Montag, 28. August

 

1

 

Als Virginia am nächsten Morgen nach einer Nacht voll unruhigen Schlafs und böser Träume die Treppe hinunterkam, klingelte das Telefon. Es war noch nicht einmal halb acht, und für gewöhnlich rief niemand um diese Zeit an. Für einen Moment schwebte sie in der Versuchung, sich taub zu stellen und das Läuten zu ignorieren. Es war Bank Holiday, ein Feiertag, und es gehörte sich nicht, um diese Zeit bei anderen Menschen anzurufen. Allerdings war sie fast sicher, dass Frederic sie zu erreichen versuchte. Wenn auch die meisten Geschäfte heute geöffnet hatten, waren doch die Banken traditionsgemäß geschlossen, und er musste nicht arbeiten. Sie lief ins Wohnzimmer und nahm den Hörer ab. »Ja?«, sagte sie.

»Ich bin es, Frederic. Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt?« »Nein. Ich bin gerade aufgestanden.«

»Hast du dein Kopfweh gestern noch in den Griff bekommen?« »Nein.«

Er schwieg einen Moment. »Das tut mir leid«, sagte er dann. »Ich wollte natürlich nicht, dass du dich quälst.« »Ist schon gut. Es ist jetzt vorbei.«

»Virginia …« Es fiel ihm sichtlich schwer, ihr schon wieder zuzusetzen. »Virginia, ich möchte dich wirklich nicht unter Druck setzen, aber … hast du noch einmal über meine Bitte von gestern nachgedacht?«

Sie hatte natürlich nicht geglaubt, dass der Fall erledigt sei, aber irgendwie hatte sie gehofft, er werde etwas mehr Zeit verstreichen lassen, ehe er in die nächste Runde ging.

»Es ging mir wirklich nicht gut«, sagte sie, »ich habe eigentlich nicht nachdenken können.«

Er seufzte. »Es fällt mir ziemlich schwer zu verstehen, weshalb das alles überhaupt eine Frage ist, die intensives Nachdenken erfordert.«

Sie wollte nicht aggressiv werden, aber es war schon wieder Schärfe in ihrer Stimme, als sie sagte: »Und mir fällt es schwer zu verstehen, weshalb du deine Karriere nicht allein machen kannst!«

Sie wusste, dass er nun auch den Hörer hätte auflegen können, aber er schien wirklich dringend auf ihre Kooperation angewiesen zu sein, denn in einer betont ruhigen Weise, der man seine mühsame Beherrschtheit anmerkte, erwiderte er: »Lass uns nicht streiten. Ich denke, ich habe dir ausführlich erklärt, weshalb ich dich brauche. Warum versuchst du es nicht wenigstens einmal? Alles, was du tun musst, ist, ein hübsches Kleid in den Koffer zu packen und dich in den Zug nach London zu setzen oder dich von Jack fahren zu lassen. Wir gehen zusammen zu der Party, und ich verspreche dir, dass ich dich, wenn du es dann tatsächlich ganz schrecklich findest, nie mehr um einen derartigen Gefallen bitte.«

Er machte das geschickt, das musste sie zugeben. Er war sanft und freundlich und deutete an, sie nicht dauerhaft zu etwas zwingen zu wollen, was ihr zutiefst zuwider war.

Warum versuchst du es nicht wenigstens einmal?

Sie kam sich so schäbig und so unfair vor, wenn sie weiterhin ablehnte, aber der Gedanke, zu einem Fest mit fremden Menschen zu gehen, die sie unbarmherzig taxieren und womöglich mit hochgezogenen Augenbrauen beurteilen würden, war so schrecklich, dass sie ihn rasch wieder beiseite schieben musste, wenn sie nicht erneut Kopfschmerzen bekommen wollte.

»Ich denke nach«, sagte sie, »das verspreche ich dir. Wirklich. Ich überlege es mir.«

Er war mit dieser Antwort natürlich nicht glücklich, schien aber zu begreifen, dass er mehr für den Moment nicht bekommen würde.

»Gib mir Bescheid, wie du dich entschieden hast«, sagte er und legte auf.

Ich habe mich längst entschieden! Und das weißt du! Warum lässt du mich nicht in Ruhe? Warum gibst du mir das Gefühl, ein furchtbarer Mensch zu sein?

Sie ging in die Küche. Der Duft von frischem Kaffee und gebratenen Eiern mit Speck wehte ihr entgegen. Nathan stand an der Anrichte, ließ gerade zwei sanft gebräunte Brotscheiben aus dem Toaster springen und legte sie in den Brotkorb.

»Guten Morgen«, sagte er, »schon wach?«

»Schon ist gut.« Etwas missmutig sah sie zu, mit welcher Unbefangenheit er in ihrer Küche hantierte. Er trug Jeans und ein T-Shirt, das zu eng war für seine breiten Schultern und muskulösen Arme, und als sie genauer hinsah, entdeckte sie, dass es ein T-Shirt war, das Frederic gehörte, der weniger athletisch war. Für Nathan war es einfach eine Nummer zu klein.

»Sie sollten T-Shirts in Ihrer Größe tragen«, sagte sie.

»Was?« Er blickte an sich hinunter. »Ach so. Das gehört nicht mir. Ich fand es in Ihrer Wäschekammer auf einem Stapel Bügelwäsche. Meine Sachen sind ziemlich verschwitzt, und da dachte ich … Ich hoffe, es stört Sie nicht?«

»Nein. Nein, ist schon okay.« Die Wäschekammer befand sich im Keller. Wieso war er bis in den Keller hinuntergegangen? Wieso streifte er überhaupt derart unbekümmert im Haus herum? Auf einmal empfand sie die Vorstellung als beklemmend, dass sie in ihrem Bett gelegen und geschlafen hatte, während er sich überall umsah. In der nächsten Nacht würde sie jedenfalls ihre Tür abschließen. Sollte er in der nächsten Nacht noch da sein.

Er wird da sein, dachte sie resigniert, wenn ich ihn nicht hinauswerfe. Von allein wird er sich nicht einfach umdrehen und verschwinden.

»Ich wollte heute früh eigentlich joggen«, sagte sie, »aber ich habe glatt verschlafen. Das passiert mir sonst nie.«

»Sie haben sich emotional gestern Abend sehr verausgabt. Kein Wunder, dass Sie müde waren. Und dem Joggen sollten Sie nicht nachtrauern. Draußen herrscht Nieselregen, und es ist ziemlich kalt geworden.«

Ihr fiel erst jetzt auf, dass es in der Küche noch düsterer war als gewöhnlich. Sie bemerkte den Regen, der in feinen Bindfäden vor dem Fenster herabrann.

»Es ist plötzlich Herbst geworden«, sagte sie.

»Bald beginnt der September«, meinte Nathan. »Es werden noch schöne Tage kommen, aber nach dieser Abkühlung wird es wohl nicht mehr wirklich warm werden.«

Auf einmal fühlte sie sich traurig. Und seltsam kraftlos.

Er merkte es. »Kommen Sie. Ein heißer Kaffee ist genau das, was Sie jetzt brauchen. Und ein Toastbrot mit Rührei. Ich mache ziemlich gute Rühreier.«

Sorgfältig richtete er ihr Frühstück auf einem Teller an. Erstaunt, wie angenehm das Gefühl war, umsorgt zu werden, ließ sie sich auf einen Stuhl am Tisch sinken und nahm den ersten Schluck Kaffee. Er war genau richtig. Stark und belebend, aber nicht bitter.

»Sie machen auch einen guten Kaffee«, sagte sie.

Er lächelte. »Ich bin bei uns daheim für die Küche verantwortlich. Man gewinnt Erfahrung im Lauf der Jahre.«

Die Erwähnung seines Zuhauses brachte sie auf einen Gedanken. »Ich habe Sie das gestern gar nicht gefragt - wie geht es Livia?«

»Nicht besser, nicht schlechter.« Er zuckte nicht die Schultern, als er das sagte, aber die Antwort klang wie ein Schulterzucken. Ziemlich gleichgültig.

»Sie waren aber bei ihr?«, hakte sie nach. Sie erinnerte sich, dass er so fröhlich und gelöst von seinem Krankenbesuch zurückgekehrt war, dass sie einen Moment lang durchaus die Möglichkeit in Erwägung gezogen hatte, er sei gar nicht dort gewesen.

Er sah sie amüsiert an. Inzwischen hatte er ihr gegenüber am Tisch Platz genommen und sich auch einen Kaffee eingeschenkt, auf Toast und Rührei jedoch verzichtet. »Weshalb sollte ich nicht bei ihr gewesen sein? Deswegen hatte ich mir schließlich Ihr Auto ausgeliehen!«

Sie kam sich albern vor. »Ich dachte nur … Sie wirkten so ausgeglichen. Ich glaube, wenn mein Mann mit einem schweren Schock im Krankenhaus läge, wäre ich ziemlich bedrückt.«

»Das würde aber an der Situation nichts ändern.«

»Nein. Natürlich nicht.« Betont gleichmütig fügte sie hinzu: »Was sagen eigentlich die Ärzte? Sie haben doch bestimmt mit einem Arzt gesprochen, oder? Wann wird es Ihrer Frau besser gehen?«

Diesmal zuckte er wirklich mit den Schultern. »Da hält man sich mit den Prognosen ziemlich zurück. Denen ist es ja erst einmal wichtig, sie körperlich wieder aufzubauen. Für die Psyche wird man dann wohl eine andere Art von Klinik brauchen.«

»Meinen Sie, sie muss in eine psychiatrische Klinik?«

»Vielleicht. Ich würde es nicht ausschließen. Sie war psychisch schon immer … ziemlich labil. Diese Geschichte nun ist natürlich eine Katastrophe für sie.«

Virginia überlegte krampfhaft, wie sie das Thema Rückkehr nach Deutschland am besten anschneiden könnte, vielleicht mit einer Frage nach guten deutschen Kliniken … Oder sollte sie direkt auf die deutsche Botschaft zu sprechen kommen … Oder ihn ganz unmittelbar fragen, wann er denn nun die Heimreise anzutreten gedenke …

