Mittwoch, 6. September

 

1

 

Es schien Virginia, als sei sie unvermittelt in ein schreckliches Drama geraten, in dem sie die Hauptrolle spielte und das schlimmer war als alles, was sie sich je hätte vorstellen können.

Ein kühler Septembertag. Neun Uhr am Morgen. Draußen war Wind aufgekommen. Er ließ die Blätter in den Bäumen rauschen und verblies die Regenwolken vom Vortag. Virginia wusste, dass der Himmel immer weiter werdende Strecken von Blau zeigte. Nach dem Schmuddelwetter der letzten Tage würde heute wohl sogar noch die Sonne hervorkommen.

Es wunderte sie, dass sie diesen Umstand – die sich anbahnende Veränderung des Wetters – überhaupt wahrnahm und in einem seltsam eintönig ablaufenden Rhythmus sogar schon wiederholt reflektiert hatte.

Die Sonne wird scheinen. Es wird wärmer werden. Irgendwann ist alles wieder gut.

Unfassbar war es jedoch, einem Superintendent gegenüberzusitzen, der sich als Jeffrey Baker vorgestellt hatte und der ihr, einen Notizblock in der Hand, Fragen nach ihrer verschwundenen Tochter stellte.

Denn Kim war noch nicht wieder aufgetaucht.

Im Baumhaus war sie nicht gewesen, die erleichternde Situation der Nacht zuvor, als sie sie erschöpft, verfroren, verängstigt, aber lebendig dort gefunden hatten, hatte sich nicht wiederholt. Natürlich hatten sie es auch nicht wirklich erwartet. Der Weg von der Schule bis dorthin war weit, kaum vorstellbar, wie ein siebenjähriges Kind ihn hätte zurücklegen sollen.

Sie waren durch weitere Teile des Parks gestreift, aber es war immer dunkler geworden, und sie hatten keine Taschenlampen dabeigehabt. Irgendwann war Frederic, dem die Dornenranken zwei blutige Kratzer ins Gesicht geschnitten hatten, stehen geblieben.

»Das hat keinen Sinn, Virginia. Wir laufen hier ziellos herum, dabei wissen wir doch, dass sie so weit nicht gekommen sein kann. Lass uns zum Wagen zurückgehen und heimfahren.«

Als sie ihr vor Graces Haus geparktes Auto erreichten, fuhr soeben der Wagen von Jack Walker durch das große Parktor. Ein erschöpfter und ziemlich übernächtigt wirkender Jack stieg aus.

»Mrs. Quentin! Sir!«, rief er, und sein verwunderter Blick verriet Virginia, dass sie wohl beide nach ihrem Streifzug durch Dickicht und Unterholz recht abenteuerlich aussahen. »Ist irgendetwas passiert?«

»Kim ist verschwunden«, antwortete Frederic kurz.

»Verschwunden? Grace wollte sie doch von der Schule abholen. Sie hatte …«

»Sie war nicht in der Schule, als Grace dorthin kam«, unterbrach ihn Virginia.

»Jack, ich weiß, Sie haben eine lange Fahrt hinter sich und sind todmüde, aber würden Sie mich zur Schule begleiten?«, fragte Frederic. »Ich möchte das ganze Schulgelände und die Straßen ringsum absuchen. Sie hat sich gestern in ihrem Baumhaus versteckt, vielleicht tut sie heute etwas Ähnliches. Und vier Augen sehen mehr als zwei.«

»Klar, Sir. Ich bin dabei«, sagte Jack sofort.

Frederic wandte sich an Virginia. »Du gehst nach Hause und telefonierst alle ihre Klassenkameraden an. Und ihre Lehrer. Vielleicht ist sie mit jemandem mitgegangen und hat behauptet, wir wüssten davon. Und dann …«

»Was?«, fragte Virginia, als er stockte.

»Und dann versuche doch Kontakt mit Nathan Moor aufzunehmen. Vielleicht weiß er noch etwas.«

»Das geht nicht. Er hat kein Handy, und ich weiß nicht, wo er Unterkunft gefunden hat. Ich muss warten, bis er sich bei mir meldet.«

»Zweifellos wird er das irgendwann tun«, sagte Frederic kalt. Ohne dass er es mit einem einzigen Wort erwähnte, war klar, wem er die Schuld an Kims Verschwinden gab: ihrer Mutter und dem Umstand, dass sie dabei war, die Familie zu zerstören.

Während Frederic und Jack die Schule absuchten, den Hausmeister herausklingelten, sich alle Räume aufschließen ließen und sogar einen nahe gelegenen Park durchkämmten, telefonierte sich Virginia durch die ganze Liste der Telefonnummern von Kims Klassenkameraden. Überall erhielt sie die gleiche niederschmetternde Antwort: »Nein. Bei uns ist sie nicht.«

Sie ließ sich die Kinder an den Apparat holen, aber keines wusste etwas zu berichten, das ihr weiterhelfen konnte. Die interessanteste Information bekam sie von Kims bester Freundin, der kleinen Clarissa O'Sullivan: »Wir sind zusammen rausgegangen. Sie hat gesagt, dass sie abgeholt wird, und ist vor dem Tor stehen geblieben. Ich bin schnell weitergegangen, weil es so geregnet hat.«

Das klang nicht so, als habe Kim vorgehabt, sich zu verstecken oder wegzulaufen. Virginia sah ihre Tochter vor sich, wie sie im strömenden Regen vor dem Schultor stand, die Kapuze ihres gelben Regenmantels ganz fest um den Kopf gezurrt. Ich werde abgeholt … Und dann war niemand gekommen. Mummie nicht, Daddy nicht, Nathan nicht. Und Grace mit einer Viertelstunde Verspätung.

Was war in dieser Viertelstunde geschehen?

Der Regen. Virginia strich sich über die müden Augen, in denen die Tränen brannten, die zu weinen sie sich jedoch nicht erlaubte. Der Regen mochte sie von der Straße weggetrieben haben. Aber doch höchstens bis ins Innere des Schulgebäudes. Und dort hatte Grace überall nachgesehen, wie sie immer wieder versichert hatte.

Warum meldete sich Nathan nicht?

Warum hatte sie ihr Handy ausgeschaltet?

Warum hatte sie ihr Kind schon wieder anderen überlassen?

Die Klassenlehrerin, die sie nach mehreren vergeblichen Versuchen erreichte, konnte ihr auch nicht weiterhelfen. Nein, ihr sei nichts Besonderes an Kim aufgefallen an diesem Tag. Ein bisschen müde habe sie gewirkt. Aber nicht verstört oder durcheinander. In den Pausen habe sie lebhaft mit den anderen Kindern gespielt. Virginia ließ sich die Nummern der anderen Lehrer geben und rief einen nach dem anderen an, aber sie erhielt keinerlei Hinweise. Alles heute schien ganz normal gewesen zu sein.

Der Lehrer, bei dem Kim in den letzten beiden Stunden Zeichenunterricht gehabt hatte, erinnerte sich, sie nach Schulschluß am Tor stehen gesehen zu haben.

»Mir war klar, dass sie darauf wartete, abgeholt zu werden«, sagte er. »Sie schaute die Straße hinauf und hinunter. Ich dachte noch: Kind, stell dich doch irgendwo unter! Es regnete ja ziemlich heftig. Aber sie trug solide Gummistiefel und einen langen Regenmantel. Ich saß schon im Auto und wurde angehupt, deshalb konnte ich nicht halten und ihr sagen, sie solle doch nach drinnen gehen. Ich nahm aber an, dass sowieso jeden Moment ihr Vater oder ihre Mutter auftauchen würden.«

»Sie haben … niemanden gesehen, der sie angesprochen hat?«, fragte Virginia. Vielleicht war ja doch Nathan erschienen.

»Nein«, sagte der Zeichenlehrer, »das habe ich nicht.«

Es war zum Verzweifeln. Kein Anhaltspunkt, nicht der geringste.

