4

 

Michael

 

Als sie sieben gewesen waren, hatten sie sich geschworen, einander zu heiraten. Etwas anderes wäre gar nicht in Frage gekommen, denn sie liebten einander so sehr, dass es unvorstellbar schien, je einen anderen zu lieben.

Mit zwölf Jahren erneuerten sie ihren Schwur, ernster und feierlicher als zuvor, denn inzwischen hatte man ihnen erklärt, dass Cousin und Cousine einander nicht heiraten sollten, und nun witterten sie, dass man ihnen Steine in den Weg legen würde, was die ganze Angelegenheit noch viel romantischer und abenteuerlicher machte. Die sogenannte gute Gesellschaft würde sie nie akzeptieren, und vielleicht würden sie auch von ihren Familien verstoßen werden, und Menschen, die sie heute grüßten, würden die Straßenseite wechseln, wenn sie ihnen begegneten. Sie konnten damit Stunden verbringen, sich ihr Leben als Ausgestoßene auszumalen, in den schaurigsten und schrecklichsten Farben, und manchmal lief ihnen dabei ein wohliges Kribbeln nach dem anderen über den Körper. Denn das Schöne bei all dem war ja die sichere Gewissheit, dass sie trotz allem niemals allein sein würden. Sie hatten einander, für immer und ewig. Sie waren eine Insel inmitten eines feindlichen Meeres.

Was konnte ihnen geschehen?

Sie waren im selben Jahr, im Abstand von wenigen Monaten, geboren worden. Virginia Delaney kam am dritten Februar zur Welt, Michael Clark am achten Juli. Ihre Mütter waren Schwestern, eng miteinander verbunden, und ihre Lebensplanung hatte immer beinhaltet, dass sie möglichst nie wirklich voneinander getrennt sein würden. Es war ihnen geglückt, mit ihren Ehemännern in zwei nebeneinander liegenden Häusern in London einzuziehen, und nun hatten sie es auch noch geschafft, ihre Kinder altersmäßig dicht beieinander zu platzieren. Sie hatten gehofft, dass Michael und Virginia wie Geschwister aufwachsen würden, und dazu gehörte auch, dass sie geschwisterliche Gefühle füreinander entwickelten. Die heiße, maßlose Liebe zwischen den beiden hatte niemand erwartet, und manchmal kam sie den beiden Schwestern fast ein wenig bedrohlich vor. Sie beruhigten sich mit dem Gedanken, dass die Kinder noch klein seien und sich das Problem sicherlich in der Pubertät lösen würde.

Es war eine wundervolle Kindheit, die Virginia und Michael teilten. Sie gingen gemeinsam in die Schule, machten ihre Hausaufgaben zusammen und beschützten einander vor größeren, stärkeren oder rauflustigen Kindern. Genau genommen beschützte Virginia Michael. Sie war nicht nur die Ältere, sie war auch viel selbstbewusster, lauter und unerschrockener. Michael, immer etwas zart und anfällig, hatte es schwer unter den anderen Jungen. Er wurde nicht für voll genommen und galt als Muttersöhnchen. Dass er stets von seiner energischen Cousine, die auch bereit war, die Fäuste für ihn zu schwingen, verteidigt wurde, vergrößerte sein Ansehen nicht gerade, aber wenigstens traute man sich nicht, ihn so ohne weiteres anzugreifen. Niemand mochte sich mit Virginia Delaney anlegen. Sie konnte sehr unangenehm werden, das hatten selbst die stärksten Jungs schon erleben müssen. Michael Clark stand unter ihrem Schutz. Er hätte eine schwierige Schulzeit voller Hänseleien und Demütigungen durchleben müssen, so jedoch gab es zumeist nur Getuschel hinter seinem Rücken und manch anzüglichen Blick, und beides lernte er im Lauf der Zeit zu ignorieren.