Doch während sie noch nachdachte und mit ihren Hemmungen rang, sagte er auf einmal unvermittelt: »Hier in der Gegend ist schon wieder ein kleines Mädchen verschwunden.«

»Was?«

»Ich hatte den Fernseher an, während ich das Frühstück machte. Sie berichteten über ein Kind, das kürzlich hier in der Gegend gekidnappt und wenig später ermordet aufgefunden wurde. Und seit gestern wird schon wieder eines vermisst.«

»Das ist ja entsetzlich!« Sie starrte ihn an, vergaß völlig ihre Absicht, ihn auf irgendeine Weise hinauszukomplimentieren. »Ein Mädchen aus King's Lynn?«

»Ja. Sie nannten den Namen, aber ich weiß ihn nicht mehr. Sie wollte zum Kindergottesdienst gehen, kam dort aber nie an. Und ist wohl seither auch nicht mehr aufgetaucht.«

»Wie furchtbar! Wie furchtbar für die Eltern!«

»Wann holen Sie Ihre Tochter ab?«

»Heute Abend.«

Sie schob sich die nächste Gabel Rührei in den Mund, aber obwohl sie es zuvor köstlich gefunden hatte, schmeckte es ihr plötzlich nicht mehr. »Ich dürfte Kim eigentlich keinen Moment mehr aus den Augen lassen.«

»Bei der anderen Familie und in Gesellschaft eines weiteren Kindes wird ihr schon nichts passieren«, sagte Nathan beruhigend, »und hier bei Ihnen auch nicht. Aber sie sollte alleine keine längeren Wege unternehmen.«

»Auf keinen Fall.« Sie schob ihren Teller weg. »Nathan, Ihr Rührei schmeckt fantastisch, aber ich fürchte, ich kann im Moment nichts mehr essen. Ich …«

Er sah sie besorgt an. »Ich hätte jetzt nicht davon anfangen sollen.«

»Ich hätte doch sowieso davon gehört.«

»Was tun Sie heute Morgen? Was tun Sie an so einem kühlen, verregneten Morgen?«

»Ich weiß es nicht. Heute Nachmittag werde ich auf jeden Fall nach King's Lynn fahren. Ich möchte etwas einkaufen. Dann werde ich Livia besuchen. Und dann Kim abholen.«

Er nickte. »Ein guter Plan.«

Sie hielt sich an ihrer Kaffeetasse fest. Das Porzellan war heiß, die Wärme schien sich von ihren Händen aus langsam über den ganzen Körper auszubreiten; ein tröstliches, beruhigendes Gefühl. Der Wetterumschwung deprimierte Virginia, auf einmal kam ihr das Haus, ihre geliebte, vertraute Höhle, düster und kalt vor. Dazu die Nachricht von dem verschwundenen Mädchen, Frederic mit seinem Drängen und seiner Gereiztheit, das Gefühl, dass sie sich mit Nathan und Livia in etwas verstrickt hatte, das sich zunehmend ihrer Kontrolle entzog … Ja, der einzige Trost war tatsächlich diese Tasse mit schönem, heißem Kaffee und die Wärme, die der Herd noch verströmte, nachdem Nathan die Eier darauf gebraten hatte.

Nathan neigte sich vor. In seinen Augen standen Anteilnahme und aufrichtiges Interesse.

»Es geht Ihnen nicht gut, nicht wahr?«

Sie atmete tief. »Doch. Ich habe nur ein paar Probleme, das ist alles.«

»Ein paar Probleme? Die müssen schwerwiegend sein, sonst würden Sie nicht so traurig aussehen.«

Etwas gereizt gab sie zurück: »Es sind meine Probleme!«

»Pardon!« Er lehnte sich wieder zurück, stellte den ursprünglichen Abstand zu ihr her. »Ich möchte nicht zudringlich erscheinen.«

»Schon gut. Es ist nur …« Sie stockte schon wieder. Es war ein guter Moment. Er hatte das Wort zudringlich in den Mund genommen. Das war eine Steilvorlage. Jetzt sag es ihm! Sag ihm, dass er hier nicht ewig bleiben kann. Dass er endlich seine Heimreise organisieren muss. Dass es so nicht geht – hier einzuziehen, sich in deinem Haus zu bewegen, als sei es sein eigenes, keinerlei Angaben zu seinen weiteren Plänen zu machen. Mach ihm klar, dass …

Er unterbrach ihre Gedanken, noch ehe es ihr gelungen war, die in ihrem Verstand fertig formulierten Sätze auszusprechen.

»Wissen Sie, worüber ich seit gestern Abend nachdenke?«, fragte er. »Ich überlege immerzu, was damals geschehen ist. Denn irgendetwas muss geschehen sein, nicht wahr? Weshalb konnten Sie Michael, den ewigen Jammerlappen, nicht verlassen? Warum hielten Sie Ihre Beziehung zu Andrew Stewart geheim? Und warum … sind Sie heute mit Frederic Quentin verheiratet? Und nicht mit Andrew Stewart?«


2

 

Michael

 

Etwa sechs Wochen nach ihrer ersten Begegnung erfuhr Virginia, dass Andrew Stewart verheiratet war.

Es war Dezember, kurz vor Weihnachten, und er hatte sie eingeladen, mit ihm über ein verlängertes Wochenende in das Ferienhaus eines Freundes in Northumberland zu fahren. Virginia hatte sich für dieses Wochenende eigentlich vorgenommen, ein langes und ernstes Gespräch mit Michael zu führen, ihm von Andrew und ihrer Beziehung zu erzählen, um sein Verständnis zu bitten und sich dann offiziell von ihm zu trennen. Sie hatte diese Aussprache wochenlang vor sich hergeschoben; sie lag ihr schwer im Magen, und als Andrew von der gemeinsamen Reise sprach, war sie froh, erneut einen Aufschub gewonnen zu haben.

Sie erzählte Michael etwas von einem Wellness-Wochenende, das sie gemeinsam mit einer Freundin geplant habe, und als er wissen wollte, um welche Freundin es sich handelte, behauptete sie, es gehe um ein Mädchen aus ihrer wilden Londoner Zeit, das er nicht kenne. Sie kam sich ziemlich schäbig vor und schwor sich, dieses Lügenspiel nicht länger zu spielen.

Michael hatte ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren, und zudem wollte sie sich endlich in aller Offenheit zu Andrew bekennen.

Northumberland sah in jenem Winter kaum Schnee, dafür Regen und Nebel ohne Ende. Die Welt schien aus kalter, klammer Feuchtigkeit zu bestehen. Das Haus lag sehr einsam, und schon auf dem Weg dorthin blieben sie mit Andrews Auto in einem Schlammloch stecken und mussten im strömenden Regen das Hinterrad mit bloßen Händen freischaufeln, was ihnen erst weit nach Einbruch der Dunkelheit schließlich glückte. Sie waren beide fast erfroren und langten mit nicht einem einzigen trockenen Faden mehr am Körper in dem alten Haus an. Dort empfing sie feuchte, abgestandene Luft und wiederum eisige Kälte. Andrews Freunde waren vergangene Ostern dort gewesen, den Sommer und Herbst über hatte das Haus leer gestanden, und niemand hatte sich in der Zwischenzeit gekümmert.

»Vielleicht war es doch keine so gute Idee, hierher zu kommen«, meinte Andrew, als er feststellte, dass er erst Holz würde hacken müssen, um den einzigen Kamin anzuheizen, während Virginia zitternd und zähneklappernd auf eines der Sofas sank, beide Arme eng um sich schlang und für den Moment offensichtlich zu keiner vernünftigen Handlung mehr in der Lage war.

»Dddoch … es … wwwar eine wun … wunderbare Idee«, erwiderte sie und nieste.

Zum Glück hatte Andrew mehr Energie als sie, und irgendwann am späteren Abend brannte ein warmes Feuer, ein paar Schnäpse wärmten von innen, und Virginia kochte in der herrlich altmodischen Küche einen riesigen Topf Tomatensuppe, von der sie sich in den nächsten beiden Tagen ernährten. Virginia hatte sich bei der Autopanne im Regen leicht erkältet und war während des gesamten Aufenthalts damit beschäftigt, diese Erkältung in Schach zu halten; sie trug ständig einen kratzigen Wollschal um den Hals und lutschte Eukalyptusbonbons, aber auch diese Umstände konnten ihr tiefes Glücksgefühl nicht trüben. In Gummistiefeln und dicken Regenjacken unternahmen sie lange Wanderungen über die nebligen Hochmoore und durch die nassen Täler. Stundenlang begegneten sie keinem einzigen Menschen, nur hin und wieder ein paar Schafen, die mit zotteligem, triefend nassem Fell einsam über ihr Weideland streiften. Virginia, die die Metropole London gewöhnt war und das quirlige Studentenleben von Cambridge, hätte nie geglaubt, dass sie sich im kargen, menschenleeren Norden Englands so wohl fühlen könnte. Nirgends war ein Ort erreichbar, an dem sie einfach irgendwelchen Vergnügungen hätten nachgehen können. Das nächste Dorf lag sechs Meilen entfernt. In einem kleinen Gemischtwarenladen dort kauften sie Brot und Butter ein, und einmal gingen sie abends in das einzige Pub am Ort. Sie tranken dunkles Bier, lauschten den paar wenigen anwesenden alten Männern, die wild politisierten und stritten, und fuhren dann Hand in Hand und voller Zufriedenheit zu ihrem Häuschen zurück.

Virginia vermisste nichts – keine Partys, keine neuen, aufregenden Menschen, weder Glitzer noch Glamour. Es ging nur um das Zusammensein mit Andrew, in langen, dunklen Dezembernächten voller Zärtlichkeit und an kurzen, verregneten Tagen, die verzaubert schienen.