Sie ging in die Küche, um sich einen Tee zu machen, von dem sie hoffte, er werde ihre Nerven ein wenig beruhigen, aber dann fand sie das Teesieb nicht und war unfähig, sich zu erinnern, wohin sie es für gewöhnlich legte. In ihrem Kopf ging alles durcheinander. Draußen herrschte pechschwarze Nacht, und ihr Kind war nicht daheim, und sie hatte keine Ahnung, wo es sich aufhielt. Es war die Situation, die jede Mutter mehr fürchtete als alles andere auf der Welt und von der sie vom Tag der Geburt des Kindes an am inbrünstigsten hoffte, sie werde niemals eintreten.

Als ihr Handy läutete, stürzte sie ins Nebenzimmer, sehnlichst hoffend, der Anrufer sei Frederic, der ihr mitteilte, er habe Kim gefunden und werde nun gleich mit ihr nach Hause zurückkehren.

Aber es war nicht Frederic. Es war Nathan.

Er klang ein wenig gestresst. »Virginia? Kannst du mir sagen, weshalb du stundenlang nicht zu erreichen bist und …«

Sie unterbrach ihn. »Ist Kim bei dir?«

Er stutzte. »Nein. Wieso? Ich habe Grace angerufen und …«

»Grace kam zu spät zur Schule. Kim war nicht mehr da. Sie ist bis jetzt nicht aufgetaucht.« O Gott, dachte Virginia. Wieder zerschlug sich eine Hoffnung. Immer noch hatte sie sich an der Möglichkeit festgeklammert, Kim könne bei Nathan sein. Nun musste sie diesen Gedanken begraben.

»Sie hat sich bestimmt wieder irgendwo versteckt. Habt ihr schon in ihrem Baumhaus nachgesehen?«

»Natürlich. Da ist sie nicht!« Virginias Nervenanspannung entlud sich über Nathan. »Wieso warst du nicht da?«, fuhr sie ihn an. »Ich habe mich auf dich verlassen. Es ging um ein siebenjähriges Kind. Wie konntest du …«

»Moment mal, ich hatte Probleme mit dem Auto, und die hatte ich mir nicht ausgesucht. Also schieb mir jetzt nicht die Schuld für irgendetwas in die Schuhe!« Er klang aufgebracht. »Ich habe wieder und wieder versucht, dich zu erreichen, aber das war ja nicht möglich. Du hattest dich ja komplett verabschiedet. Schließlich habe ich über die Auskunft Graces Nummer herausgefunden, wobei ich mir zuerst das Hirn darüber zermartern musste, wie dein Verwalterpaar eigentlich mit Nachnamen heißt. Also, ich habe getan, was ich konnte, um die Situation zu retten.«

Virginias Wut fiel in sich zusammen, zurück blieben nur ihr Elend und ihre Angst.

»Entschuldige«, sagte sie, »aber ich bin krank vor Sorge. Frederic und Jack suchen seit anderthalb Stunden die Schule und das umliegende Gelände ab, aber offenbar haben sie bislang nichts gefunden.«

»Ich weiß, das ist schrecklich«, sagte Nathan. Auch er klang nun ruhiger, sprach mit der sanften Stimme, die sie an ihm liebte. »Aber du solltest nicht gleich an das Schlimmste denken. Gestern Abend hatten wir die gleiche Situation. Bestimmt hat sich Kim wieder irgendwo verkrochen. Sie ist traurig und fühlt sich vernachlässigt, und es ist vielleicht ihre Art, deine Aufmerksamkeit zu erzwingen.«

»Aber es sind schon so viele Stunden vergangen …«

»Das beweist nur, dass sie diesmal ein besseres Versteck gefunden hat. Nicht, dass ihr etwas zugestoßen ist. Virginia, Liebste, dreh jetzt nicht durch. Du wirst sehen, sie ist ganz bald wieder bei dir.«

Tatsächlich spürte Virginia, dass sie ruhiger wurde. Ihr Herzschlag ging wieder ein wenig langsamer.

»Ich hoffe, du hast Recht. Wo bist du überhaupt?«

»In Hunstanton. In einem Bed & Breakfast.«

»In Hunstanton? Warum so weit draußen?«

»Schatz, wir werden uns in den nächsten Tagen ohnehin nicht viel sehen können. Bei euch kann ich nicht aufkreuzen, und du wirst viel mit deinem Mann zu klären haben. Und du solltest mit deiner Tochter zusammen sein. Sie braucht dich, sie ist jetzt wichtiger als wir.«

Er hatte Recht, natürlich. Virginia war froh, dass er so dachte.

»Und wenn ich schon so lange ohne dich sein muss«, fuhr er fort, »dann bin ich am liebsten am Meer. Hier kann ich am Strand entlangwandern, und hier gefällt es mir.«

»Ja. Ich verstehe das.«

»Wie lief es mit deinem Mann?«, fragte er.

Sie seufzte. »Er ist verletzt. Verzweifelt. Hilflos. Es ist eine schreckliche Situation.«

»Geschichten dieser Art sind immer schrecklich. Wir werden das durchstehen.«

»Wenn nur Kim …«

»Psst«, unterbrach er sie. »Kim ist bald wieder bei dir. Etwas anderes darfst du gar nicht denken.«

Ihr fiel noch etwas ein. »Was ist denn nun mit meinem Auto?«

»Offensichtlich die Batterie. Keine Ahnung, warum. Mir hat schließlich jemand mit seinem Starterkabel geholfen. Es fährt jetzt wieder.«

»Ausgerechnet heute! Ausgerechnet heute musste so etwas passieren!«

»Vielleicht hätte ich sie auch nicht angetroffen, selbst wenn ich pünktlich da gewesen wäre. Wenn sie vorhatte zu verschwinden, dann …«

»Aber sie stand zuerst noch am Tor und wartete. Das haben mir ihre Freundin und einer ihrer Lehrer bestätigt.«

Er seufzte. »Gut. Dann hat sie gewartet. Niemand erschien, und sie begann sich schon wieder von Mummie vernachlässigt zu fühlen. Und darauf reagiert sie derzeit nun einmal mit Weglaufen. Das wissen wir doch jetzt.«

»Nathan …«

»Ja?«

»Kannst du mir deine Telefonnummer geben? Ich möchte das Gefühl haben, dich erreichen zu können.«

Er diktierte ihr die Adresse und die Telefonnummer des Hauses, in dem er untergekommen war.

Nachdem sie das Gespräch beendet hatten, fühlte sich Virginia schrecklich einsam und müde. Allein gelassen mit ihrer Angst. Frederic war nicht da. Nathan war so weit weg.

Ihr Kind war dort draußen in der Dunkelheit.

Irgendwann waren Frederic und Jack zurückgekommen. Müde und vom Regen durchnässt. Und ohne Kim.

»Nirgends«, sagte Frederic, »wir haben alles abgesucht. Sie ist nirgends.«

»Der Hausmeister ist mit uns durch alle Räume gegangen«, berichtete Jack, »sogar bis hinunter in den Keller. Es gibt keinen Flecken in dieser Schule, an dem wir nicht nachgesehen hätten.«

»Ich rufe jetzt die Polizei an«, sagte Frederic und ging zum Telefon.

Wie war diese Nacht vergangen? Für den Rest ihres Lebens würden blinde Flecken durch Virginias Gedächtnis ziehen, wenn sie an jene Stunden bis zum ersten Morgengrauen dachte. Weder sie noch Frederic waren ins Bett gegangen. Jack hatte noch eine Weile bei ihnen gesessen, grau vor Erschöpfung im Gesicht, und nachdem er zweimal in seinem Sessel eingenickt war, hatten sie ihn nach Hause geschickt.

»Grace braucht Sie jetzt«, hatte Frederic gesagt, und Jack war gegangen, nicht ohne zu bitten, man möge sofort anrufen, wenn sich etwas Neues ergebe.

Die Polizei hatte gesagt, am nächsten Morgen werde jemand vorbeikommen. Sie hatten sich eine genaue Beschreibung von Kim diktieren lassen. Alter, Größe, Haar- und Augenfarbe, Kleidung.