Sie gingen durch dick und dünn. Sie spielten in den kleinen Gärten hinter ihren Elternhäusern wunderbare, fantasievolle Spiele voller Abenteuer und Gefahren. Sie waren Indianer und Piraten und Prinz und Prinzessin. Sie fuhren im Sommer Rollschuh in den Londoner Parks, und im Herbst durchstreiften sie die Stadt, Hand in Hand, auf der Suche nach etwas, wovon sie nicht wussten, was es war. Sie backten Weihnachtsplätzchen zusammen und bestaunten die Spielzeugabteilung von Harrod's, und jeder sparte sein Taschengeld, um dem anderen zu kaufen, was dieser am meisten ersehnte. In den Sommerferien fuhren sie mit ihren Eltern zu den Großeltern ans Meer nach Cornwall, und diese Wochen in völliger Freiheit waren es, worauf sie das ganze Jahr über hinfieberten. Die Großeltern hatten ein kleines Häuschen inmitten eines großen, verwilderten Gartens, und wenn man über den hinteren Zaun kletterte und einen kleinen Pfad zwischen Ginster- und Holunderbüschen entlanglief, gelangte man an den Strand; eine kleine Bucht, in der sich stets nur wenige Menschen aufhielten. Der Sand gehörte den Kindern, und auch das Meer. Im Garten der Großeltern gab es Apfelbäume und Kirschbäume, in denen man sitzen und Obst essen konnte, bis man Bauchweh bekam. Virginia und Michael besaßen natürlich ein Baumhaus, in dem sie die Schätze ihrer Sommerferien horteten: Muscheln und seltsam geschliffene Steine, getrocknete Blumen, Bücher, aus denen der Sand rieselte und die voller Eselsohren waren, kleine Zettel, die sie einander schrieben und die voller verschlüsselter Nachrichten waren, die niemand außer ihnen verstehen konnte. In den Ferien gab es keine festen Mahlzeiten, und niemand sagte ihnen, wann sie ins Bett gehen oder dass sie ihre Füße waschen sollten. Mit Einbruch der Dunkelheit sollten sie sich daheim blicken lassen, aber es war ein Leichtes, später noch einmal aus dem gemeinsamen winzigen Schlafzimmer hinauszuklettern, über ein Schuppendach zu huschen, auf die Regentonne zu springen und in der Nacht unterzutauchen. Beide liebten sie es, unter dem Sternenhimmel noch einmal im Meer zu schwimmen, in dieser gewaltigen, schwarzen, bedrohlichen Weite, immer den Atem des anderen neben sich. Sie taten das oft, und nachher lagen sie im warmen Sand und unterhielten sich oder dämmerten ein wenig vor sich hin, und manchmal kehrten sie erst im Morgengrauen nach Hause zurück.

Es war in einer solchen sternklaren Sommernacht in ihrer verschwiegenen Bucht, als Michael Virginia zum ersten Mal küsste. Auf die Art küsste, wie es in Büchern beschrieben wurde, nicht unschuldig und geschwisterlich, wie es natürlich schon tausendmal geschehen war. Michael war vier Wochen zuvor vierzehn geworden, Virginia bereits im Februar. Sie hatte in diesem Jahr ihre Internats- und Pferdebücher beiseite gelegt und begonnen, richtige Romane zu lesen, und zwar von der Art, die ihre Mutter möglichst nicht bei ihr finden sollte. Es ging in den Büchern um schöne Frauen und starke Männer und um all die Dinge, die sie miteinander taten. Sie hatte Michael, der zu diesem Zeitpunkt noch Bücher wie Robinson Crusoe oder Tom Sawyer liebte, davon erzählt, aber schon damals das Gefühl gehabt, dass er die Faszination nicht recht verstand, die sie trieb, Seite um Seite gierig zu verschlingen. Aber eines hatte er begriffen: dass seine Geliebte einen Punkt erreicht hatte, den er noch nicht kannte, von dem er aber instinktiv ahnte, dass er sich nicht allzu viel Zeit lassen sollte, ebenfalls dorthin zu gelangen. Sie hatte ihm genug erzählt, dass er wusste, welche Art Kuss sie ersehnte, und er gab sein Bestes.

Es war Virginias erster richtiger Kuß. Es war das erste Mal, dass sie nackt im Sand lag und ein Mann sich über sie beugte, seine Zunge in ihren Mund schob und seinen Mund mit ihrem minutenlang verschmelzen ließ. Es war genau das, wovon sie inzwischen hundertmal gelesen hatte.