Einmal dachte sie an Michael an ihrem letzten Morgen in Northumberland. Sie saß im Schlafanzug vor dem Kamin im Wohnzimmer und trank einen Becher Kaffee, während jenseits des Fensters endlich ein paar Schneeflocken fielen. Aus dem Radio erklang Weihnachtsmusik. Andrew lag, ebenfalls noch im Schlafanzug, auf dem Sofa und bemerkte plötzlich, dass sie minutenlang abwesend aus dem Fenster starrte.

»Was ist los?«, fragte er. »Du bist auf einmal ganz weit weg.«

Sie wandte sich um.

»Ich musste gerade an Michael denken«, sagte sie, »und daran, dass ich ihm noch vor Weihnachten alles über uns erzählen will. Es fällt mir nicht leicht, weißt du. Er hat sich immer an mir festgehalten, ich war immer seine Zuflucht, seine Beschützerin. Aber es ist schrecklich, ihn ständig zu belügen. Und mir graut bei der Vorstellung, dass er Weihnachten ganz allein verbringen muss. Seine Mutter lebt nicht mehr, zu seinem Vater hat er keinen Kontakt. Vielleicht kann er zu meinen Eltern gehen, aber die wohnen inzwischen den größten Teil des Jahres auf Menorca. Er steht ihnen recht nahe …«

Andrew sagte nichts. Sie dachte, dass er vielleicht keinen Grund sah, sich um das Wohlergehen seines Vorgängers viele Gedanken zu machen.

»Er wird seinen Weg finden«, sagte sie, mit leichterer Stimme, als sie sich tatsächlich fühlte, »und ich möchte Weihnachten auf jeden Fall mit dir verbringen. Nicht mehr mit ihm.«

Andrew sagte noch immer nichts. Er stand von seinem Sofa auf, trat vor den Kamin, legte einen neuen Scheit ins Feuer.

»Andrew?«, fragte Virginia unsicher.

Er blickte in die Flammen, die sich knisternd und prasselnd auf das neue Stück Futter stürzten.

Virginia stellte ihren Kaffeebecher ab. »Andrew, was ist los?«

Er sah sie nicht an. »Wegen Weihnachten«, sagte er. »Schatz, Virginia, es wird nicht gehen, dass wir zusammen feiern.« »Warum denn nicht?«

Er holte tief Luft. »Wegen Susan«, sagte er, »meiner Frau. Sie trifft am 23. Dezember in Cambridge ein.«

Tiefes Schweigen folgte seinen Worten, aber in dieser Stille dröhnte die ganze Ungeheuerlichkeit dessen, was er gesagt hatte.

»Wie bitte?«, fragte Virginia nach einer Weile, ebenso fassungslos wie ungläubig.

Andrew wandte sich endlich zu ihr um und schaffte es, ihr in die Augen zu blicken. Er wirkte bekümmert, aber zugleich auch ein wenig erleichtert, wie jemand, der sich entschlossen hat, ein unangenehmes Vorhaben nicht länger aufzuschieben, sondern anzupacken.

»Es tut mir leid, Virginia. Ich hätte es dir längst sagen sollen. Ich bin verheiratet.«

»Aber …« Sie fasste sich an den Kopf, als könne sie mit dieser Bewegung Ordnung in ihre sich wild überschlagenden Gedanken bringen.

»Ich war in den letzten Wochen ständig drauf und dran, es dir zu sagen. Aber nachdem ich die richtige Gelegenheit am Anfang versäumt hatte, erschien plötzlich jeder Moment unseres Zusammenseins irgendwie unpassend. Ich war zu feige, Virginia. Ich hoffte auf eine günstige Gelegenheit. Ich hätte wissen müssen, dass es in Fällen wie diesem so etwas wie eine günstige Gelegenheit gar nicht gibt. Und dass jeder Tag, den ich verstreichen lasse, alles nur schlimmer macht.«

»Deine Frau …«

»… lebt im Moment noch in London. Sie ist dort Lehrerin an einer Schule. Ich bekam die Chance, in Cambridge Partner in einer großen Kanzlei zu werden, und ich musste diese Gelegenheit ergreifen. Für Susan bot sich natürlich nicht zeitgleich eine Möglichkeit für einen beruflichen Wechsel, daher blieb sie vorläufig in London. Im nächsten September kann sie an eine Schule in Cambridge wechseln.«

Sie war wie vor den Kopf geschlagen.

»Ich kann es kaum glauben«, flüsterte sie.

Andrew war mit zwei Schritten bei ihr, kauerte sich neben sie und ergriff ihre Hände.

»Virginia, ich spreche mit Susan«, sagte er. »Ich werde ihr von dir erzählen. Ich werde … alles in Ordnung bringen.«

Immer noch betäubt sah sie zu ihm auf.

»Was heißt das – in Ordnung bringen?«

»Ich werde sie um die Scheidung bitten«, sagte Andrew.

 

Später dachte Virginia oft, dass sie sich genauso verhalten hatte wie manche Frauen, von denen sie gehört und gelesen und die sie verachtet hatte. Frauen, die sich hinhalten, vertrösten und mit äußerst durchsichtigen Argumenten immer wieder beschwichtigen ließen.

Tatsächlich nämlich geschah zunächst nichts. Virginia feierte Weihnachten mit Michael, Andrew mit Susan, und es fanden keinerlei Aussprachen statt. Virginia mochte Michael nicht gestehen, dass sie sich mit einem verheirateten Mann eingelassen hatte und nun darauf warten musste, dass er sich aus seiner Ehe löste, und so sagte sie vorläufig überhaupt nichts. Was bedeutete, dass alles weiterlief wie bisher: Susan Stewart reiste Anfang Januar nach London zurück, und Virginia und Andrew nahmen ihre geheimen Treffen wieder auf. Anstatt sich zu klären, nahm die Geschichte immer konspirativere Züge an. Andrew mochte Virginia nicht mehr, wie noch zu Beginn ihrer Beziehung, in seiner Wohnung empfangen, nachdem alle übrigen Hausbewohner nun wussten, dass es eine Mrs. Stewart gab, und Virginias Ein-Zimmer-Apartment kam wegen Michael nicht in Frage. Also verlegten sie ihre Begegnungen in einsame Landgasthöfe oder kleine Hotels in anderen Städten. Sie fühlten sich unvermindert heftig zueinander hingezogen, verbrachten Stunden voller Leidenschaft und Zärtlichkeit – und schienen sich doch zunehmend in einer gewissen Stagnation zu verfangen. Virginia litt an den Wochenenden, an denen Susan nach Cambridge kam, aber sie sagte sich, dass Andrew auch ihre Nähe zu Michael aushalten musste. Natürlich fragte sie ihn oft, ob er bereits mit Susan gesprochen habe. Andrew begegnete ihren Fragen ausweichend.

»An Weihnachten und Silvester ging es einfach nicht«, sagte er nach den Winterferien, »ich brachte es nicht fertig. Der Dezember ist einfach ein furchtbar sentimentaler Monat.«

Später wies er dann häufig auf Susans Stress hin. »Sie war wieder fix und fertig von der Arbeitswoche. Sie hat schreckliche Klassen. Sie muss Beruhigungsmittel nehmen, um morgens überhaupt zur Arbeit gehen zu können. Ich glaube, sie bricht zusammen, wenn ich ihr jetzt mit Scheidung komme.«

Virginia hatte gehofft, er werde ihr zu ihrem Geburtstag Anfang Februar die Aussprache mit Susan gewissermaßen zum Geschenk machen, aber auch diese Vorstellung zerschlug sich. Stattdessen versprach er, er werde mit ihr im Frühling nach Rom fahren. Virginia freute sich, aber sie dachte, dass es nicht das war, was sie beide weiterbringen würde.

Sie war in der »Ewigen Stadt« noch nie gewesen und verliebte sich auf den allerersten Blick. Das pulsierende Leben, die strahlende Sonne, die Wärme, das Wandern über einen Boden, der von Geschichte getränkt war, faszinierten sie nicht nur, sondern gaben ihr ein andauerndes Leichtigkeitsgefühl, so als habe sie Sekt getrunken. Als sie über die Engelsbrücke auf die Engelsburg zugingen, musste sie einen Moment stehen bleiben und tief atmen, sich fast vergewissern, dass sie nicht träumte. Es kam jedoch gerade auf dieser Brücke im Angesicht der gewaltigen Burg zu einem seltsamen Erlebnis: Sie hatte plötzlich Angst. Von einer Sekunde zur anderen überfiel sie ein panikähnliches Gefühl, sie atmete ein zweites und ein drittes Mal tief durch, nun jedoch, weil ihre Brust auf einmal eng zu werden schien.

»Was ist los?«, fragte Andrew, der neben ihr stand und eifrig fotografierte. Er ließ die Kamera sinken und starrte sie an. »Du bist ja ganz blass!«

»Ich weiß auch nicht …«

»Die Sonne«, meinte er. »Komm, wir gehen zurück und setzen uns irgendwo in den Schatten. Es ist wirklich heiß heute, und …«

»Nein. Es ist nicht die Sonne.« Der Druck wich, sie spürte, dass wieder etwas Farbe in ihre Wangen zurückkehrte. »Ich hatte auf einmal … so ein Gefühl … als ob …«

»Ja?«, fragte er, als sie nicht weitersprach.

»Es ist so albern.« Sie strich sich mit der Hand über die Stirn. Sie war schweißnass. »Ich glaubte plötzlich zu wissen, dass das alles bald vorbei ist. Dass ich zum letzten Mal glücklich bin.«

»Was soll bald vorbei sein?«

»Die Leichtigkeit. Ich habe mich lange nicht mehr so leicht gefühlt wie hier in dieser Stadt. In diesem Frühling. Mit dir. Mir kommt das vor wie der Höhepunkt meines Lebens. Danach wird es abwärts gehen.«

»O Gott, mein Liebes, das sind aber verrückte Einbildungen!« Er nahm sie in die Arme. Sie presste ihr Gesicht gegen seine Schulter und lauschte seiner tröstenden Stimme. »Du bist gerade erst dreiundzwanzig Jahre alt! Da beginnt das Leben noch lange nicht abwärts zu gehen. Auf dich warten noch so viele wunderbare Momente. Du wirst sehen.«

Sie fand es befremdlich, dass er gesagt hatte: Auf dich warten noch so viele wunderbare Momente. Warum hatte er nicht gesagt: Auf uns warten noch so viele wunderbare Momente?