Irgendwann gegen ein Uhr morgens war Frederic noch einmal mit der Taschenlampe losgezogen, um den Park abzusuchen. Virginia hatte mitkommen wollen, aber er hatte abgewehrt. »Schone deine Kräfte. Außerdem ist es besser, wenn jemand am Telefon bleibt.«

Als Kind hatte Virginia immer zu heftigem Fieber geneigt, wenn sie krank war, und ähnlich wie jene Fiebernächte war auch die Nacht, die auf Kims Verschwinden folgte. Unwirklich. Voll innerem Aufruhr. Verzweifelt. Von seltsamen Bildern und Stimmen erfüllt.

Frederic kam zurück, nach Stunden. Allein.

Sie hatten Kaffee getrunken, hinausgestarrt in die Finsternis. Der Regen ließ nach gegen Morgen. Sie hörten, dass Wind aufkam. Er rauschte in den herbstlichen Bäumen. Schließlich sickerte erstes Tageslicht zwischen den hohen Wipfeln hindurch, bahnte sich einen schmalen Streifen in das Wohnzimmer und ließ Virginias und Frederics übermüdete Gesichter noch fahler erscheinen.

»Gegen neun wollte die Polizei da sein«, sagte Frederic.

»Ich koche noch mal Kaffee«, sagte Virginia. Sie hatte schon viel zuviel davon getrunken, aber sie hielt sich an der Wärme der gefüllten Tassen fest wie an einem allerletzten Strohhalm.

Und nun also war Superintendent Jeffrey Baker da, ein sympathischer, großer Mann, der Ruhe und Autorität ausstrahlte, und doch war es der Beginn des eigentlichen Entsetzens: plötzlich der Polizei gegenüberzusitzen und über ein Kind zu sprechen, das seit nunmehr sechzehn Stunden von niemandem mehr gesehen worden war. Virginia erzählte von Kims Verschwinden einen Tag zuvor, und Baker schien dies als ein beruhigendes Indiz zu werten.

»Manches spricht dafür, dass sich Ihre Tochter erneut verstecken wollte«, sagte er. Virginia blickte aus dem Fenster, sah ein paar kleine Fetzen Himmelsblau zwischen den Baumästen und dachte: Daran halte ich mich ja auch fest. An ihrem vorgestrigen Verschwinden. Wäre das nicht gewesen, ich würde wahnsinnig werden. Ich würde den Verstand verlieren.

Und dann lehnte sich Superintendent Baker vor, sah sie und Frederic an und sagte behutsam: »Ich leite die Ermittlungen in den Fällen Sarah Alby und Rachel Cunningham.«

Da begriff Virginia, welche Version in Wahrheit in Superintendent Bakers Kopf herumgeistern mochte.

Sie begann zu schreien.

 

2

 

»Es spricht wirklich vieles dafür, dass sich Ihre Tochter versteckt hat, nachdem genau das einen Abend vorher schon einmal passiert ist«, wiederholte Baker beruhigend. Er hatte eine Weile allein mit Frederic im Wohnzimmer gesessen, während Virginia nach oben gegangen war, ihre Tränen getrocknet und ihre Nase geputzt hatte. Es war nicht so, dass sie nicht selbst auch diesmal wieder an die beiden ermordeten Mädchen gedacht hatte, aber angesichts von Kims Flucht in ihr Baumhaus hatte sie diesen Gedanken nicht mehr wirklich zugelassen. Als Superintendent Baker die beiden Namen aussprach, war die Erkenntnis, dass auch dies nach wie vor eine echte Möglichkeit war, mit aller Macht über sie hereingebrochen, hatte sie verschlungen wie eine große Flutwelle und in eine Panik gestürzt, die namenlos und unendlich war. Frederic hatte sie in die Arme genommen und gehalten, und oben in ihrem Badezimmer hatte sie schließlich langsam ihre Fassung wiedergefunden. Rote, verschwollene Augen starrten ihr aus dem Spiegel entgegen, ein bleiches Gesicht, aufgesprungene Lippen.

»Das kann nicht sein«, murmelte sie beschwörend, »das kann einfach nicht sein.«

Als sie wieder unten saß, fühlte sie sich kalt und leer. Sie fror, ohne das Bedürfnis zu haben, etwas gegen das Frieren zu tun. Sie hatte zudem nicht den Eindruck, dass es irgendetwas gab, das sie dieser inneren Kälte hätte entgegensetzen können.

Baker sah sie aus freundlichen, einfühlsamen Augen an. Mrs. Quentin, während Sie oben waren, erzählte mir Ihr Mann, Ihre Tochter sollte von einem Bekannten abgeholt werden, der dann jedoch verhindert war. Ein Mr. …«, er warf einen Blick in seine Aufzeichnungen, »… ein Mr. Nathan Moor. Ein Deutscher.«

»Ja.«

»Ich würde ihn gern sprechen. Können Sie mir sagen, wie ich ihn erreiche?«

Sie kramte den Zettel mit seiner Anschrift aus ihrer Jeanstasche. »Hier. Das ist eine Pension in Hunstanton. Dort wohnt er zur Zeit.«

Baker schrieb sich Adresse und Telefonnummer ab und gab Virginia den Zettel zurück. »Äh … Mrs. Quentin, so ganz habe ich noch nicht begriffen, um wen es sich bei Nathan Moor genau handelt. Ihr Mann sagte … eine Art Zufallsbekanntschaft, die Sie in Ihrem Ferienhaus auf Skye machten? Mr. Moor hatte dort einen Schiffsunfall?«

»Er und seine Frau befanden sich auf einer Weltumsegelung. Direkt vor den Hebriden kollidierten sie mit einem Frachter. Ihr Schiff sank. Sie konnten sich nur mit der Rettungsinsel in Sicherheit bringen. Da Mrs. Moor zuvor bei uns gejobbt hatte, fühlte ich mich irgendwie … verantwortlich. Sie besaßen ja nichts mehr, von einem Moment zum anderen. Ich nahm sie in unser Ferienhaus auf.«

»Verstehe. Und nun hat sich Mr. Moor hier ganz in der Nähe eingemietet?«

»Ja.«

»Wo ist seine Frau?«

»Sie ist gestern früh abgereist. Vermutlich versucht sie, über die deutsche Botschaft in London nach Deutschland zurückzukommen. «

»Aber ihr Mann ist hier geblieben?«

»Ja.«

Baker neigte sich ein wenig nach vorn. »Verzeihen Sie«, sagte er, »aber so ganz verstehe ich es immer noch nicht. Weshalb sitzt dieser Schiffbrüchige nun in Hunstanton? Wie wollte er von dort übrigens Ihre Tochter hier in King's Lynn von der Schule abholen?«

»Er hat mein Auto.« Es war Virginia klar, wie befremdlich dies alles in den Ohren des Superintendent klingen musste. »Das Auto war auch der Grund … Es sprang gestern Nachmittag plötzlich nicht an. Deshalb rief er Grace an. Grace Walker, unsere …«

»Ich weiß«, unterbrach Baker, »von Mrs. Walker haben Sie ja bereits berichtet. Mr. Moor hat also Ihr Auto?«

Ihm wird gerade manches klar, dachte Virginia.

Sie schaute Frederic nicht an. »Mr. Moor und ich … wir möchten in Zukunft zusammen bleiben. Zwischen uns … ich hätte mein Kind nicht einer Zufallsbekanntschaft anvertraut, Superintendent. Es ist inzwischen sehr viel mehr als das.«

Ein verlegenes Schweigen folgte ihren Worten. Frederic starrte auf den Boden zwischen seinen Füßen. Superintendent Baker notierte sich etwas.

»Ist Ihre Tochter über diese Pläne unterrichtet?«, fragte er.