Als es vorüber war, wusste sie, dass Michael nicht der Mann war, der in ihr die Gefühle zu wecken verstand, die sich in diesem Augenblick hätten einstellen müssen. Sie liebte ihn von ganzem Herzen.

Aber ihr Körper vermochte nicht auf ihn zu reagieren.

Von da an war nichts mehr wie vorher. Sie sprachen nicht darüber – es war das erste Mal, dass sie etwas, das sie beide tief beschäftigte, nicht beredeten –, aber sie spürten es beide. In stillschweigender Übereinstimmung wurde das Thema Heirat nun nicht mehr erwähnt. Und auch sonst begannen sie in dem Herbst, der jenem entscheidenden Sommer folgte, mehr und mehr getrennte Wege zu gehen. Michael blieb der introvertierte, scheue Junge, der er immer gewesen war, vertieft in eine eigene Welt, die vornehmlich aus Büchern und Musik bestand. Virginia entdeckte das Leben draußen, und je mehr sie davon sah, desto mehr wollte sie haben. Sie schminkte sich, trug kurze Röcke, war bald Teil einer großen, fröhlichen, lärmenden Clique, die durch die Pubs und Diskotheken Londons zog. Sie hatte unzählige, heftige Diskussionen mit ihrer Mutter, die ihre Aufmachung zu provokant fand, letztlich aber den Kürzeren zog, weil sich Virginia nicht um ihre Ansichten scherte. Sie hatte den ganzen Winter über viel Spaß, wurde sehr dünn, schlief zu wenig, ließ in der Schule nach, hatte aber Verabredungen und Verehrer ohne Ende.

An einem nebligen Januartag erschien Michael ohne Anmeldung bei ihr und überraschte sie in ihrem Zimmer mit einer Zigarette. In der ersten Sekunde hatte Virginia geglaubt, ihre Mutter platze herein, daher drückte sie die Zigarette rasch auf einem Unterteller aus – was ohnehin sinnlos war, da überall im Zimmer der Rauch waberte.

»Ach, du bist es«, sagte sie, als Michael den Kopf hereinsteckte, »du hast mich vielleicht erschreckt!«

»Tut mir leid«, erwiderte Michael. Er kam herein, schloß die Tür hinter sich. Da sie inzwischen in verschiedene Schulen gingen, hatte Virginia ihn länger nicht gesehen. Er war ziemlich gewachsen, aber er wirkte mager und hohlwangig. Sie erschrak, weil er so elend aussah.

»Was ist denn los?«, fragte sie. »Bist du krank?«

»Du rauchst?«, fragte er, statt einer Antwort, indigniert zurück.

»Ab und zu.«

»Wahrscheinlich rauchen alle deine neuen Freunde.« »Die meisten.«

»Hm.« Er war damit nicht einverstanden, das sah sie ihm an, aber er hätte sie nie offen kritisiert. Er setzte sich neben sie auf ihr Bett und starrte die gegenüberliegende Wand an.

»Meine Eltern lassen sich scheiden«, sagte er unvermittelt.

»Was?«

»Meine Mutter hat es mir gestern Abend gesagt. Aber ich habe so etwas schon geahnt.«

»Aber... wieso denn? Ich meine – was ist denn passiert?«

»Mein Vater hat eine andere Frau kennen gelernt. Schon letztes Jahr im Oktober. Meine Mutter hat nur noch geweint seitdem. Er ist oft nachts nicht nach Hause gekommen.« Michael zuckte mit den Schultern. »Na ja, und offenbar hat die Neue gewonnen.«

»Das ist ja ein Ding! Kennst du sie?«

»Nein. Ich weiß nur, dass sie Amerikanerin ist und Dad mit ihr nach San Francisco ziehen will.« »Ach du Scheiße! So weit weg?«

Michael nickte. »Ich bleibe natürlich hier bei Mum. Es ist schwer für sie … sie weint immerzu.«

Schuldbewusst dachte Virginia, wie wenig sie sich in der letzten Zeit um die Familie gekümmert hatte. Dass sich bei den Clarks nebenan eine Tragödie abspielte, war ihr vollkommen entgangen. Aber ihren Eltern vielleicht auch, jedenfalls hatte niemand etwas gesagt.