Sie sprach ihn darauf an. Er reagierte etwas verärgert. »Meine Güte, Virginia! Musst du jedes Wort von mir auf die Goldwaage legen? Schließlich haben wir gerade von dir gesprochen. Nicht von mir. Du bist wirklich manchmal schwierig.«

Sie sah zur Burg hinüber, dann in die tief unter ihr rauschenden dunklen Fluten des Flusses.

Wahrscheinlich hatte er Recht. Sie hatte seinen Worten viel zu viel Bedeutung beigemessen. Sie wunderte sich über sich selbst. Fröhlich, wild und lebenslustig, wie sie war, hatte sie nie dazu geneigt, sich in Grübeleien zu stürzen, den unausgesprochenen Worten anderer Menschen hinterherzulauschen. Warum tat sie es jetzt? Ausgerechnet an diesem herrlichen, sonnigen Tag hoch über dem Tiber, zu Füßen der Engelsburg?

Weil mir die ungeklärte Situation mehr zusetzt, als ich vor mir selbst zugeben möchte, dachte sie und drängte diesen Gedanken gleich darauf erschrocken und mit großer Konsequenz zur Seite.

Die zauberhafte Woche mit Andrew in Rom wollte sie sich durch nichts zerstören lassen.

Am Abend gingen sie wieder zur Spanischen Treppe. Das taten sie an fast jedem Abend, denn das kleine, lauschige Hotel, in dem sie abgestiegen waren, lag nur wenige Minuten entfernt. Da es bis tief in die Nacht hinein sommerlich warm war, hielten sich unzählige Menschen dort auf. Es machte Spaß, einfach auf den Stufen zu sitzen und alles zu beobachten, was ringsum geschah, den vielen Stimmen zu lauschen und dem Hupen der Autofahrer. Nacht für Nacht war der Himmel wolkenlos und wie schwarzer Samt, übersät von Sternen. Andrew machte Fotos von Virginia. Auf allen Bildern hatte sie glücklich funkelnde Augen und schien voller Freude und Lebenslust.

Nie mehr vorher oder nachher würde es Fotos geben, die sie so strahlend zeigten.

Das Glück endete am Tag ihrer Abreise.

Es war früher Morgen, erstes Tageslicht sickerte durch die schmalen Ritzen der hölzernen Fensterläden vor ihrem Zimmer. Leise noch und zaghaft erwachte Rom draußen zum Leben. Virginia und Andrew liebten einander mit der Intensität und Hingabe, die das Bewusstsein des nahenden Abschieds in ihnen weckte. Mittags ging ihr Flug nach London. Abends schon würde Virginia wieder am Tisch mit Michael sitzen, seiner etwas umständlichen Art zusehen, mit der er sich ein Brot belegte, und würde seinem stets leicht larmoyanten Tonfall lauschen, mit dem er erzählte, wie sehr er unter ihrer Abwesenheit gelitten und wie allein er sich gefühlt hatte. Sie würde von ihrer Studienreise nach Rom berichten. Es war im Vorfeld nicht leicht gewesen, ihn davon zu überzeugen, dass sie unbedingt allein fliegen wollte. Genau genommen hatte sie ihn überhaupt nicht überzeugt, es war ihm nur nichts anderes übrig gehlieben, als letztlich ihren Willen zu akzeptieren. Kr hatte sie jeden Morgen in ihrem Hotel angerufen und wissen wollen, ob sie sich allein wirklich besser fühlte als mit ihm zusammen. Manchmal war er ihr so auf die Nerven gegangen, dass sie hätte schreien mögen.

Jetzt, an diesem letzten Morgen, eng an Andrew geschmiegt, ermattet von der Liebe und geborgen im Nachklang ihrer völligen Verschmelzung, dachte sie plötzlich: Es kann so nicht weitergehen. Es ist unwürdig und schrecklich.

Sie richtete sich auf.

»Andrew, bitte, es kann nicht immer so bleiben wie jetzt«, sagte sie.

Andrew öffnete die Augen, sah sie an. »Was meinst du?«

»Na, alles. Die Lügen. Die Heimlichkeiten. Unser häufiges Getrenntsein. Unsere Liebesstunden in irgendwelchen Hotels. Das hatte sicher anfangs seinen Reiz, aber inzwischen finde ich es nur noch … belastend. Und irgendwie … häßlich.«

Er seufzte, setzte sich ebenfalls auf. Mit der rechten Hand strich er sich über die Augen. Er sah plötzlich sehr müde aus.

Virginia spürte eine leise Beklemmung in ihrer Brust, ähnlich dem Gefühl, das sie auf der Engelsbrücke befallen hatte. Irgendetwas stimmte nicht. Andrew wirkte so gequält.

»Andrew«, fragte sie leise, »du wirst doch bald mit Susan sprechen? Es kann doch nicht ewig so weitergehen.«

Er blickte an ihr vorbei in irgendeine Ecke des Zimmers, in der nichts war als die Dunkelheit der vergehenden Nacht.

»Ich wollte es dir schon die ganze Zeit erzählen«, sagte er so leise wie sie zuvor, »aber mir fehlten die Worte. Mir fehlte der Mut.«

Ihr wurde kalt. Fröstelnd zog sie die Decke enger um ihren Körper. »Was? Was wolltest du erzählen?«

»Es hat sich etwas geändert. Es ist … ich kann nicht mit Susan sprechen. Nicht mehr.«

»Warum nicht?«

»Weil …« Er konnte ihr nicht in die Augen sehen. Er saugte sich förmlich an der leeren, dunklen Ecke fest.

»Susan erwartet ein Kind«, sagte er.

Draußen auf der Straße schrie jemand, gleich darauf ertönte ein Klappern und Scheppern. Lautstark wurde offenbar die Last eines Lieferwagens abgeladen. Zwei Männer schienen miteinander zu streiten. Eine Frau mischte sich mit schriller Stimme ein.

Virginia hörte es kaum. Nur als ein fernes Geräusch im Hintergrund, unwirklich und wie aus einer anderen Welt stammend.

»Was?«, fragte sie fassungslos.

»Sie hat es mir Ende Februar gesagt.«

»Aber wie … ich meine … wann … ?«

»Im September«, sagte Andrew, »es wird Mitte September zur Welt kommen.«

Ihr wurde schwindelig, sie musste sich an das wuchtige, hölzerne Kopfteil des Bettes lehnen.

»Im September«, sagte sie. »Dann wurde es also im Dezember …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende.

Andrew sah aus, als wollte er am liebsten die Flucht ergreifen. »Ja, im Dezember«, bestätigte er, »als Susan in Cambridge war. Wir hatten beide getrunken, es war Weihnachten … es passierte einfach …«

Sie hatte sofort begriffen, wie die Dinge lagen, und doch gegen jede Vernunft gehofft, alles verhielte sich ganz anders. »Du hast immer gesagt, dass ihr seit über einem Jahr nicht mehr …«

»Das stimmte auch. Es war nur dieses eine Mal. Aus einer Stimmung heraus, aus einer Champagnerlaune … Ich habe es später selbst nicht mehr verstanden.«

»Du bist ganz sicher, dass es dein Kind ist?«

»Ja«, sagte Andrew.

Der Schwindel wurde stärker. Sie öffnete den Mund, um zu schreien. Aber sie brachte keinen Laut hervor.

 

3

 

Janie Brown hasste den Mittagsschlaf, zu dem sie während ihrer Schulferien jeden Tag nach dem Essen verdonnert wurde. Er erschien ihr als eine schreckliche Zeitverschwendung. Zudem fand sie ihn so sinnlos: Während der Schulzeit musste sie1 ja auch nicht schlafen, denn da kam sie ohnehin erst irgendwann am Nachmittag zurück.

Aber Mum bestand auf dieser halben Stunde Ruhe, ganz gleich, wie oft Janie versicherte, kein bisschen müde zu sein. Einmal, während einer ihrer heftigen Diskussionen um dieses Thema, hatte sie gesagt: »Ich brauche einfach ein wenig Zeit für mich!« Seither argwöhnte Janie, dass sie nur ins Bett geschickt wurde, damit Mum sich nicht mit ihr beschäftigen musste. Sie setzte sich mittags immer entweder ins Wohnzimmer oder im Sommer auf den kleinen Balkon und rauchte hektisch fünf oder sechs Zigaretten hintereinander. Das sei ihre Art zu entspannen, hatte sie Janie einmal erklärt. Mum musste viel arbeiten. Sie hatte einen Job in einer Wäscherei, wo sie die Wäsche anderer Leute wusch und bügelte, und sie war immer fix und fertig. Normalerweise blieb sie während ihrer Mittagspause im Betrieb, aber wenn Janie Ferien hatte und nicht in der Schule essen konnte, kam sie nach Hause geeilt, um rasch irgendetwas zu kochen. Sie selbst rührte davon kaum etwas an.