»Nein«, sagte Virginia, »aber ich glaube, sie spürt, dass sich etwas verändert. Sie ist verängstigt. Ihr Weglaufen am vorgestrigen Abend hatte wohl etwas damit zu tun.«

»Nun«, sagte Baker, »so bedauerlich die derzeitigen … Familienkomplikationen in Ihrem Haus sind, so denke ich doch, dass Sie sich unter diesen Umständen auch ein wenig beruhigter fühlen dürfen. Es sieht mir immer mehr danach aus, dass Kim vor all diesen sich anbahnenden Umbrüchen weggelaufen ist. Sie versteckt sich irgendwo, wobei es mir sonderbar erscheint, dass ein siebenjähriges Kind dies so lange durchhalten sollte –angesichts von Hunger, Durst und der ganz natürlichen Angst vor der Dunkelheit. Ich fürchte daher, dass sie den Rückweg nicht mehr findet und irgendwo herumirrt.« Er erkannte die Panik in den Augen der Eltern und hob beide Hände. »Ich weiß, diese Vorstellung ist auch alles andere als schön. Und wir müssen alles tun, sie so schnell wie möglich zu finden. Aber es ist doch immer noch besser als der Gedanke an … an diese ungeheuerlichen Verbrechen, die geschehen sind.«

Virginia und Frederic sahen einander an. Beide dachten sie in diesem Moment das Gleiche: Vielleicht war sie tatsächlich weggelaufen. Vielleicht suchte sie wirklich verzweifelt nach dem Heimweg. Aber irgendwo da draußen befand sich auch jener Irre noch auf freiem Fuß, der es auf kleine Mädchen abgesehen hatte, und solange Kim nicht zu Hause war, bestand die Gefahr, dass sie ihm in die Hände fiel.

»Was werden Sie konkret als Nächstes tun, Superintendent?«, fragte Frederic.

»Ich werde Polizeistaffeln losschicken, die mit Hunden die ganze Gegend absuchen. Wir werden jeden Grashalm umdrehen, das kann ich Ihnen versprechen. Eventuell geben wir auch Suchmeldungen über den Rundfunk aus.«

»Aber ist das nicht zu gefährlich?«, fragte Virginia. »Denn dann erfährt doch auch der … dieser Geisteskranke, dass hier ein kleines Mädchen unbeaufsichtigt herumläuft!«

»Aber damit ahnt er immer noch nicht, wo sie ist. Zudem weiß ich inzwischen einiges über seine Methode. Er greift sich nicht irgendein Kind und zerrt es in sein Auto, das wäre ihm vermutlich viel zu riskant. Er baut vorher eine Beziehung zu dem Kind auf, so dass dieses dann, ohne irgendein Aufsehen zu erregen, zu ihm einsteigt. Er geht sehr planvoll und vorausschauend vor.« Er überlegte kurz. »Etwas Derartiges haben Sie bei Kim nicht beobachtet in der letzten Zeit, oder? Sie hat Ihnen nicht von einem neuen Freund oder einem netten fremden Mann berichtet?«

»Nein. Nein, absolut nicht.«

»Ich werde trotzdem auch noch einmal mit ihren Freundinnen sprechen«, sagte Baker. »Kleine Mädchen vertrauen oftmals der besten Freundin doch mehr an als den Eltern. Sie können mir da sicher Adressen und Telefonnummern geben, Mrs. Quentin?«

»Natürlich«, sagte Virginia und stand auf.

Als sie mit der Klassenliste zurückkehrte, hörte sie, wie Frederic gerade sagte: »Ich möchte unbedingt, dass Sie diesen Nathan Moor überprüfen, Superintendent. Der Mann ist mir mehr als suspekt. Mir ist klar, Sie werden nun denken, dass ich eine verständliche Abneigung gegen ihn hege, aber ich kann Ihnen nur versichern, er war mir schon zutiefst unangenehm, lange bevor er … sich für meine Frau interessierte.«

»Nathan Moor steht ganz oben auf meiner Liste«, versicherte Baker.

Als er gegangen war, blickte Virginia Frederic zornig an. »Ich finde es durchaus in Ordnung, wenn Nathan überprüft wird. Aber es war unnötig, ihn derart bei dem Superintendent anzuschwärzen!«

Frederic schloss sorgfältig die Haustür. »Ich habe ihn nicht angeschwärzt. Ich habe gesagt, was ich denke. Es geht um das Leben meines Kindes. Da werde ich doch nicht mit Informationen hinter dem Berg halten, nur weil das irgendwelche Empfindlichkeiten bei dir auslöst.«

»Er hat nichts mit ihrem Verschwinden zu tun!«

»Dabei würde er in das Muster passen, findest du nicht? Der nette Mann, der ganz neu in Kims Leben getreten ist und zu dem sie bedenkenlos ins Auto steigen würde.«

»Er hat sich nicht an sie herangemacht.«

»Nein, er war diesmal besonders clever. Er bumst ihre Mutter. Auch keine schlechte Strategie.«

»Du bist abartig!«, schrie Virginia. Sie rannte die Treppe hinauf, lief in ihr Schlafzimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Neben ihrem Bett sank sie auf die Knie. Verschwommen sah sie hinter Tränenschleiern das Gesicht ihrer Tochter im silbernen Bilderrahmen auf ihrem Nachttisch. Dieses geliebte, süße Gesicht. Sie ließ den Kopf auf die Bettdecke sinken und wurde überschwemmt von ihren Tränen.

Und einem namenlosen, unendlichen Schmerz.

 

3

 

Gegen Mittag erschienen Jack und Grace; Grace war völlig verweint und sah noch immer aus, als habe sie Fieber. Sie brach sofort wieder in Tränen aus, als sie Virginia gegenüberstand.

»Ich kann es mir nicht verzeihen«, schluchzte sie, »ich kann mir einfach nicht verzeihen, dass ich zu spät zur Schule gekommen bin.«

»Hören Sie auf, sich Vorwürfe zu machen, Grace«, beschwichtigte sie Frederic, noch ehe Virginia antworten konnte, »der Fehler liegt bei uns. Ganz gewiss nicht bei Ihnen.«

Obwohl das Verwalterpaar alles mitbekam, konnte Virginia nicht an sich halten. »Der Fehler liegt bei mir«, sagte sie heftig, »nicht bei uns! Das ist es doch, was du in Wahrheit denkst, Frederic, also solltest du es auch sagen.«

»Bei uns«, wiederholte er, »denn wie die Dinge nun einmal lagen, hätte ich hier sein müssen und nicht in London sein dürfen.«

Wie die Dinge nun einmal lagen …

Virginia wusste genau, was er damit sagen wollte: Da meine Frau gerade von ihren Hormonen überwältigt wurde und als Mutter komplett ausfiel, hätte ich da sein und mich um das Kind kümmern müssen.

Sie wäre ihm ins Gesicht gesprungen, hätte sie sich nicht gescheut, Grace und Jack ein unvergessliches Schauspiel zu bieten.

Jack, der selten durch allzu große Sensibilität auffiel, schien die Hochspannung zu bemerken, die in der Luft lag.

»Äh, weshalb ich hier bin«, sagte er rasch, »ich dachte, wir könnten noch einmal die Umgebung absuchen, Sir. Ich vermute, die Polizei tut das auch …«

»Ja«, sagte Frederic.

»… aber überall können die nicht sein. Ich meine … es ist so unerträglich, nur herumzusitzen …«

»Da haben Sie Recht«, sagte Frederic, »wir gehen gleich los. Virginia, du bleibst beim Telefon?«

»Ich gehe nicht weg.«

»Kann ich irgendetwas tun, Mrs. Quentin?«, fragte Grace und putzte sich die Nase. Sie sah so krank und elend aus, dass sich Virginia trotz der furchtbaren Angst um Kim nun auch um sie zu sorgen begann.

»Grace, Sie sollten zum Arzt gehen. Oder einen Arzt kommen lassen. Sich auf jeden Fall ins Bett legen. Es hat keinen Sinn, dass Sie sich jetzt eine Lungenentzündung holen. Damit ist niemandem gedient.«

»Aber ich halte es nicht aus …« Grace fing schon wieder an zu weinen und kramte nach einem neuen Taschentuch.

Nach langem Hin und Her gelang es Virginia, Grace zu überreden, nach Hause zu gehen und sich ins Bett zu legen, und schließlich waren auch die beiden Männer verschwunden, Frederic sichtlich erleichtert, dass er etwas zu tun bekam und dass er sich nicht länger mit Virginia unter einem Dach aufhalten musste. Und auch sie war froh, dass er weg war, empfand sie ihn doch als einen einzigen stummen Vorwurf.