»Ach, Michael«, sagte sie hilflos und fühlte zum ersten Mal in ihrem Leben eine Scheu, ihn an sich zu ziehen und in den Armen zu halten, »es tut mir so leid. Ehrlich. Gar keine Chance, dass dein Vater es sich noch anders überlegt?«

»Ich glaube nicht. Er wohnt ja schon jetzt mehr bei ihr als bei uns. Und er hat offenbar drüben in Amerika auch schon beruflich Dinge für sich in die Wege geleitet. Er will wohl nur noch weg.«

Virginia fragte sich, wie man einen so lieben Jungen wie Michael und eine so nette Frau wie seine Mutter einfach verlassen konnte, aber offenbar gab es andere Kriterien, die das Verhalten mancher Männer bestimmten. Sie war böse auf ihren Onkel, weil er Michael so traurig machte. Aber dann überlegte sie, dass ihr Onkel vielleicht die gleichen Gründe hatte, die sie bewogen hatten, ihre Verlobung mit Michael stillschweigend zu lösen: das Fehlen jeglicher Erotik in der bestehenden Beziehung. So oberflächlich es sein mochte, sie wusste inzwischen, wie stark die Kraft der Sexualität war und von welch heftiger Sehnsucht ihr Nichtvorhandensein begleitet wurde. Vielleicht gab ihm die Amerikanerin in dieser Hinsicht etwas, das sich aus seiner Ehe längst hinausgeschlichen hatte.

Sie litt ein wenig mit Michael, der durch ein elendes, quälendes Frühjahr ging, in dem er im Wesentlichen versuchen musste, seine weinende, völlig verzweifelte Mutter zu trösten. Aber sie litt nicht zu sehr, denn ihr eigenes Leben ging weiter, randvoll mit Erlebnissen und Ereignissen. Anfang März, einen Monat nach ihrem fünfzehnten Geburtstag, schlief sie zum ersten Mal mit einem Jungen. Er war schon neunzehn, der gut aussehende, etwas blasierte Sohn einer sehr reichen Londoner Familie. Sie hatte ihn in einer Diskothek kennengelernt und behauptet, schon siebzehn zu sein, was er ihr offenbar ohne jedes Misstrauen abgekauft hatte. Nicholas besaß ein eigenes Auto, dessen Liegesitze sie als Unterlage für ihren Geschlechtsakt verwenden konnten. Virginia fand Nicholas rasend attraktiv, aber nicht sonderlich sympathisch, und schon gar nicht liebte sie ihn auch nur im Allerentferntesten so sehr wie Michael, aber sie machte die Feststellung, dass, im Gegensatz zu dem, was ihre Mutter ihr immer einzureden versuchte, Liebe und Erotik nicht unbedingt etwas miteinander zu tun haben mussten. Was diesen jungen Mann betraf, so zeigte ihr Körper all die Symptome von Leidenschaft und Begehren, von denen sie immer gelesen und gehört hatte. Sie fand es wunderbar, mit ihm zu schlafen. Sie fand es himmlisch, ihn zu küssen. Sich langsam und verschmelzend mit ihm auf schwach beleuchteten Tanzflächen zu wiegen. Eng umschlungen mit ihm durch die Stadt zu bummeln. In der ersten Zeit konnte sie davon gar nicht genug bekommen. Sie gingen eineinhalb Jahre miteinander, abgesehen von einer vier Wochen währenden Krise, als Nicholas herausfand, dass ihn Virginia wegen ihres Alters belogen hatte. Er schmollte eine Weile, war jedoch selbst viel zu verrückt nach dem schönen, blonden Mädchen, um wirklich eine Trennung herbeiführen zu können. Sie erlebten aufregende Dinge zusammen, denn Nicholas hatte immer so viel Geld zur Verfügung, wie er nur wollte. Sie besuchten die angesagtesten Nobeldiskotheken, für die Virginias Taschengeld nie gereicht hätte, sie gingen in schicken Restaurants zum Essen, schauten sich Tennis in Wimbledon an und Pferderennen in Ascot. Es war ein neues Leben, eine neue Welt für Virginia, und sie genoss es in vollen Zügen.