»Ich ernähre mich von Zigaretten«, sagte sie oft, aber Janie dachte, dass die sie kaum richtig satt machen konnten, denn Mum war entsetzlich dünn. Um zwei Uhr musste sie wieder weg und kam dann erst abends zurück. Janie fühlte sich manchmal sehr allein. Die Mütter ihrer Freundinnen waren zu Hause, spielten mit ihren Kindern, kochten ihnen am Nachmittag Kakao und machten ihnen Marmeladenbrote. Dafür waren diese Kinder allerdings nicht so selbstständig. Sie hatte gehört, wie die Mutter ihrer Freundin Sophie zu Mum gesagt hatte: »Ich staune immer wieder, wie selbstständig Ihre Janie ist!«

Manchmal, wenn sie sich traurig und einsam fühlte, dachte sie daran, und es ging ihr sofort besser. Sie hatte aber auch manch anderes aufgeschnappt, und das war nicht so erfreulich. Sie wusste, dass man Mum »alleinerziehend« nannte und dass dies ein Umstand war, der bei vielen Leuten ein an Verachtung grenzendes Mitleid auslöste. Mrs. Ashkin, die im Haus zwei Etagen unter ihnen wohnte, hatte zu ihrer Nachbarin gesagt, Janies Vater sei unbekannt, und sie hatte hinzugefügt: »Kommen wahrscheinlich zu viele in Frage …« Janie wusste nicht, was sie damit meinte, aber der Tonfall und der Gesichtsausdruck von Mrs. Ashkin hatten ihr gezeigt, dass Mum offenbar schon wieder irgendetwas getan hatte, was ihr die Verachtung der Leute einbrachte.

Janie hatte sich immer nach einem Vater gesehnt. Oder – vielleicht nicht immer, aber zumindest seit der Zeit, als sie zu begreifen begann, dass in ihrem Leben etwas anders war als bei den übrigen Gleichaltrigen. Seit den Tagen der Play School, als sie begonnen hatte, nachmittags andere Kinder zu besuchen und zu Geburtstagspartys zu gehen, war ihr aufgegangen, dass es in anderen Familien einen Daddy gab. Daddys waren etwas ganz Tolles. Die Woche über mussten sie arbeiten, verdienten das Geld und sorgten so dafür, dass die Mütter daheim bleiben und sich um ihre Kinder kümmern konnten. An den Wochenenden gingen sie mit den Kindern zum Schwimmen, unternahmen Fahrradtouren oder brachten den Kindern das Skateboardfahren bei. Sie reparierten zerbrochenes Spielzeug, flickten Fahrradschläuche, erzählten Witze und halfen, Baumhäuser zu bauen. Sie luden die Familie in den Tierpark oder zum Pizzaessen ein. Sie waren nicht nervös und halb verhungert und sagten nicht dauernd, dass sie Ruhe brauchten. Oft waren sie genau für die Unternehmungen zu haben, vor denen die Mütter warnten. Zum Beispiel im Schlauchboot einen Nebenfluß des Great Ouse entlangzuschippern. Das hatte der Vater von Katie Mills mit fünf Kindern an Bord getan, und Janie hatte es kaum fassen können, dass sie dabei sein durfte. Gut, natürlich war auch etwas schief gegangen, die unsportliche Alice Munroe war ins Wasser gefallen, aber außer dass sie hinterher patschnass war und von allen ausgelacht wurde, war überhaupt nichts passiert. Sie hatten einfach alle einen Riesenspaß gehabt.

Janie konnte sich absolut nicht vorstellen, dass ihre Mutter jemals so etwas tun würde. An einem Wochenende eine Bootstour mit fünf Kindern zu machen … o Gott, das war undenkbar! Mum mit ihrer Nervosität und ihrem ständigen Kopfweh und ihrer Unfähigkeit, während ihrer Freizeit länger als zehn Minuten ohne eine Zigarette auszukommen … Mum mochte es nicht einmal, wenn Janie am Samstag oder Sonntag eine Freundin zu sich einlud. Und nicht einmal an ihrem Geburtstag im September durfte Janie eine richtige Party veranstalten.

»Du kannst ein Mädchen mitbringen«, sagte Mum immer wieder, »und ich gebe dir etwas Geld, damit du für euch beide ein Stück Kuchen kaufen kannst.«

Das war alles. Wenn sie jedoch einen Daddy hätten … Wenn Mum sich in einen Mann verlieben und ihn heiraten würde …

Und bald war es ja wieder so weit. Heute war der 28. August. Am nächsten Freitag begann schon der September. Und am 17. September war ihr, Janies, neunter Geburtstag. Ein Sonntag in diesem Jahr. Wie wundervoll wäre es, wenn sie alle ihre Freundinnen einladen könnte! Auf kleinen Einladungskärtchen mit vorgedrucktem Text:

Liebe … ich würde mich sehr freuen, wenn Du am … den … um … Uhr zu meinem Geburtstag kommen würdest.

Deine …

Janie hatte sich die Karten im Schreibwarenladen schon ausgesucht. Sie waren lindgrün und mit vielen kleinen Glückskäfern und Kleeblättern bedruckt. Sie wusste auch schon ganz genau, wer alles eine solche Einladung bekommen sollte, sie hatte sich eine Liste gemacht, die sie in ihrer Schreibtischschublade verwahrte. Sie hatte geplant, welchen Kuchen es geben sollte, welche Spiele sie spielen würden und wie die kleinen Geschenke aussehen sollten, die ihre Gäste dabei gewinnen konnten. Es war alles perfekt. Nur – Mum würde nicht mitmachen. Das wusste sie.

Es regnete draußen in Strömen. Janie fand den Mittagsschlaf deshalb nicht ganz so furchtbar wie am gestrigen Sonntag, als die Sonne geschienen und Mrs. Ashkin morgens gesagt hatte, mit dem schönen Wetter sei es nun bald vorbei. Janie hätte so gern den ganzen Tag unten im Hof gespielt, wo der Hausmeister eine Schaukel aufgestellt hatte. Aber sie hatte hier oben liegen müssen, im sanften Sonnenlicht, das durch die vorgezogenen gelben Vorhänge einfiel. Heute war alles grau, das Zimmer düster.

Sie musste an den Mann denken, den sie am vergangenen Freitag getroffen hatte. Im Schreibwarenladen, als sie sehnsüchtig und unschlüssig vor den Einladungskarten gestanden hatte. Er hatte sie angesprochen. War so richtig nett gewesen. Und sie hatte das Gefühl gehabt, dass er sie wirklich verstand. Er schien auf ihrer Seite zu stehen, ohne dass er Mum schlecht gemacht hatte – was sie ihm auch nie erlaubt hätte.

»Aber das ist doch ganz natürlich, dass du eine Geburtstagsparty veranstalten möchtest«, hatte er gesagt. »Jedes kleine Mädchen, das ich kenne, möchte das! Und diese Einladungskarten hast du dir ausgesucht? Ich muss sagen, die sind wirklich wunderhübsch!«

Er hatte so freundlich ausgesehen. Nett und warmherzig und verständnisvoll. Sie überlegte seither immer wieder, ob er wohl Kinder hatte. Sie fand, dass er eigentlich Kinder haben musste. Er hatte etwas von einem Daddy. Ein bisschen kumpelhaft, und trotzdem konnte man sich anlehnen. Er würde einen trösten, wenn man hinfiel und sich die Knie aufschlug, und er würde dabei nicht schimpfen, weil die Jeans ein Loch bekommen hatten. Er würde sagen, dass das nicht so schlimm sei. Ganz anders als Mum. Mum regte sich entsetzlich auf, wenn etwas kaputtging. Sie schimpfte dann so, dass sie das Trösten ganz vergaß.

Am allermeisten musste Janie jedoch daran denken, dass der Mann gesagt hatte: »Ich würde gern die Party für dich ausrichten! Weißt du, dass ich der beste Kindergeburtstagsveranstalter der Welt bin? Ich habe schon so viele gefeiert, dass man mich getrost einen Experten nennen kann!«

»Aber meine Mum wird das nicht erlauben«, hatte sie eingewandt. »Sie sagt, unsere Wohnung ist zu klein für so etwas. Und wenn dann getobt wird, geht bestimmt etwas kaputt. Meine Mum hat nur ganz wenig Geld, wissen Sie. Deshalb hat sie immer solche Angst, dass etwas herunterfällt und zerbricht!«

Der Mann hatte das völlig verstanden.

»Das ist doch ganz klar. Vielleicht ist eure Wohnung deshalb nicht der richtige Ort für eine solche Party!«

Und dann hatte er den verlockenden Vorschlag gemacht: »Warum lädst du deine Freunde nicht zu mir ein? Ich habe ein großes Haus mit einem Garten. Wenn das Wetter schön ist, feiern wir draußen. Sollte es regnen, nun, dann kümmert uns das auch nicht. Es gibt einen riesigen Hobbyraum im Keller, der eignet sich ganz großartig!«

Das klang natürlich alles zu schön, um wahr zu sein. Der Mann hatte sie dann gleich in seinem Auto mitnehmen wollen, um ihr sein tolles Haus zu zeigen, aber sie hatte Angst gehabt, zu spät zum Mittagessen zu kommen. Mum hasste Unpünktlichkeit. Sie verhängte dann immer gleich ziemlich drastische Strafen: Hausarrest, Fernsehverbot oder Taschengeldentzug. Janie hatte das nicht riskieren wollen.

Doch dann sein Angebot: »Es ist ja noch Zeit bis zu deinem Geburtstag! Du kannst es dir überlegen. Aber du solltest dir wirklich vorher mein Haus ansehen, damit wir genau planen können, wie wir es machen. Pass auf, ich sage dir etwas: Normalerweise bin ich jeden Montag hier und kaufe mir meine Motorradzeitschrift. Heute ist eine Ausnahme. Und ich mache deinetwegen noch eine weitere Ausnahme: Ich komme morgen wieder her. Um die gleiche Zeit. Wie ist es? Kannst du?«

Von wenigen Gelegenheiten abgesehen, arbeitete Mum auch samstags. Zwar nur bis vier Uhr, aber es könnte trotzdem reichen.

»Schon, ja. Aber nicht um diese Zeit. Da muss ich immer zum Essen!«

Er war wirklich nett und entgegenkommend gewesen. »Weißt du, was die Zeit angeht, so ist mir das eigentlich egal. Um wie viel Uhr kannst du denn?«

Sie hatte überlegt. Mum verließ um kurz vor zwei die Wohnung. Wenn sie dann sofort aufstand, sich anzog und gleich loslief, konnte sie um zehn nach zwei an dem Schreibwarenladen sein. Besser, sie gab noch fünf Minuten dazu, um auf Nummer sicher zu gehen.