Als das Schrillen des Telefons die Stille zerriss, schrak sie so heftig zusammen, als wäre ein Pistolenschuss gefallen.

Die Polizei. Vielleicht war es die Polizei. Vielleicht hatten sie Kim gefunden!

Ihr Herz raste, als sie den Hörer abnahm.

»Ja?«, fragte sie atemlos.

Es verging ein Moment, dann sagte eine leise, gepresst klingende Stimme: »Hier ist Livia Moor.«

»Oh«, sagte Virginia nur.

»Ich … ich rufe aus London an. Ich bin hier in einem Hotel. Man hat mir in der Botschaft mit Geld ausgeholfen. Heute Abend fliege ich nach Deutschland.«

Virginia hatte sich noch immer nicht von ihrer Verlegenheit erholt. Sie liebte den Mann dieser Frau. Sie würde mit ihm zusammenbleiben. Am liebsten hätte sie einfach aufgelegt.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte sie unbeholfen und fand sich selbst idiotisch.

»Nicht besonders gut«, antwortete Livia mit einer für sie ungewöhnlichen Direktheit, »aber wenigstens habe ich erst einmal eine Bleibe. Eine Freundin meiner verstorbenen Mutter nimmt mich bei sich auf. So lange, bis ich … nun ja, ich muss Arbeit finden. Ich hoffe, dass mir das gelingt.«

»Ich wünsche es Ihnen so sehr.«

»Danke. Ich rufe an, weil ich … ich brauchte Geld für meine Fahrt nach London. Ich habe es von … meinem Mann genommen, aber ich weiß, dass es eigentlich Ihr Geld ist. Ich möchte Ihnen nur sagen, dass ich es Ihnen zurückzahlen werde. Sobald ich Arbeit habe, sobald ich ein bisschen was zurücklegen kann, schicke ich Ihnen …«

»Das brauchen Sie nicht. Wirklich nicht.«

Livia schwieg wieder einen Moment. Es klang nicht hämisch, als sie dann sagte: »Sie sollten das Geld nicht ablehnen, Virginia. Wenn Sie in Zukunft mit meinem Mann zusammenleben, werden Sie es brauchen.«

Nun schwieg Virginia eine Weile. Ihre Hand hielt den Telefonhörer so fest umklammert, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Endlich gelang es ihr zu antworten: »Es tut mir leid, Livia. Ich weiß, dass Nathan und ich … dass wir zwei Menschen sehr verletzen. Sie und Frederic. Ich … wünschte …« Sie sprach nicht weiter. Was sollte sie auch sagen? Ich wünschte, das alles wäre nicht geschehen? Das wäre gelogen gewesen.

Ich wünschte, wir müssten niemandem dabei wehtun.

Das klang lächerlich. Zumindest wohl in Livias Ohren. Also ließ sie den begonnenen Satz einfach stehen.

»Wissen Sie«, sagte Livia, »nach all den Jahren mit Nathan empfinde ich fast auch ein wenig Erleichterung. Ich bin sehr traurig, und ich weiß nicht, wie es weitergehen soll, aber in den letzten Tagen habe ich begriffen, dass es auch so … ich meine, auch ohne Sie nicht einfach weitergegangen wäre. Und nicht nur, weil das Schiff untergegangen ist. Wir waren vorher schon am Ende. Er klammerte sich an dem Gedanken dieser Weltumsegelung fest, und ich redete mir ein, dass wir beide glücklich werden würden, wenn er nur glücklich wäre … Aber so funktioniert es eben nicht. Ich habe dieses Schiff gehasst. Ich habe die Häfen gehasst. Die Jobs, die ich mir suchen musste. Ich bin ein Mensch, der ein festes Zuhause braucht. Ich will Blumen pflanzen und über den Gartenzaun hinweg mit meinen Nachbarn reden und in meiner eigenen Waschmaschine waschen und morgens beim Bäcker Brötchen holen und mit den Leuten plaudern, die ich dort treffe … Ich will nicht heute hier und morgen da wohnen und nie jemanden näher kennen lernen, weil ich nie lange genug an einem Ort bin. Ich will … ich will Kinder, Virginia. Ich sehne mich so sehr nach Kindern. Und sie sollen in Ruhe und Sicherheit aufwachsen.«

Kinder.

»Kim ist verschwunden«, sagte Virginia. »Schon wieder?«

»Nach der Schule. Gestern. Aber wir haben sie bis jetzt nicht gefunden.«

»Das muss … schrecklich für Sie sein.«

Virginia merkte, wie ihr angesichts des echten Mitgefühls in Livias Stimme die Tränen kamen. Verzweifelt kämpfte sie dagegen an.

»Ja«, sagte sie, »es ist ganz furchtbar. Die Polizei sucht mit Hundestaffeln nach ihr. Frederic und unser Verwalter sind auch gerade wieder losgezogen. Ich frage mich, wo sie die ganze Nacht …« Ihre Stimme brach, sie verstummte. Die Bilder, die vor ihrem inneren Auge aufstiegen, waren zu grausam.

»Mein Gott, Virginia!«, sagte Livia, und dann schwiegen sie beide, aber Virginia spürte aus Livias Schweigen größte Anteilnahme, und traurig dachte sie, dass diese junge Frau eine Freundin für sie hätte werden können – wäre nicht alles ganz anders gekommen.

»Ich gebe Ihnen die Telefonnummer meiner Bekannten in Deutschland«, sagte Livia schließlich, »dort werde ich auf jeden Fall in der nächsten Zeit erreichbar sein. Es wäre nett, wenn Sie mich anrufen könnten, sobald Kim wieder bei Ihnen ist. Ich möchte es gern wissen.«

»Natürlich. Das mache ich, Livia.« Virginia schrieb die Telefonnummer auf.

»Noch etwas …« Livia zögerte. »Sie könnten die Nummer auch an meinen Mann weitergeben. Vielleicht möchte er Kontakt zu mir aufnehmen. Es wird sicher manches zu regeln sein.«

»In Ordnung«, sagte Virginia.

Sie verabschiedeten sich voneinander. Virginia legte den Hörer auf, lief hinauf in das Zimmer ihrer Tochter. Nervös rückte sie die Stofftiere zurecht, die auf der Fensterbank saßen, zupfte an den weißen Gardinen. Sie betrachtete den Zeichenblock, der auf dem Schreibtisch lag, daneben stand noch der Kasten mit den Wasserfarben. Kim hatte versucht, ein Pferd zu malen. Es sah ein bisschen nach einer verunglückten Ratte aus.

Lass sie zurückkehren, lieber Gott! Lass sie bald wieder zurückkehren und lass sie wieder glücklich werden!

Getrieben von Angst und Hilflosigkeit, lief sie wieder hinunter und wählte die Nummer von der Pension, in der Nathan abgestiegen war. Eine schlechtgelaunte Frau meldete sich und erklärte, Mr. Moor sei zu einem Strandspaziergang aufgebrochen. Sie wisse nicht, wann er zurückkommen werde.

Warum rief er nicht an? Erkundigte sich nicht nach Kim?

Fragte nicht, wie es ihr, Virginia, ging? Konnte er sich nicht vorstellen, wie elend sie sich fühlte?

Kurz nach ein Uhr am Mittag tauchte Frederic wieder auf.

»Ihr habt nichts gefunden«, sagte Virginia. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

»Nein.« Frederic fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. Er war sehr blass, seine Augen vor Müdigkeit gerötet. »Nichts. Wir waren noch einmal am Baumhaus. An den Brombeerhecken, unter denen sie die Höhlen gebaut hat. Wir sind einen Teil des Schulwegs abgelaufen. Aber nirgends war eine Spur zu finden.«

Sie streckte die Hand aus und strich ihm kurz über den Arm. »Leg dich ein bisschen hin. Du siehst entsetzlich erschöpft aus.«

»Ich glaube nicht, dass ich jetzt Ruhe finde«, meinte Frederic, aber als Virginia ein paar Augenblicke später aus der Küche, wo sie für ihn ein Glas Wasser geholt hatte, ins Wohnzimmer zurückkehrte, fand sie ihn schlafend in seinem Sessel am Fenster vor.