Unterdessen zog Michaels Vater endgültig daheim aus, und schließlich ging auch die Scheidung über die Bühne, gegen die sich zu wehren Michaels mittlerweile schwer depressive Mutter nicht mehr die Kraft fand. Zu dem Zeitpunkt, als sich die inzwischen sechzehnjährige Virginia gerade von Nicholas trennte – Geld und Glamour hatten ihren Reiz verloren, und echte Gefühle hatte es zwischen ihnen beiden nie gegeben –, war Michaels Mutter seelisch so schwer erkrankt, dass Michael immer mehr zu einer Art Krankenpfleger für sie wurde. Anstatt endlich sein eigenes Leben führen zu können – oder zumindest herausfinden zu können, worin sein eigenes Leben eigentlich bestand –, begleitete er seine Mutter zu ihren Therapien und saß daheim ganze Wochenenden lang geduldig neben ihr und hörte sich wieder und wieder die Geschichte ihrer Ehe und der Trennung an. Als sie nach zwei Jahren an einem mysteriösen Herzversagen starb, dessen Ursache auf eine Überdosis an Medikamenten zurückzuführen war, von der sich nie klären ließ, ob sie sie absichtlich eingenommen hatte, wusste der knapp achtzehnjährige Michael über lange Zeit nicht, womit er die plötzliche Leere in seinem Alltag füllen sollte. Es war die Zeit, in der seine eigenen Depressionen geboren wurden.

Der einzige Mensch, der ihm blieb, war Virginia, die Gefährtin seiner Kinderjahre. Diese hatte sich gerade mit einem zwanzig Jahre älteren, sehr reichen Kanadier verlobt und war mit ihm nach Vancouver gegangen, flüchtete jedoch ein Jahr später kurz vor der geplanten Hochzeit vor seinen Gewalttätigkeiten zurück nach England. Es ging ihr nach dieser Erfahrung psychisch ebenfalls nicht gut. Auch sie suchte nach einem Halt, und es war fast unausweichlich, dass sie und Michael nun mit ausgestreckten Armen aufeinander zugingen. Angeschlagen und frustriert, wie sie waren, telefonierten sie häufig miteinander, sahen sich beinahe jeden Tag, entdeckten die alten Gefühle füreinander wieder und fanden in die Vertrautheit zurück, die sich in langen Jahren zwischen ihnen aufgebaut hatte. Als sich Virginia in Cambridge für ein Studium der Literaturwissenschaften einschrieb, war es sofort klar, dass auch Michael dort hinkommen würde. Er wollte Geschichte studieren und später eine Professur anstreben.

Sie hausten in einer winzigen Wohnung, die eigentlich nur aus einem einzigen Zimmer und einer Kochnische bestand, hatten viele Freunde und führten ein geselliges Leben. In Virginias Schlepptau verlor auch Michael etwas von seinem Hang zum Eigenbrötlertum, wurde offener und fröhlicher. Virginia gewann sehr schnell ihre alte Lebhaftigkeit und Leichtigkeit zurück, obwohl sie zugleich versuchte, im Hinblick auf ihre Studien ein ernsthafteres Leben zu führen.

Sie veränderte sich auch äußerlich: Die schicken Kostümchen und Stöckelschuhe, die sie in Vancouver getragen hatte, verschwanden in der Versenkung, stattdessen begann sie sich für ausgefranste Jeans, schwarze Pullover, Silberschmuck und ein düsteres Make-up zu begeistern. Sie rauchte ziemlich viel und nahm an literarischen Zirkeln teil, las endlich die Bücher, die sie während ihrer Pubertät zugunsten anrüchiger Liebesgeschichten übersehen hatte.

