufen. »Virginia, du wirst unterstellen, dass ich Nathan Moor gegenüber bestimmt befangen bin, und das ist sicher richtig, aber … verstehst du, ich hasse den Mann, ich könnte ihm den Hals umdrehen, weil er in unsere Ehe eingebrochen ist und weil er irgendetwas mit dir angestellt hat, was dich alles, was zwischen uns war, jetzt in hohem Bogen hinschmeißen lässt, und doch … ich weiß, dass er mir vorher schon zuwider war. Vom ersten Moment an. Ich habe ihn schon nicht ausstehen können, da war es noch nicht um meine Objektivität geschehen. Ich empfand ihn als undurchsichtig. Als zwielichtig. Irgendwie … unehrlich. Sehr gut aussehend, sicher. Sehr gewinnend in seiner Art. Und doch … mir graute vor ihm. Ich hätte gar nicht sagen können, weshalb. Er war mir zutiefst suspekt und unsympathisch.«
Sie schwieg, wollte nicht sagen, was sie dachte. Sie wusste jetzt, dass sie sich in der ersten Sekunde, da sie ihn sah, in Nathan Moor verliebt hatte. Und auch wenn Liebe vielleicht ein zu großes Wort für jenen ersten Moment war, so hatte sie ihn doch zumindest begehrt, sich nach ihm gesehnt. Sie hatte es sich nicht eingestanden, aber das Gefühl war da gewesen, und sie vermutete, dass auch Frederic dies unterschwellig gespürt hatte. Und dass er deshalb nicht anders gekonnt hatte, als Nathan Moor abzulehnen und zu verabscheuen. Seine Gefühle für diesen Mann waren, ohne dass er es wusste, von Angst und einer furchtbaren Erkenntnis gesteuert worden: An diesen Mann werde ich meine Frau verlieren.
»Ich sagte dir ja schon, er hat nicht ein Buch veröffentlicht«, fuhr Frederic fort, »es stimmt nicht, dass er …«
»Ich weiß. Er hat mir das alles erklärt.«
»Ach ja? Und welche Gründe hat er angeführt? Immerhin hat er uns belogen und getäuscht in dieser Sache. Nicht gerade die ganz anständige Art, oder? Aber du scheinst so blind verknallt zu sein, dass du ihm alles nachsiehst!«
»Seine Gründe haben mich überzeugt.«
»Er ist ein Schmarotzer. Und er ist ein bettelarmer Schlucker. Er besitzt buchstäblich nichts mehr auf dieser Welt! Und es ist mehr als fraglich, ob je ein Buch von ihm erscheinen wird. Ob er je Geld verdienen wird. Er hat alles verloren, als sein verdammtes Schiff unterging. Er ist in einer absolut verzweifelten Lage. Ist dir nie die Idee gekommen, dass es auch ganz einfach Geld sein könnte, was er bei dir sucht? Ein Dach über dem Kopf? Eine Existenz?«
»Die Tage mit ihm …«
»Ja? Was?«
»Die Tage mit ihm sagen mir einfach etwas anderes.«
Frederic schloss für einen Moment gequält die Augen. »Und noch mehr vermutlich die Nächte«, flüsterte er.
Virginia blieb stumm.
Es regnete noch immer, als sie schließlich auf die Straße traten. Es war sehr kalt geworden.
»Das ist der kälteste und nasseste September, an den ich mich seit Jahren erinnern kann«, sagte Frederic.
»Dieser September macht traurig«, stimmte Virginia zu.
»Das liegt aber nicht in erster Linie am Wetter«, meinte Frederic.
Sie sprachen nicht mehr, als sie im Auto nach Hause fuhren. Ringsum an den Bäumen färbte sich das Laub bunt und hing triefend und trostlos herunter.
Wo werden Kim, Nathan und ich Weihnachten verbringen?, fragte sich Virginia plötzlich. Über die einfache Frage, unter welchem Dach sie in Zukunft leben würden, hatte sie so konkret noch gar nicht nachgedacht. Was hatte Frederic gesagt? Er besitzt buchstäblich nichts mehr auf dieser Welt!
Sie selbst besaß ebenfalls nicht viel. Das Haus ihrer Eltern in London war längst verkauft, ihre Eltern nach Menorca umgesiedelt. Ihrer Tochter, ihrer Enkelin und dem neuen Lebensgefährten würden sie immer Unterkunft gewähren, aber das war in dem kleinen Häuschen dort keine Lösung auf Dauer. Zudem glaubte Virginia nicht, dass sich Nathan auf der Baleareninsel, auf der es vor allem im Herbst und Winter von alten Menschen nur so wimmelte, besonders wohl fühlen würde. Das Leben im Haus seines verstorbenen Schwiegervaters hatte ihn jahrelang aller Kreativität beraubt. Der betuliche Tagesablauf des etwas spießigen Ehepaars Delaney würde ihn sicherlich kaum mehr inspirieren.
Ich werde das möglichst bald mit ihm besprechen, nahm sie sich vor.
Das Tor zum Park von Ferndale stand offen. Virginia hoffte, dass Nathan Kim bei Grace abgesetzt hatte und dann verschwunden war, denn es war nicht im Geringsten der Moment, an dem sich die beiden Männer begegnen durften. Sie bremste direkt vor Graces Haustür. »Ich hole nur schnell die Kleine ab«, sagte sie.
Aber da wurde die Tür schon aufgerissen, und Grace kam herausgestürzt.
»Mrs. Quentin, ich warte schon ständig am Fenster … Haben Sie Kim abgeholt?«
»Nein. Ich hatte doch …« Sie verschluckte den Namen, denn nun stieg auch Frederic aus.
»Was ist los?«, fragte er.