Sie stand gerade im Schlafzimmer vor dem Kleiderschrank, um sich etwas Wärmeres zum Anziehen zu suchen – sie fror an diesem Tag ständig, obwohl es eigentlich nicht kalt war –, als ihr Handy klingelte. Sie vermutete sofort, dass es Nathan war, der anrief, und war froh, dass sie sich im ersten Stock und weit weg von Frederic befand.

Nathan klang recht munter.

»Guten Morgen, Darling«, sagte er, unbekümmert darum, dass es bereits nach ein Uhr war. »Ich war lange am Meer. Es ist herrliches Wetter heute, blauer Himmel und Sonne – falls du das durch deine dichten Bäume hindurch überhaupt schon bemerkt hast?«

Sie fand seinen Ton völlig unangemessen.

»Mein Kind ist verschwunden. Mir war bislang wirklich nicht danach zumute, über das Wetter nachzudenken.«

»Sie ist immer noch nicht wieder aufgetaucht?«

»Nein. Was du wüsstest, wenn du mich irgendwann im Lauf des Vormittages einmal angerufen und dich nach ihr erkundigt hättest!«

Er seufzte. »Entschuldige. Ich dachte, sie ist sicher wieder da. Es ist schwierig für mich, bei dir anzurufen. Ich weiß doch nicht, ob dein Mann nicht gerade neben dir sitzt. Das fühlt sich für mich auch nicht gerade gut an.«

»Das kann ich verstehen, ja.«

»Ich habe eine Idee«, meinte er. »Du kommst hierher zu mir, wir laufen ein Stück am Meer entlang, und du versuchst ein bisschen ruhiger zu werden. Wie wäre das?«

»Ich möchte nicht von hier fort.«

»Du kannst doch im Moment gar nichts machen.«

»Ich will trotzdem hier sein. Vielleicht taucht Kim plötzlich auf und …«

Er seufzte. »Ich würde ja zu dir kommen. Aber ich habe wenig Lust, Frederic zu begegnen, und außerdem muss ich mit dem Benzin haushalten. Ich denke wirklich, du solltest …«

Sie hatte sich danach gesehnt, von ihm getröstet und gestützt zu werden, aber auf einmal war dieser Wunsch wie weggeblasen. Es war nicht die Zeit, sich trösten zu lassen. Es war die Zeit, nichts unversucht zu lassen, um Kim zu finden.

»Nein«, unterbrach sie ihn, und weil sie selbst merkte, wie schroff sie geklungen hatte, fügte sie besänftigend hinzu: »Tut mir leid. Ich weiß, du meinst es gut.«

Er wirkte ein wenig beleidigt. »Ich kann dich nicht zwingen. Wenn du es dir anders überlegst … du hast ja meine Adresse.« Damit legte er den Hörer auf.

Sie schaltete ihr Handy aus, betrachtete das Display, das ein Foto von Kim zeigte – Kim, die ihre Wange in das weiche Fell ihres Teddybären drückte.

»Wo bist du nur?«, flüsterte sie. »Mein Liebstes, wo bist du nur?«

In einem Punkt hatte Nathan Recht gehabt: Sie konnte hier im Haus im Moment nicht viel unternehmen, und es tat ihren Nerven nicht gut, in den Räumen umherzuwandern und sich von albtraumhaften Bildern bedrängen zu lassen.

Sie schrieb einen Zettel für den schlafenden Frederic, legte ihn auf den Küchentisch: Ich gehe spazieren. Muss einfach raus, sonst ersticke ich. Virginia.

Fünf Minuten später saß sie im Auto und fuhr durch das Parktor hinaus, ließ die dichten, dunklen Bäume hinter sich. Das weite, grüne Land öffnete sich vor ihr.

Es stimmte, was Nathan gesagt hatte: Der Himmel war blau, und die Sonne schien.

 

4

 

Obwohl es Mittwoch war und daher nicht der Vereinbarung entsprach, stand Janie um halb zwei vor dem Maklerbüro gegenüber dem Schreibwarengeschäft und behielt wieder einmal mit aller Konzentration die Eingangstür im Auge. Sie hatte die halbe Nacht wach gelegen und über ihre Geburtstagsparty nachgedacht, und irgendwann war ihr der Gedanke gekommen, dass sich der fremde Mann, der schließlich so überaus nett zu ihr gewesen war, vielleicht gar nicht über sie geärgert hatte, sondern dass er nur aus irgendeinem Grund seine Gewohnheiten verändert hatte. Menschen taten das ständig, und anstatt jeden Montag zu dem Schreibwarengeschäft zu kommen, tat er es nun womöglich an jedem Mittwoch oder Donnerstag. Da er von Janie nur den Vornamen und keine Adresse kannte, konnte er sie davon natürlich nicht unterrichten.

Es war auf jeden Fall einen Versuch wert.

Unglücklicherweise musste sie allerdings dafür wieder die Schule schwänzen. Diesmal nicht den Sportunterricht. Von ein bis zwei Uhr aßen sie zu Mittag, und sie hoffte, es werde nicht allzu sehr auffallen, dass sie daran nicht teilnahm. Von zwei bis vier Uhr hatten sie Zeichnen. Die Lehrerin würde natürlich merken, dass jemand fehlte. Sie würde fragen, und die anderen Kinder würden sich erinnern, dass Janie den Vormittag über da gewesen war. Sicher dachten alle, ihr wäre schlecht geworden. Neulich war auch ein Kind mittags nach Hause gegangen, weil ihm schlecht war. Allerdings hatte es sich abgemeldet. So war es vorgeschrieben. Man durfte nicht einfach abhauen.

Sie würde Ärger bekommen, gar keine Frage. Es war erstaunlich, dass sich wegen des Schwänzens vorgestern noch nichts getan hatte. Sicher würden sie Mum einen Brief schicken. Diesen abzufangen dürfte nicht allzu schwer sein, denn Janie war ja immer zuerst daheim und nahm die Post mit hinauf. Ihr schwante nur, dass sich die Schule auf die Dauer nicht damit zufrieden geben würde, Benachrichtigungen zu versenden, die immer ohne Antwort blieben. Aber bis der Krach richtig losging, hatte sie vielleicht den netten Mann schon wiedergetroffen, und wenn sie Mummie dann erklärte, worum es gegangen war – und dass es sich niemals wiederholen würde –, wäre sicher bald alles im Lot.

Hoffentlich.

Sie blickte auf ihre Uhr. Zehn Minuten nach zwei. Niemand hatte das Geschäft betreten, niemand war herausgekommen. Wenn er nun wieder nicht kam … Dann müsste sie morgen erneut ihren Beobachtungsposten einnehmen. Welche Fächer versäumte sie? Musik, soweit sie wusste. Mist. Miss Hart, die den Unterricht gab, war streng und immer etwas hysterisch. Sie regte sich über alles auf, ging sofort auf die Barrikaden, wenn ein Schüler nur flüsterte oder im falschen Moment mit einem Papier raschelte. Janie seufzte. Miss Hart würde einen ziemlichen Zirkus veranstalten, das stand fest.

Und woher wusste sie überhaupt, dass der Fremde nicht auch die Uhrzeit seiner Besuche im Schreibwarenladen geändert hatte? Vielleicht kam er morgens um neun hierher. Eigentlich müsste sie von morgens bis abends auf ihrem Beobachtungsposten Wache halten. Also morgens direkt von daheim hierhergehen, sich überhaupt nicht in der Schule blicken lassen …

Sie zuckte zusammen, als sich plötzlich eine Hand auf ihre Schulter legte. Sie hatte niemanden kommen gehört. Als sie sich zaghaft umwandte, blickte sie in das strenge Gesicht der Dame aus dem Maklerbüro. Heute trug sie ein graues Kostüm und sah genauso gepflegt und adrett aus wie schon am Montag.

»Du schon wieder«, sagte sie.

Janie lächelte hilflos.