Sie feierte und trank ein wenig zu viel und schlief zu wenig, und gelegentlich flirtete sie auf Partys mit anderen Männern, was zu heftigen Auseinandersetzungen mit Michael führte. Soweit Michael überhaupt in der Lage war zu streiten. Er jammerte und klagte, und Virginia wurde aggressiv. Denn letztendlich war sie ihm treu. Sie fand es langweilig, mit ihm zu schlafen, aber sie probierte niemand anderen aus. Sie fühlte sich bei ihm geborgen, und über eine gewisse Zeit mochte sie diese Geborgenheit auch nicht zugunsten irgendeines schnellen Verhältnisses aufgeben.

Und dann traf sie Andrew Stewart, und genau wie in jenem Sommer viele Jahre zuvor, als ihre wunderbare Kindheit mit Michael plötzlich geendet hatte, veränderte sich auch diesmal ihr Leben wieder völlig.

Sie war ihrer großen Liebe begegnet.

 

5

 

Es war so dunkel im Zimmer geworden, dass sie einander nur noch schattenhaft erkennen konnten. Draußen vor den Fenstern rauschte der Regen. Der angekündigte Wetterumschwung war eingetreten. Der Sommer hatte seinen Abschied genommen.

Nachdem sie sich wieder und wieder übergeben hatte, hatte sie eine ganze Weile warten müssen, ehe sie sich wieder bewegen konnte, dann war sie ins Bad gegangen, hatte sich das Gesicht gewaschen und sich minutenlang die Zähne geschrubbt, um den widerlichen Geschmack von Erbrochenem in ihrem Mund zu beseitigen. Noch immer war ihr das bleiche Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen darin wie das einer Fremden erschienen.

Was geschieht mit mir? Es war doch alles in Ordnung!

Aber eigentlich war nichts in Ordnung gewesen, das wusste sie, doch was immer in ihr an Unbewältigtem geschlummert hatte, sie hatte es unter Kontrolle gehabt. Irgendwie war es ihr seit Jahren gelungen, nicht mehr an Michael zu denken. Überhaupt an etwas zu denken, was vor ihrer Zeit mit Frederic Quentin lag. Seitdem jedoch die beiden Deutschen aufgekreuzt waren, besonders Nathan …

Sie hätte auf Frederic hören und die Finger von den beiden lassen sollen. Frederic hatte keine Ahnung von der Lawine gehabt, die losgetreten werden könnte, aber ein Instinkt musste ihn gewarnt haben. Er hatte mit mehr Vehemenz abgeraten, als sie sie sonst bei ihm kannte.

Ich sollte jetzt hinübergehen und Nathan Moor bitten, endlich zu verschwinden. Und möglichst nie wieder hier aufzutauchen.

Das allein, so viel war klar, hätte ihre Probleme jedoch nicht gelöst. Denn nicht nur Nathan Moor war es, der ihr Schwierigkeiten machte. Ihre Kopfschmerzen, ihr Zusammenbruch waren von Frederic ausgelöst worden. Frederic in seiner Geduld, in seiner Wertschätzung all dessen, was sie tat oder nicht tat, war unverzichtbarer Teil ihres Verdrängungsprogramms gewesen. Dass er plötzlich Forderungen stellte, ärgerlich wurde, ihre Loyalität einforderte, hatte das Gerüst ins Wanken gebracht. Der Zusammenbruch hatte begonnen. Sie würde ihn bereits jetzt nicht mehr aufhalten können.

Sie war in die Küche zurückgegangen, aber Nathan war nicht mehr dort gewesen. Sie hatte ihn im Wohnzimmer angetroffen, wo er sich gerade einen Sherry einschenkte. Er tat das so selbstverständlich und gelassen, als wohne er seit Jahren in diesem Haus und bewege sich dort ganz unbeschwert. Diesmal empfand Virginia deswegen keinen Ärger. Diesmal vermittelte ihr sein Verhalten sogar ein Gefühl der Sicherheit.

»Geht es Ihnen besser?«, fragte er, und sie nickte, wehrte aber ab, als er ihr ebenfalls einen Sherry anbieten wollte. »Nein, danke. Ich fürchte, das schafft mein Magen noch nicht.«

»Sie wollten mir von Michael erzählen«, sagte er sachlich.