»Um Viertel nach zwei. Da könnte ich hier sein.«

»Viertel nach zwei passt mir großartig«, hatte der Mann versichert. »Ich werde hier warten, und du kannst dir überlegen, ob du dazustoßen möchtest.«

»Das ist sehr nett von Ihnen«, hatte sie gemurmelt.

Er hatte gelächelt. »Du bist ein besonders hübsches Mädchen, Janie. Und dazu intelligent und freundlich. Wenn ich dir einen Gefallen tun kann, so ist mir das ein Vergnügen.«

Er hatte kurz überlegt und dann hinzugefügt: »Weißt du, Janie, ich denke, unser Plan sollte vorläufig unser Geheimnis bleiben. Ich könnte mir denken, dass deine Mum ärgerlich wird, wenn sie erfährt, dass du ganz ohne sie woanders eine Party feiern möchtest!«

Das konnte sie sich auch denken. Nur allzu gut.

»Aber sie wird es doch merken, wenn ich an meinem Geburtstag weggehe!«

»Klar würde sie das merken. Und kurz vorher sagen wir es ihr auch. Wenn du möchtest, übernehme ich das. Aber dann sollte schon alles perfekt sein. Ich meine, wir sollten uns dann schon genau überlegt haben, was wir deinen Gästen anbieten, was wir spielen und in welcher Reihenfolge. Vielleicht sollten wir schon den Partykeller geschmückt oder im Garten Lampions aufgehängt haben. Wenn sie hört und womöglich sogar sieht, wie viel Mühe wir uns gegeben haben, wird sie bestimmt toll finden, was wir vorhaben!«

Er kannte Mum nicht. Janie konnte sich nicht erinnern, dass ihre Mutter jemals irgendetwas toll gefunden hatte. Aber vielleicht war es einen Versuch wert.

»Und du solltest auch mit deinen Freundinnen noch nicht darüber sprechen«, fuhr der Mann fort, »denn nachher wird das womöglich alles nichts, und dann stehst du blamiert da.«

»Warum sollte es nichts werden?«, hatte sie ganz erschrocken gefragt.

»Nun ja – wenn vielleicht doch noch ein Einwand von deiner Mum kommt. Oder dir gefällt am Ende mein Haus nicht!«

Letzteres konnte sie sich absolut nicht vorstellen. Ersteres dafür umso besser.

»Ja. Da haben Sie Recht.«

»Versprochen?«, fragte er. »Kein Wort zu niemandem?«

»Kein Wort«, hatte sie feierlich gesagt.

Er hatte ihr über die Haare gestrichen. »Wir feiern den schönsten Geburtstag deines Lebens, Janie«, hatte er gesagt.

Und dann das Furchtbare vorgestern, am Samstag: Mum, die schon am frühen Morgen ganz blass gewesen war, hatte sich gleich nach dem Mittagessen, von dem sie wieder nur ein paar Krümel zu sich genommen hatte, übergeben müssen. Sie hatte gesagt, ihr sei sterbenselend, sie könne beim besten Willen nicht in die Wäscherei gehen. Janie wusste, dass es ernst sein musste, denn Mum schleppte sich in fast jedem Zustand zur Arbeit. Sie hatte sich dann noch mal erbrochen, schließlich in der Wäscherei angerufen und sich entschuldigt, und sich dann auf das Sofa im Wohnzimmer gelegt und gesagt, sie glaube sterben zu müssen. Janie hatte sich große Sorgen gemacht, aber fast noch mehr war sie wegen des fremden Mannes beunruhigt gewesen. Um Viertel nach zwei würde er auf sie warten. Sie hatte Mum gefragt, ob sie ihre Freundin Alice besuchen dürfe, das hätte noch eine Chance bedeutet. Aber Mum war sehr ärgerlich geworden. »Einmal bin ich krank! Einmal könnte ich deine Fürsorge gebrauchen! Und da willst du weg! Sehr nett von dir, das muss ich schon sagen!«

Also war Janie geblieben, hatte ihrer Mutter am späteren Nachmittag Tee gekocht und einen geriebenen Apfel serviert und war so unglücklich gewesen wie schon lange nicht mehr. Sicher war der Mann nun sauer auf sie und würde sich nicht mehr blicken lassen.

Am nächsten Tag war Mum wieder gesund gewesen, aber am Sonntag machte es ja keinen Sinn, den Laden aufzusuchen, und Janie hatte kreuzunglücklich zu Hause herumgegammelt. Sie konnte nur beten, dass er tatsächlich am Montag da sein würde. Um seine Motorradzeitschrift zu kaufen.

Mum war zum Glück nicht wieder krank geworden. Und trotz des Bank Holidays ging sie zur Arbeit. Wie viele Arbeitgeber im Land zahlte auch ihre Chefin doppelten Stundenlohn, wenn man den Feiertag ignorierte, und Mum hatte am Morgen erklärt, sie könne jedes zusätzliche Pfund gebrauchen. Nun kam sie aus dem Wohnzimmer, wo sie geraucht und die Wand angestarrt hatte. Wie immer waren ihre Schritte schleppend. Janie fragte sich, wie ein Mensch nur ständig so müde sein konnte.

Jetzt nahm Mum ihren Regenmantel von der Garderobe. Jetzt zog sie ihn an. Strich sich vor dem Spiegel noch einmal über die Haare. Seufzte tief. Sie seufzte jedesmal, bevor sie die Wohnung verlassen und zur Wäscherei gehen musste. Sie hatte einmal zu Janie gesagt, die Arbeit dort sei das Schlimmste, was sie sich je für ihr Leben hätte vorstellen können.

Der Schlüsselbund klimperte leise, als Mum ihn von der Kommode vor dem Spiegel nahm und in ihrer Handtasche verschwinden ließ. Dann ging die Wohnungstür auf. Klappte gleich darauf wieder zu. Mums Schritte verhallten im Treppenhaus.

Mit klopfendem Herzen warf Janie die Bettdecke zur Seite. Sollte sie wirklich …? Es war nicht leicht, etwas zu tun, wovon sie so genau wusste, dass Mum es nicht billigen würde. Aber dann dachte sie wieder an die grünen Einladungskärtchen mit den Glückskäfern und den Kleeblättern darauf. An Lampions im Garten und an gemeinsames Würstchengrillen. Sie musste es tun. Sie musste einfach.

Blitzschnell war sie in ihren Jeans, streifte ihr Sweatshirt über. Nahm ein Paar frische Strümpfe aus dem Schrank und zog dann ihre Turnschuhe an. Sie bürstete sich die Haare und steckte sie mit einer Spange aus der Stirn. Sie wollte hübsch und gepflegt aussehen. Hoffentlich war sie nicht völlig durchweicht, bis sie in dem Laden ankam. Sie verließ das Zimmer, schlüpfte in ihr Regencape.

Ihr Herz klopfte noch mehr, als sie die Wohnung verließ.

Sie wusste, warum: Sie hatte schreckliche Angst, er könnte nicht da sein.

 

4

 

Es war kurz vor halb drei Uhr am Nachmittag, als Virginia ihren Wagen am Tuesday Market Place in King's Lynn parkte, jenem Platz im Zentrum der Stadt, auf dem in vergangenen Jahrhunderten regelmäßig Hinrichtungen und Hexenverbrennungen stattgefunden hatten. Obwohl es noch immer heftig regnete und die Wolken tief über der Stadt hingen, fühlte sie sich besser als an den Tagen zuvor. Sie wusste nicht, woran das lag, hatte aber das undeutliche Empfinden, es könnte damit zusammenhängen, dass sie begonnen hatte, über Michael zu sprechen. Jahrelang hatte sie sich verboten, an ihn auch nur zu denken, und nun verbrachte sie Stunden damit, einem wildfremden Mann alles über ihn zu erzählen. Und über sich und ihrer beider gemeinsame Geschichte.

Aber nicht wirklich alles. Sie war fest entschlossen: Alles würde Nathan Moor nicht erfahren.

Sie wollte Livia im Krankenhaus besuchen und dann Kim abholen, aber zuvor … Was sie hierher auf den Marktplatz geführt hatte, war ein tollkühner Entschluss, den sie erst kurz vor ihrem Aufbruch gefasst hatte: Sie wollte sich ein neues Kleid kaufen, heute Abend Frederic anrufen und ihm sagen, dass er am Freitag in London mit ihr rechnen durfte.

Ihr eigener Mut verursachte ihr heftiges Herzklopfen, und sie musste sich immer wieder sagen, dass sie sich noch nicht unter Druck gesetzt fühlen musste. Erst heute Abend, wenn sie Frederic Bescheid sagte, begab sie sich in eine Unausweichlichkeit. Noch gehörte ihr Plan ihr ganz allein. Sie konnte mit ihm spielen, konnte ihn ausbauen, verwerfen, was immer sie wollte.

Also mach dich jetzt nicht verrückt, befahl sie sich, du gehst jetzt hin und kaufst einfach das Kleid. Da ist nichts dabei. Im schlimmsten Fall hast du eben das Geld zum Fenster rausgeworfen.

Sie verließ das Auto und hastete, große Pfützen überspringend, über den Platz. Idiotischerweise hatte sie vergessen, einen Schirm mitzunehmen. Egal. Man kannte sie in der kleinen, feinen Boutique, die sich in zweiter Häuserreihe hinter dem Marktplatz befand, man würde sie dort zuvorkommend behandeln, auch wenn sie völlig durchweicht dort aufkreuzte.

Auf halbem Weg hielt sie inne und beschloss, in dem Schreibwarenladen, an dem sie gerade vorbeikam, nach ein paar Illustrierten oder Taschenbüchern für Livia zu schauen. Sie wusste, dass sie dies auch in der Eingangshalle des Krankenhauses hätte tun können, insofern machte sie sich keine Illusionen über ihr eigentliches Motiv: Sie wollte den Kauf des Kleides wenigstens um ein paar Minuten noch hinausschieben. Ganz gleich, was sie sich vorbetete: In die Boutique zu gehen war der erste Schritt auf einem Weg, der sie zutiefst ängstigte.