»Weißt du, langsam glaube ich, dass mit dir irgendetwas nicht in Ordnung ist«, sagte die Dame, »und ich finde, ich sollte jetzt wirklich deine Mutter anrufen.«

»Es ist alles okay«, beteuerte Janie hastig, »ich wollte sowieso gerade weitergehen und …«

Sie machte einen Schritt zur Seite, aber die Hand der Dame griff erneut zu. Diesmal an Janies Oberarm. Ziemlich fest. Es war ein Griff, der sich nicht so leicht abschütteln ließ.

»Du müsstest doch um diese Zeit in der Schule sein, stimmt's? Und außerdem finde ich es merkwürdig, dass du dich immer gerade an dieser Ecke herumtreibst. Hier gibt es doch überhaupt nichts, was für dich interessant sein könnte!«

Janies Augen füllten sich mit Tränen. Die Fremde verdarb ihr alles. Alles!

»Wir gehen jetzt in mein Büro und rufen deine Mutter an«, sagte die Dame und dirigierte Janie durch die Glastür hinein in das Maklerbüro. »Setz dich!« Sie wies auf einen von zwei schwarzen Stühlen, die vor einem ebenfalls schwarzen, sehr ordentlich aufgeräumten Schreibtisch standen. Sie selbst nahm hinter ihrem Schreibtisch Platz, griff nach dem Telefonhörer.

»Sagst du mir bitte eure Telefonnummer?«

»Meine Mum ist nicht zu Hause«, flüsterte Janie. Sie hatte eigentlich in ganz normaler Lautstärke sprechen wollen, aber ihre Stimme schien ihr nicht richtig zu gehorchen.

»Wo ist deine Mum?«

»Sie arbeitet.«

»Wo?«

»Ich weiß nicht.«

Die Dame setzte wieder ihren strengen Blick auf. »Ich kann auch gleich die Polizei anrufen, Miss … Wie heißt du eigentlich?«

»Janie«, murmelte sie.

»Also, Janie, hör mal zu, ich mache mir Sorgen um dich. Du schwänzt die Schule und treibst dich hier aus unerfindlichen Gründen herum – und das bereits zum zweiten Mal, jedenfalls soweit ich weiß. Vielleicht geht das auch schon länger, und ich habe es vorher bloß nicht bemerkt. Ich möchte diese Angelegenheit jetzt klären. Entweder du sagst mir, wie ich deine Mutter oder deinen Vater erreichen kann, oder ich übergebe dich der Polizei. So einfach ist das!«

»Meine Mum arbeitet in einer Wäscherei«, sagte Janie. Die Tränen liefen ihr nun in Strömen über das Gesicht. Sie beugte sich über ihre Schultasche, kramte darin herum und förderte schließlich einen Zettel zutage. »Hier ist die Telefonnummer.«

»Na also«, sagte die Dame. Sie nahm den Zettel und tippte in rasantem Tempo auf der Telefontastatur herum. »Es geht doch!«

 

»Dass du mir so etwas antust!« Doris hatte sich eine Zigarette angezündet, aber die war schon wieder erloschen, ohne dass sie es bemerkt hatte. Sie stand mitten im Wohnzimmer, noch mit dem weißen Kittel bekleidet, den sie in der Wäscherei immer trug. Ihre Haare waren straff zurückgebunden, kräuselten sich an der Stirn durch die Feuchtigkeit, der sie an ihrem Arbeitsplatz stets ausgesetzt war. Sie sah grau und elend aus.

Aber das tut sie eigentlich immer, dachte Janie.

»Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie ärgerlich die Chefin war, weil ich plötzlich wegmusste? In welchen Rückstand die dort jetzt geraten, weil ich ausfalle? Damit schaffe ich mir keine Freunde, verstehst du? Wenn dort das nächste Mal Arbeitsplätze gestrichen werden, sind das genau die Vorfälle, an die man sich dann erinnert. Selbst dir müsste klar sein, wie brenzlig unsere Lage wird, wenn ich meinen Job verliere!«

»Du hättest mich ja nicht abholen müssen …«

»Ach ja? Wenn ich einen Anruf bekomme, dass meine achtjährige Tochter die Schule schwänzt und sich auf der Straße herumtreibt – dann soll ich so tun, als ob nichts wäre, und einfach weitermachen? Was hätte ich denn zu dieser affigen Maklerin sagen sollen? Interessiert mich nicht, was mein Kind so treibt, schicken Sie es wieder auf die Straße? Soll ich dir mal was sagen? So, wie die drauf war, hätte die uns das Jugendamt auf den Hals gehetzt. Wärst du gerne am Ende in einem Heim gelandet?«

So weit hatte Janie nicht gedacht. Als ihre Mutter mit dem Gesichtsausdruck eines Racheengels in das Büro gestürmt war – einen fast Schmerz erregenden Kontrast zu der Dame im grauen Kostüm bildend – und ihre Tochter so hart an der Hand gepackt hatte, dass es wehtat, da hatte Janie gedacht, dass ihre Lage kaum schlimmer werden konnte. Dass Doris vor Wut fast platzte, hatte man ihr von weitem ansehen können. Janie hatte sich gewünscht, der Boden würde sich unter ihr auftun und ihr die Möglichkeit geben, irgendwohin zu verschwinden, wo sie nicht gefunden werden konnte.

Aber Heim – das klang noch mal ganz anders. Dorthin wollte sie auf gar keinen Fall. In dem Haus, in dem sie wohnten, waren die drei Kinder der Familie unter ihnen ins Heim gekommen, weil ihr Vater immer betrunken war und ihre Mutter zweimal vom Balkon gesprungen war, um sich umzubringen, sich stattdessen aber nur so ziemlich jeden Knochen im Körper gebrochen hatte. Janie hatte die drei weggehen sehen, zusammen mit einer fremden Frau, die überhaupt nicht nett wirkte. Ihr waren Schauer über den Rücken gelaufen, und sie war nachts schreiend aus dem Schlaf aufgeschreckt, weil sie die Szene noch einmal geträumt hatte.

Nein. Ein Heim war das Schlimmste.

Sie fing wieder an zu weinen.

Doris merkte endlich, dass ihre Zigarette nicht brannte, und zündete sie erneut an. Das tiefe Inhalieren schien sie ein wenig zu beruhigen. Sie musterte ihre Tochter, die wie ein Häufchen Elend im Sessel kauerte.

»Also – wirst du mir nun sagen, was du dort zu suchen hattest? Eines dieser Traumhäuser, die sie dort im Schaufenster hatten, wolltest du ja wohl nicht ernsthaft kaufen, oder?«

Janie schwieg. Die ganze Zeit über hatte sie gedacht: Wenn ich Mummie alles erzähle und erkläre, dann wird sie mich verstehen. Dann wird sie nicht böse sein, sondern mir vielleicht sogar helfen, den netten Mann zu suchen. Sie wird froh sein, dass er mir etwas so Schönes schenken will!

Aber auf einmal war sie sich da gar nicht mehr so sicher. Mummie war so schrecklich böse.

Doris kniff die Augen zusammen. »Weißt du, wenn du mir nicht sagst, was los ist, dann muss ich doch langsam befürchten, dass ich mit deiner Erziehung völlig überfordert bin. Und dann muss ich …«

»Nein!« Janie blickte hoch. »Ich will nicht in ein Heim! Bitte, Mummie! Nicht!«

»Dann sag mir, was los ist.« Doris warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Und zwar schnell. Ich muss ins Geschäft zurück.«

»Es war wegen dem Mann«, flüsterte Janie.

»Wegen welchem Mann?«, fragte Doris.