Sie hatte sich auf das Sofa gesetzt und die Beine hochgezogen, sie wie einen Schutzschild vor sich gestellt und mit beiden Armen umklammert. Sie hatte gehofft, er würde sich diesmal nicht neben sie setzen wie vorhin, als er ihren Nacken massiert hatte, und er schien das zu spüren, denn er wählte einen Sessel ihr gegenüber, so dass der breite hölzerne Couchtisch zwischen ihnen stand. Zuerst hatte sie nicht gewusst, wie sie anfangen sollte, und fast hätte sie ihn gebeten, das alles zu vergessen und so zu tun, als habe er den Namen Michael nie gehört. Aber kaum war sie so weit, einen Rückzieher machen zu wollen, meldete sich der Kopfschmerz wieder, leise und bohrend, und ihr Körper verkrampfte sich.

Nathan neigte sich vor und sah sie eindringlich an. »Ich glaube, Sie müssen da etwas loswerden«, sagte er ernst, »oder Sie werden krank. Was immer es mit Michael auf sich hat, es quält Sie, und es beherrscht Ihr Leben. Sie müssen nicht mir davon erzählen, wenn Sie nicht wollen. Aber dann sollten Sie sich einen Therapeuten suchen und mit ihm darüber sprechen. Alleine kommen Sie mit dieser Sache nicht mehr zurecht.«

Irgendwann, zwei oder drei Jahre zuvor, hatte Frederic ihr schon einmal zu einer Therapie geraten; es war eine Phase gewesen, in der ihre Panikattacken an Häufigkeit zugenommen hatten. Das Wort Therapeut hatte sie so sichtlich entsetzt, dass Frederic von seinem Vorschlag sofort wieder abgerückt war und nie wieder davon gesprochen hatte. Auch jetzt hob sie abwehrend beide Hände.

»Nein. Ich brauche keinen Therapeuten. Im Grunde ist alles in Ordnung, es ist nur …«

»Michael«, unterbrach er mit sanfter Stimme, »es ist nur Michael, nicht wahr? Was ist mit Michael? Wer ist Michael?«

Er hatte ihr einen Einstieg geboten, den sie annehmen konnte. Er wollte wissen, wer Michael war. Sie konnte mit ihrer Kindheit beginnen, mit ihrer und Michaels Kindheit. Das war harmlos, das barg noch keine Gefahren. Sie hatte zu reden begonnen, stockend zunächst, gequält, aber dann immer fließender und freier. Die einsetzende Dunkelheit half ihr, und auch die Tatsache, dass Nathan der Versuchung widerstand, eine Lampe einzuschalten. Er war da, sie konnte seine Umrisse erkennen, konnte ihn atmen hören, aber sie musste nichts sehen von dem, was sich in seinen Gesichtszügen abspielen mochte. Irgendwann war der Regen sanftes Hintergrundgeräusch ihrer eigenen Stimme. Sie konnte von Dingen sprechen, die sie noch nie zuvor einem anderen Menschen anvertraut hatte: von ihrer wilden, freien Jugend, ihrer Lebensgier, ihrem Leichtsinn, ihrer Rücksichtslosigkeit, ihrer Neugier. Sie konnte von den Männern erzählen, die sie gehabt und wieder abgelegt hatte, von den Irrwegen, die sie gegangen war, von den unguten Dingen, die sie ausprobiert hatte. Nathan unterbrach sie nicht, aber sie konnte spüren, dass er sehr genau zuhörte. Und über allem, was sie sagte, hing das Wort jung.

Ich war jung. Alles war verzeihbar. Ich war so jung.

Sie brach ab, als Andrew Stewart auftauchte. Denn von da an war sie nicht mehr jung gewesen. Sie wusste selbst nicht, weshalb sie den harten Einschnitt an dieser Stelle vornahm. Vielleicht war es einfach ein Gefühl. Mit Andrew Stewart war sie erwachsen geworden. Nicht weniger wild, nicht weniger leichtfertig. Und doch erwachsen.

 

»Wie alt waren Sie, als Sie Stewart kennen lernten?«, fragte Nathan. Es war das erste Mal seit Stunden, dass er sein Schweigen brach. Er hatte ihren letzten Worten eine Weile nachgelauscht, dann aber verstanden, dass sie vorerst nichts mehr sagen würde.