Im Laden befanden sich erstaunlich viele Menschen, die wahrscheinlich gar nicht alle etwas kaufen wollten, sondern nur Schutz vor dem Regen suchten. Dem Inhaber, einem grauhaarigen Mann mit Nickelbrille, war das wohl auch klar, denn er blickte ziemlich missmutig drein. Virginia fand, dass man ihm das nicht verdenken konnte.

Der Laden führte auch internationale Presse, und Virginia entdeckte zwei deutsche Magazine, die zwar nicht mehr ganz aktuell waren, aber Livia sicherlich erfreuen würden. Falls sie sie überhaupt wahrnahm. Wenn Nathans Aussage stimmte, gelang es derzeit niemandem, zu ihr durchzudringen.

Sie suchte noch ein Malbuch für Kim aus und drängte sich zwischen den Herumstehenden zur Kasse. Der Grauhaarige fand es sichtlich angenehm, endlich einen echten Kunden vor sich zu haben.

»Verstellen hier nur den Weg und warten, dass es zu regnen aufhört«, brummte er. »Bin ich ein Unterstand oder was?«

»Draußen herrscht aber wirklich die Sintflut«, meinte Virginia und kramte nach ihrem Geldbeutel. Sie zuckte zusammen, als der Ladeninhaber plötzlich brüllte: »Jetzt reicht's mir aber! Noch mal sag ich es nicht! Nimmst du gefälligst deine Pfoten da weg?«

Alle drehten sich um, erschrocken über den plötzlichen Wutausbruch. Ganz hinten im Laden stand ein kleines Mädchen im blauen Regencape vor dem Regal mit Karten aller Art: Geburtstagskarten, Beileidskarten, Hochzeitskarten, Einladungskarten. Die Kleine wurde puterrot und kämpfte sichtlich mit den Tränen.

»Grabscht dauernd die Karten für die Kindergeburtstage an!«, rief der Ladeninhaber. »Ich hab sie schon mal verwarnt! Hör mal, kleine Lady, entweder du kaufst die Karten jetzt, oder du hörst auf, mit deinen Fettfingern Flecken darauf zu machen! Sonst kannst du was erleben!«

»Es ist doch noch ein Kind!«, meinte Virginia beschwichtigend.

Ihr Gegenüber starrte sie entrüstet an. »Die sind aber die Schlimmsten. Die Kinder! Die machen alles kaputt! Sie würden nicht glauben, was ich hier manchmal entdecke, nachdem irgendeine Schülerhorde durchmarschiert ist. Fassen alles an, zerstören mutwillig Bücher und Karten und Andenken. Und klauen wie die Raben. Wissen Sie, in diesen Zeiten ist das hart. Das kostet mich Geld, das ich einfach nicht habe!«

Sie konnte ihn verstehen. Aber das kleine Mädchen, dem jetzt die Tränen über die Wangen liefen, war ganz sicher die falsche Adresse für seinen Zorn. Es sah nicht aus wie jemand, der mutwillig Dinge zerstörte.

Virginia bezahlte ihre Zeitschriften und verließ den Laden. Der Regen wurde um nichts schwächer, und das würde wohl bis zum Abend so gehen. Jetzt gab es keine Ausrede mehr: Jetzt würde sie das Kleid kaufen.

Ehe sie wieder von ihrer Angst überwältigt werden konnte, rannte sie, die Tüte mit den Zeitschriften schützend über den Kopf haltend, zu der Boutique hinüber. Wie immer fand sie eine reiche Auswahl an Cocktailkleidern vor. Sie entschied sich für ein dunkelblaues, das vorn hochgeschlossen war und hinten einen sehr attraktiven, aber keineswegs zu provozierenden Rückenausschnitt hatte. Sie konnte dazu die Saphire tragen, die Frederic ihr zu Kims Geburt geschenkt hatte.

Sehr elegant, dachte sie, und ironisch fügte sie hinzu: Und konservativ genug für den Anlass und die Umgebung!

Es war inzwischen Viertel nach drei. Sie würde nun ins Krankenhaus zu Livia fahren.

 

Livia Moor war in einem Zimmer mit zwei anderen Frauen untergebracht. Ihr Bett stand direkt am Fenster, und sie lag völlig regungslos, mit abgewandtem Gesicht darin. Die beiden anderen Frauen hatten Obst und Bücher neben sich liegen und unterhielten sich lebhaft, verstummten aber, als Virginia eintrat. Virginia spürte die neugierigen Blicke im Rücken, als sie an Livias Bett trat.

»Livia«, sagte sie leise, »können Sie mich hören? Ich bin es, Virginia!«

Sie war entsetzt, wie schlecht die junge Frau aussah. Auf Skye hatte sie schon fast wie eine Schlafwandlerin gewirkt, zutiefst geschockt von den Erlebnissen, aber die zarte Bräune ihrer Haut, das windzerzauste Haar hatten sie trotzdem körperlich gesund aussehen lassen. Jetzt waren ihre Wangen eingefallen und hatten eine fahle, beinahe gelbliche Farbe angenommen. Ihre Hände, die auf der weißen Bettdecke lagen, zuckten ständig ganz schwach hin und her. Ihre ungewaschenen Haare waren aus der Stirn gekämmt, und man konnte ein Geflecht zarter, blauer Adern an ihren Schläfen pulsieren sehen. War ihre Nase schon immer so spitz gewesen? Ihre Finger so zerbrechlich? Ihr Hals so sehnig?

Sie öffnete die Augen, als Virginia sie ansprach, aber sie wandte nicht den Blick zu ihr hin. Sie schien aus dem Fenster in den Regen zu starren, aber man hatte nicht den Eindruck, dass sie das Wetter dabei wahrnahm. Oder das aufgeweichte Stück Wiese, das sich jenseits ihres Fensters befand.

»Livia, ich habe Ihnen etwas zu lesen mitgebracht.« Sie zog die Zeitschriften aus der nassen Tüte, aber ihr war klar, dass Livia sie nicht ansehen würde. »Ich dachte mir, Sie langweilen sich hier bestimmt sehr …«

Livia rührte sich nicht. Nur ihre Hände zuckten unablässig.

»Die gehört doch in die Psychiatrie!«, murmelte eine der Frauen hinter Virginia. »Ich frage mich, was die hier soll!«

Offenbar war Livia nicht gerade beliebt. Ihre Zimmergenossinnen waren stämmig und standen vermutlich kurz vor der Entlassung – so rosig und gesund, wie sie aussahen. Sie hätten sich sicher eine weitere Plaudertasche gewünscht, die Leben in die Bude brachte und neue Themen eröffnete. Stattdessen hatten sie dieses stille Bündel aus Haut und Knochen ins Zimmer bekommen, das kein Wort sprach und dessen Hände ständig vibrierten. Sie schienen von ihr genervt zu sein.

»In erster Linie muss sie aufgepäppelt werden«, erwiderte Virginia. Sie hätte die beiden Weiber gern ignoriert, fand aber, dass man Livia zuliebe um ein wenig Verständnis werben musste. »Um ihre Seele kann man sich später kümmern.«

»Die hat sich noch nicht einmal gemuckst, seitdem sie hier ist«, sagte die andere Frau, »und sie wackelt ständig mit den Händen! Man wird ganz nervös vom Zugucken!«

Virginia wandte sich wieder zu Livia, strich ihr sanft über die Haare. »Es kommt alles in Ordnung«, sagte sie leise.

Sie hoffte, dass Livia hören und begreifen konnte, was sie sagte.

»Nathan wohnt im Moment bei uns«, erklärte sie. Sie sagte absichtlich uns, damit Livia nicht auf falsche Gedanken kam. Sie brauchte nicht zu wissen, dass Frederic in London war. Obwohl sie derartige Details vielleicht gar nicht interessierten. Sie schien sich in einem Dämmerzustand zu befinden, der sie in einer anderen Welt festhielt.

Virginia saß noch eine Weile neben ihr und streichelte ein paar Mal über die zuckenden Hände, aber schließlich schloss Livia ihre Augen wieder, und es schien unerheblich, ob jemand an ihrem Bett saß oder nicht.

Als Virginia aufstand, fragte eine der Zimmergenossinnen neugierig: »Stimmt es, dass sie beinahe ertrunken wäre? Oben vor den Hebriden?«

»Ihr Schiff ist mit einem Frachter kollidiert«, bestätigte Virginia.

»Sie hat ja einen unheimlich gut aussehenden Mann«, meinte die andere, »Teufel noch mal, als der gestern hier hereinkam, habe ich mir nur noch gewünscht, zwanzig Jahre jünger zu sein! Der hat einen Sexappeal … Ist ganz schön gefährlich, finde ich. So einen Mann zu haben und dann hier zu liegen und nichts mehr mitzubekommen! Würde mich ziemlich nervös machen!«

Die andere kicherte anzüglich. »Du meinst, der nutzt die Zeit, um …«

»Na, so einer wird doch garantiert andauernd angemacht! Mit dem Gesicht und der Figur … Den jagen die Frauen doch förmlich!«

Beide lachten. Virginia murmelte einen kurzen Gruß und verließ rasch das Zimmer. Die Begegnung mit Livia hatte sie erschüttert, das Gerede ihrer beiden gewöhnlichen Zimmergenossinnen sie aufgewühlt. Sie blieb stehen, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, atmete tief. War Nathan Moor ein Mann, der auf Frauen so intensiv wirkte, dass sie sich in infantil kichernde Geschöpfe verwandelten, so wie die beiden da drinnen eben?

Hat er auf mich auch diese Wirkung?