»Kim war nicht mehr in der Schule, als ich sie abholen wollte, Sir. Aber ich dachte …« Auch Grace wagte es nicht, weiterzusprechen. Unruhig irrten ihre fiebrig glänzenden Augen von einem zum anderen.
Virginia gab sich einen Ruck. Die Situation war unwürdig, sie hatte sie verschuldet, sie musste sie nun auch klären.
»Frederic, es tut mir leid, aber ich hatte Nathan Moor gebeten, Kim um fünf Uhr abzuholen. Ich wollte mich mit dir treffen, Jack ist noch nicht zurück, und Grace ist krank. Daher hielt ich es für das Beste …«
Frederics Augen verengten sich, er sagte jedoch nichts.
»Mrs. Quentin, Mr. Moor rief bei mir an«, sagte Grace, erleichtert, dass sie nun auch offen reden durfte. »Er war in Hunstanton und hatte irgendwie Probleme mit dem Wagen. Er sprang nicht an oder so … und Sie konnte er nicht erreichen. Ihr Handy war ausgeschaltet.«
»Das stimmt«, sagte Virginia.
»Er bat mich, Kim abzuholen. Ich habe dann Jack angerufen, aber der steckte im Stau und meinte, er kann vor sieben Uhr nicht hier sein. Also bin ich losgefahren. Ich kam etwas zu spät, weil mir so schwindelig war, alles geht im Moment langsamer bei mir als sonst, und …« Graces Stimme schien brechen zu wollen, aber sie fing sich wieder. »Kim war nicht da. Ich habe die ganze Schule abgesucht, aber nichts! Keine Spur!«
Frederic schaute auf seine Uhr. »Gleich halb sieben. Und Kim ist seit fünf Uhr nicht aufgetaucht?«
Jetzt rollten doch die Tränen aus Graces Augen. »Ich hatte gehofft, Mr. Moor hat Sie vielleicht doch noch erreicht. Oder sein Auto ist noch angesprungen, und er hat Kim doch selber abgeholt und nur vergessen, mir das zu sagen …«
»Haben Sie in unserem Haus nachgesehen?«, fragte Frederic.
Sie nickte. »Da ist niemand. Aber Mr. Moor würde vielleicht …«
Frederic verstand. »Er würde vielleicht nicht ausgerechnet dort auf uns warten. Mit welchem Auto übrigens ist er unterwegs?«
»Mit meinem«, sagte Virginia.
»Verstehe«, sagte Frederic. »Wo ist Livia Moor?«, fügte er hinzu.
»Sie ist abgereist.«
Frederic überlegte. »Wenn Moor Kim abgeholt hat, weshalb hat er sie dann nicht hier bei Grace abgeliefert?«
»Das verstehe ich auch nicht«, sagte Grace.
»Vielleicht haben sich die beiden verfehlt«, meinte Virginia, »Nathan kam mit Kim genau zu der Zeit hier an, als Grace in der Schule war und suchte.«
»Und wo ist er dann jetzt?«, fragte Frederic. »Wo ist Nathan Moor mit meiner Tochter?«
Alle drei sahen einander an.
»Vielleicht hat sie sich auch …«, begann Grace.
Und Virginia beendete den Satz: »… wieder versteckt? Wie gestern Abend?«
»Das Kind ist offenbar völlig verzweifelt und durcheinander«, sagte Frederic. »Wir sollten vorsichtshalber bei ihrem Baumhaus nachschauen, ehe wir irgendetwas anderes unternehmen.«
»Ich kann mir kaum vorstellen, wie sie es von der Schule bis dorthin geschafft haben sollte«, meinte Virginia. Sie merkte, wie sie am ganzen Körper zu frieren begann. Es war keine vierundzwanzig Stunden her, seit Kim schon einmal verschwunden gewesen war. Der Schreck, das Entsetzen vom gestrigen Abend waren jäh und grausam gewesen, diesmal schlich sich die Angst ganz langsam an sie heran. Vieles sprach dafür, dass es zwischen Nathan und Grace ein Missverständnis oder einen Fehler in der Koordination gegeben hatte, und in diesem Fall saß Kim jetzt vielleicht mit Nathan in einem Burger King, trank einen Milchshake und war guter Dinge. Weniger schön war die Vorstellung, dass sie sich vielleicht erneut irgendwo verkrochen hatte. Zum einen würde es schwierig sein, sie zu finden. Zum anderen bedeutete es weitere, erhebliche Probleme. Unter Umständen würde es notwendig werden, einen Kinderpsychologen aufzusuchen. Zumindest bewirkten die Geschehnisse vom Vorabend, dass Virginia diesmal nicht sofort an den Kindermörder dachte.
Sie schlang die Arme fröstelnd um ihren Leib.
»Aber du hast Recht«, sagte sie, »wir gehen als Erstes zu ihrem Baumhaus. Grace, Sie warten hier und rufen uns an, wenn Kim auftaucht, ja?«
»Dann müssen Sie aber Ihr Handy wieder einschalten«, mahnte Grace.
»Natürlich.«
»Weshalb hattest du es überhaupt ausgeschaltet?«, fragte Frederic, während sie im Sturmschritt in den Wald einbrachen. Virginia antwortete nicht.
Er begriff. »Du hattest Angst, er ruft an, während wir beide miteinander reden, stimmt's? Für solch eine Affäre zahlt immer eine ganze Familie einen hohen Preis. In diesem Fall sogar dein eigenes Kind.«
Sie biss die Zähne zusammen. Nicht weinen. Sie mussten Kim finden. Es war keine Zeit für Tränen. Sie betete, ihre Tochter möge in dem Baumhaus sein. Aber sie glaubte es nicht.