»Zweiundzwanzig«, sagte sie, »ich war zweiundzwanzig Jahre alt.«

»Eine zweiundzwanzigjährige Studentin, die schon eine Menge vom Leben ausprobiert hatte. Nicht wahr?«

Sie nickte, obwohl er das nicht sehen konnte.

Er schien es zu ahnen. »Das Mädchen, das Sie beschrieben haben«, sagte er, »dieses Mädchen passt zu der Fotografie. Wie schön Sie waren, Virginia. Und wie unglaublich lebendig!«

»Ja«, sagte sie. »Lebendig. Wenn ich heute an diese Zeit denke, ist es das, was ich am allerstärksten empfinde: Leben. Ich habe so ungeheuer intensiv gelebt.«

»Andrew Stewart war auch Student?«

»Nein. Er war bereits fertiger Rechtsanwalt. Fing gerade an, in einer sehr renommierten Kanzlei in Cambridge zu arbeiten. Sein Vater hatte ihn dort untergebracht. Die Stewarts hatten einflussreiche Bekannte. Wir trafen uns bei der Promotionsfeier einer Freundin von ihm, die wiederum mit irgendeinem Freund von Michael bekannt war. Ich war aber allein dorthin gegangen, weil Michael die Grippe hatte. Wir kamen ins Gespräch und … alles änderte sich.«

Sie hörte, dass Nathan aufstand. Er bewegte sich geschickt und ohne zu stolpern durch das dunkle Zimmer. Er knipste die kleine Lampe an, die am Fenster stand. Das Licht flammte so plötzlich auf, dass Virginia für einen Moment geblendet die Augen schloss, aber es war ein weicher, gedämpfter Schein, den sie nicht als unangenehm empfand.

»Wir müssen ja nicht ohne Licht hier sitzen«, sagte Nathan. Groß und dunkel stand er vor dem Fenster. Ein Fremder. Ein völlig Fremder.

Warum erzähle ich diesem Mann so viel von mir?

Er kam ein paar Schritte näher, setzte sich aber nicht mehr hin.

»Und es war Liebe auf den ersten Blick?«, fragte er.

Sie nickte. »Was mich betrifft – ja.«

»Und für ihn war das anders?«

»Nein. Aber …«

»Aber?«

Leise sagte sie: »Es änderte sich später.« »Haben Sie Michael von Andrew erzählt? Sich von ihm getrennt?«

»Nein. Michael erfuhr nichts. Ich trennte mich auch nicht von ihm. Es blieb alles, wie es war zwischen uns. Nur dass ich …« »Nur dass Sie ein Verhältnis nebenher hatten!«

»Ja.«

»Seltsam. Bei einer Liebe auf den ersten Blick? Warum diese Verschwiegenheit? Die Heimlichtuerei? War Andrew Stewart damit einverstanden, dass Sie weiterhin mit Ihrem Freund zusammenlebten ?«

Auf einmal fühlte sie sich in die Enge getrieben. »Was wollen Sie hören?«

Er hob abwehrend beide Hände. »Nichts. Nichts, was Sie nicht sagen wollen.«

Sie hatte einen Fehler gemacht, als sie mit ihm zu reden begann. Sie hatte einen Fehler gemacht, als sie sich nach dem Schiffsunglück um die beiden Deutschen kümmerte. Sie machte seit Tagen nur noch Fehler, und damit kam eines zum anderen, und alles schien plötzlich schief zu laufen.

»Ich glaube, ich möchte jetzt schlafen gehen«, sagte sie, »ich bin sehr müde.«

Ohne ihm eine gute Nacht zu wünschen, verließ sie den Raum. Draußen auf der Treppe fasste sie sich erneut an beide Schläfen, hinter denen es leise pochte. Hoffentlich kehrten die Kopfschmerzen nicht zurück. Es reichte, dass allzu viele Bilder und Erinnerungen wiederkamen.

Das alles war so lange verschüttet gewesen. Vielleicht sollte sie nicht weiter daran rühren. Nie hatte sie einem Menschen von jener Zeit erzählt.

Warum ausgerechnet diesem Fremden?