Sie hatte natürlich längst realisiert, wie gut er aussah. Das hatte sie schon in Mrs. O'Brians gemütlicher Küche auf Skye getan. Er war zur Tür hereingekommen, und obwohl er, genau wie seine bleiche, zittrige Frau, nur einen Tag zuvor knapp dem Tod von der Schippe gesprungen war und nichts weiter auf dieser Welt besaß als die Sachen, die er am Leib trug, hatte er eine überwältigende Energie, ein unerschütterliches Selbstbewusstsein ausgestrahlt. Braun gebrannt, die etwas zu langen, dunklen Haare lässig aus dem Gesicht gestrichen, hätte er auch ein entspannter Urlauber sein können, der gerade von einem ausgedehnten Strandlauf kam, und nicht ein Mann, dessen gesamtes Hab und Gut soeben auf den Meeresgrund gesunken war. Ihr fiel das Bild vom frühen Morgen des heutigen Tages ein: Nathan in Frederics T-Shirt, die breiten Schultern, die kaum Platz in dem Hemd fanden.

Ich sollte mich nicht so lange mit ihm zusammen allein in einem Haus aufhalten.

Es war gut, dass Kim heute zurückkehrte. Es war sogar gut, dass sie, Virginia, am Freitag nach London fahren würde, so elend es ihr noch immer bei der Vorstellung wurde. Ob er dann gehen würde? Oder glaubte er, er könne allein in ihrem Haus bleiben, während sie bei ihrem Mann in London war? Wenn sie das zuließ, würde sie ernsthaften Ärger mit Frederic bekommen, und das war auch verständlich. Aber nachdem sie nun gerade Livia gesehen hatte, erschien es ihr tatsächlich nicht einfach für Nathan, mit ihr nach Deutschland zurückzukehren. War sie überhaupt transportfähig? Konnte man ihr schon wieder eine Veränderung ihrer Umgebung zumuten?

Sie beschloss, noch an diesem Abend mit Nathan darüber zu sprechen. Wenn er Livias wegen weiterhin in King's Lynn bleiben wollte, musste er in ein Hotel gehen. Und wovon sollte er das bezahlen? Notfalls musste sie ihm eben noch einmal etwas leihen. Aber konnte er nicht seinen Verleger um Geld bitten? Als ein erfolgreicher Autor mussten schließlich ständig Zahlungen für ihn eingehen. Oder man würde ihm einen Vorschuss gewähren.

Wo liegt also das Problem?

Mit schnellen Schritten verließ sie das Krankenhaus. Wie immer, wenn sie länger als eine Minute über Nathan Moor nachdachte, wurde sie nervös. Weil sie dann stets auf Ungereimtheiten stieß. Seine ihn in komplette Hilflosigkeit stürzende Notlage – die er dabei keineswegs als wirklich verzweifelt zu empfinden schien, so gelassen und unbekümmert wie er auftrat! – entpuppte sich bei jedem näheren Hinsehen als eine zwar schwierige, jedoch von zahlreichen Lösungsmöglichkeiten begleitete Situation. Das größte Hindernis stellte zweifellos seine hoch traumatisierte Ehefrau dar. Aber war es für Livia wirklich das Beste, in einem englischen Krankenhaus zu liegen? Abgesehen von ihrem Mann – der höchst selten an ihrem Bett weilte – versuchten Ärzte und Schwestern ständig, in einer ihr fremden Sprache in ihre Umnachtung vorzudringen. Livia sprach ein gutes und flüssiges Englisch, aber Virginia war sich sicher, dass in ihrer augenblicklichen Lage größere Erfolge zu erzielen gewesen wären, hätte man sie in ihrer Muttersprache anreden können. Ein weiterer Punkt, den sie bei Nathan vorbringen musste. Wenn sie den Mut zu dem Gespräch denn überhaupt fand.

Er müsste von allein darauf kommen, dachte sie ärgerlich, als sie in ihr Auto stieg, dessen Scheiben von der hereingetragenen Feuchtigkeit sofort beschlugen, er dürfte mich gar nicht in die Situation bringen, ihn mehr oder weniger hinauskomplimentieren zu müssen. Wenn ich ihm sage, dass ich zu Frederic fahre, müsste er von sich aus sofort sagen, dass auch er spätestens am Freitag mein Haus verlassen wird.

Aus gutem Grund beschlich sie jedoch die Ahnung, dass er das nicht tun würde. Wie hatte ihn Frederic genannt? Eine Zecke. Ein böses Wort. Zecken wurde man nicht einfach los. Man konnte sich schütteln und sich kratzen, sie fielen nicht ab, waren wie verwachsen mit ihrer Nahrungsquelle. Erst wenn sie satt waren, so vollgesogen mit Blut, dass sie fast platzten, ließen sie freiwillig los. Dick und fett plumpsten sie zur Erde. Übertrugen vorher aber unter Umständen noch gefährliche Krankheiten, die ihre Opfer sogar das Leben kosten konnten.

Jetzt ist Schluß, befahl sie sich und reihte sich in den wegen des fürchterlichen Wetters eher vorsichtig dahinfließenden Straßenverkehr ein, es ist nicht fair, so über einen anderen Menschen zu denken. Er ist keine Zecke. Er saugt mich schließlich nicht aus.

Was will er dann?

Sie überlegte, ob es um Geld ging. Er hatte sich einen Betrag von ihr geben lassen, er würde es vielleicht wieder tun, aber es handelte sich nicht um wirklich nennenswerte Summen. Nichts, wofür es sich lohnte, großen Aufwand zu treiben. Und er fragte nie nach mehr. Ein Mann, der auf Geld scharf war, hätte schon Frederics Abwesenheit genutzt, um wegen weiterer Beträge zu bohren. Er hätte manches erfinden können – Vorauszahlungen für das Krankenhaus etwa. Aber nichts in dieser Art war geschehen.

Also wieder die Frage: Was will er dann?

Sie dachte an den Morgen – gestern war es erst gewesen –, als er mit ihrem Foto in der Hand zu ihr getreten war. Wohin ist diese wilde, lebendige Frau verschwunden? Und warum?

Er hatte ihr zugehört. Am Vortag und auch heute wieder den ganzen Vormittag über. Konzentriert, keine Sekunde abschweifend, ohne ein Anzeichen von Ermüdung oder Langeweile. Warum tat er das?

Er will mich. Das ist die Antwort. Er will mich.

Der Gedanke erschreckte sie so, dass sie fast mitten im fließenden Verkehr abrupt auf die Bremse getreten wäre und damit einen Auffahrunfall verursacht hätte. Sie konnte sich gerade noch zusammenreißen, geriet aber dabei ins Schleudern und rutschte auf die Nebenspur hinüber. Sie hörte wütendes Hupen, lenkte rasch auf ihre eigene Spur zurück. Der Fahrer des Wagens, den sie fast geschrammt hätte, zog vorbei und zeigte ihr höchst aggressiv den Mittelfinger. Sie nahm es nur aus den Augenwinkeln wahr. Sie hatte andere Sorgen.

Als sie in die Gaywood Road einbog, die zu dem kleinen Vorort führte, in dem sich Kim seit Samstag aufhielt, hätte sie plötzlich fast wieder eine Vollbremsung hingelegt. An der Ecke befand sich ein kleiner Coffeeshop, und gerade als sie vorbeikam, ging ein Mann über den gepflasterten Vorplatz mit den zusammengeklappten, im Regen triefenden Sonnenschirmen und den ineinander gestapelten Bistrotischen und Stühlen. Virginia sah ihn nur von hinten, aber sie meinte plötzlich, die hoch gewachsene Gestalt mit den dunklen Haaren und den breiten Schultern in dem zu engen T-Shirt unter Tausenden heraus erkennen zu können: Nathan Moor. Es musste Nathan sein. Was tat er hier? Wie war er von Ferndale ohne Auto in die Stadt gekommen? Und weshalb? Als sie wegging, hatte er nichts davon erwähnt, er hatte den Anschein erweckt, als ob …

Ja, was? Genau genommen hatte er überhaupt keinen Anschein erweckt. Sie hatte einfach vorausgesetzt, dass er im Haus bleiben, vielleicht einen Spaziergang durch den Park machen und sich dann mit einem Buch auf das Sofa im Wohnzimmer zurückziehen würde. Im Grunde hatte es dafür so wenig einen Anhaltspunkt gegeben wie für irgendetwas anderes. Blieb die Frage nach dem Wie. Natürlich hätte er es zu Fuß schaffen können, aber das hätte einen fast einstündigen Marsch bedeutet, bei dem sintflutartigen Regen eine alles andere als verlockende Vorstellung. Oder ob er auf Jack getroffen war, der ebenfalls in die Stadt wollte und sich angeboten hatte, ihn mitzunehmen? Der Gedanke behagte ihr gar nicht, denn dann wussten die Walkers jetzt, dass ein fremder Mann in Frederics Abwesenheit bei ihr wohnte. Spätestens mit Kims Rückkehr würde die Angelegenheit zwar ohnehin publik werden, aber Virginia hatte gehofft, wenigstens die Tatsache verheimlichen zu können, dass Nathan bereits seit Samstag da war.

Sie stand kurz in der Versuchung, in den Parkplatz einzubiegen, der sich gleich hinter dem Coffeeshop befand, ihr Auto abzustellen und nachzusehen, ob es sich bei dem Mann wirklich um Nathan handelte. Aber dann überlegte sie, dass dies ein peinliches Zusammentreffen geben könnte. Sie hatte kein Recht, ihn zu kontrollieren oder Rechenschaft über seinen Tagesablauf zu verlangen. Er konnte in Cafes sitzen, solange er wollte. Sie würde einfach heute Abend beiläufig erwähnen, dass sie glaubte, ihn in der Stadt gesehen zu haben. Entweder er bot ihr eine plausible Erklärung, oder er stritt es ab. Vielleicht war es ihm auch einfach peinlich, fröhlich irgendwo einen Kaffee zu trinken, anstatt am Krankenbett seiner Frau zu wachen. Es zog ihn deutlich nicht allzu sehr zu ihr hin.

Und auch seine Ehe geht mich überhaupt nichts an, dachte Virginia.

Am Ende war er es auch gar nicht gewesen. Schon jetzt war sie sich da keineswegs mehr sicher.