»Wegen der Geburtstagsfeier …«

 

Doris seufzte. »Ich verstehe nur Bahnhof. Welche Geburtstagsfeier? Deine?«

»Ja. Ich wollte doch so gern eine Party mit meinen Freunden feiern.«

»Ich weiß. Wir haben das ja hinlänglich diskutiert.«

»Der Mann hat gesagt, er kann mir helfen.«

»Wer ist denn dieser Mann?«

»Ich weiß es eben nicht. Ich weiß nicht seinen Namen. Das ist ja das Schlimme. Und er kommt nicht mehr in den Schreibwarenladen, obwohl er erst gesagt hat, dass er jeden Montag dort ist. Wegen mir wollte er sogar am Samstag kommen und mir sein Haus zeigen, aber da hattest du diesen verdorbenen Magen und warst total krank, und ich konnte nicht weg. Ich glaube, er ist sauer auf mich, dabei konnte ich doch gar nichts dafür. Er ist an keinem Montag mehr gekommen, und nun habe ich gedacht, vielleicht kommt er an einem anderen Tag. Deshalb bin ich heute dorthin gegangen. Ich weiß, ich hätte nicht schwänzen dürfen, aber ich wollte doch so gern …«

Doris starrte ihre Tochter aus weit aufgerissenen Augen an. Ihre Zigarette glühte vor sich hin, ohne dass sie noch einmal einen Zug genommen hätte.

»Verstehe ich das richtig? Ein wildfremder Mann wollte dir helfen, eine Geburtstagsparty zu organisieren?«

»Ja. Er sagt, er hat ein großes Haus und einen großen Garten, und er weiß, wie man tolle Kindergeburtstage feiert. Er wollte mir alles zeigen, und wir wollten zusammen überlegen, wie wir den Garten oder den Keller schmücken. Er sagte, ich kann so viele Kinder einladen, wie ich will. Deshalb habe ich ja dann auch die Karten gekauft.«

Doris sank langsam auf das Sofa, das hinter ihr stand. Janie stellte erstaunt fest, dass ihre Mutter noch bleicher im Gesicht geworden war als zuvor.

»Mein Gott«, flüsterte Doris.

»Er ist wirklich nett, Mum«, sagte Janie.

Eine lange Minute herrschte völliges Schweigen im Zimmer. Dann war die Zigarette bis auf Doris' Fingerkuppen heruntergebrannt. Doris schrie leise auf und warf die Kippe in den Aschenbecher auf dem Tisch.

»Wo hat er dich angesprochen?«, fragte sie.

»In dem Laden. Ich stand dort und schaute immer wieder die Einladungskarten an. Er fragte mich, ob ich bald Geburtstag hätte. Ich habe ihm dann erzählt, dass du nicht möchtest, dass ich meine Freunde einlade und dass ich … dass ich ziemlich traurig deswegen bin …«

Doris nickte langsam. Dann stand sie plötzlich entschlossen auf, streifte ihren weißen Kittel ab und griff nach ihrer Handtasche.

»Komm«, sagte sie zu ihrer Tochter. Janie sah sie unsicher an. »Wohin?«

»Wir gehen jetzt sofort zur Polizei. Dort wirst du alles erzählen, was du mir eben erzählt hast, und du wirst diesen Mann ganz genau beschreiben. Das ist wichtig.«

»Mummie! Nicht zur Polizei! Ich will nicht in ein Heim!«

»Du kommst nicht in ein Heim. Ganz bestimmt nicht. Aber wenn wir Glück haben, kommt dein neuer Freund ins Gefängnis.«

»Er hat aber doch gar nichts gemacht!«

Doris schloss für einen Moment die Augen. »Nein«, sagte sie dann leise, »mit dir hat er nichts gemacht. Es hat nicht funktioniert. Und zum ersten Mal in meinem Leben danke ich dem lieben Gott aus tiefstem Herzen für einen verdorbenen Magen!«

Janie verstand absolut nicht, was ihre Mutter meinte. Aber wenigstens schien sie nicht mehr sauer zu sein. Und das war weit mehr, als Janie noch eine halbe Stunde zuvor zu hoffen gewagt hätte.

 

5

 

Sie hatte eine Stunde lang geweint, all die Angst und Verzweiflung der letzten Stunden herausgeschluchzt, und es ging ihr hinterher ein wenig besser. Es war nicht so, dass ihre Ängste verschwunden gewesen wären, das konnten sie nicht, ehe nicht Kim sicher und wohlbehalten wieder daheim war. Aber der Druck hatte sich ein wenig gelöst, die starren Finger der Furcht lagen nicht mehr so schmerzhaft um sie gekrallt.

»Sie kommt natürlich zurück«, hatte sie am Ende zu sich selbst gesagt, sich gründlich die Nase geputzt und aufgehört zu weinen.

Ohne dass sie sich das zuvor überlegt hatte, war sie, einem inneren Bedürfnis folgend, zu Kims Schule gefahren, hatte das Auto in einiger Entfernung geparkt und war zu dem Gebäude hinübergelaufen, dessen Hof und Grünanlagen gerade von Hunderten von Schülern bevölkert wurden, die ihre Mittagspause genossen. Sie spielten Nachlaufen, hüpften durch kreidegemalte Kästchen, gingen in kleinen Trupps spazieren oder saßen in der Sonne. Rufen, Lachen und Schreien erfüllten die Luft.

Bis zum gestrigen Tag war Kim eine von ihnen gewesen.

Kim musste wieder eine von ihnen werden. Alles andere war nicht vorstellbar.

Es war nicht so, dass Virginia geglaubt hätte, Kim hier aufstöbern oder auch nur eine wirklich brauchbare Spur von ihr finden zu können. Frederic und Jack hatten die Schule und das gesamte Umfeld so gründlich abgesucht, dass ihnen kaum etwas entgangen sein konnte. Sie hatte nur plötzlich den Wunsch verspürt, ihrem Kind nahe zu sein, den Platz aufzusuchen, von dem sie sicher wusste, dass es zuletzt dort gewesen war. Ehe es verschwand.

Dort hatte Kim gestanden. Vor dem großen Eisentor, das so mächtig, so gewaltig wirken musste hinter einem kleinen, siebenjährigen Mädchen. Es hatte geregnet, nicht einfach nur ein wenig genieselt, sondern das Wasser war in Strömen zur Erde gerauscht. Trotzdem hatte sich Kim offensichtlich nirgendwo untergestellt. Sie musste sehr sicher gewesen sein, dass jeden Moment jemand kommen und sie abholen würde. So sicher, dass es ihr nicht mehr lohnend erschienen war, zurück ins Schulgebäude zu laufen und Schutz vor dem Schauer zu suchen.

Sie war so vertrauensvoll.

Zu wem ist sie eingestiegen?

Virginia hatte auf dem Gehweg gestanden und die Stelle angestarrt, an der ihr Kind gewartet haben musste, und sie hatte versucht, etwas von dem zu erfassen, was in Kim vorgegangen war.

Bist du gar nicht bei irgendjemandem eingestiegen? Die Zeit verstrich, niemand kam. Du dachtest, dass Mummie schon wieder nicht da ist. So, wie sie an deinem ersten Schultag nicht da war. Du bist in Panik geraten, hast dich verlassen und einsam gefühlt. Du wolltest nur noch weg, so wie am Abend zuvor. Aber wohin bist du gelaufen? Wohin nur?

Sie hatte an Skye gedacht. An ihre wilde, rücksichtslose Flucht. Die Nächte mit Nathan. Ihre Entscheidung, ihr weiteres Leben mit ihm zu verbringen. Bei all dem war sie nicht gerade sanft mit den Gefühlen ihrer Umwelt umgegangen. Nicht mit Frederics Gefühlen, aber auch nicht mit denen von Kim. Frederic hatte schließlich begriffen, was geschah. Kim hatte es nur gespürt, und das mochte noch schlimmer, noch bedrohlicher gewesen sein. Sie war einmal weggelaufen und nun womöglich ein zweites Mal. Sie schrie um Hilfe. Ihre Mutter war dabei, das ganze vertraute Leben der Familie aus den Gleisen zu kippen. Ein Schock für ein Kind.

Virginia hatte sich abgewandt und war in den kleinen Park gegangen, der sich gleich neben dem Schulgelände befand. Ein paar Spaziergänger waren unterwegs, aber niemand achtete auf sie. Als die Tränen zu rinnen begannen, setzte sie ihre Sonnenbrille auf. Sie entdeckte eine Bank, die sich in einer Nische aus hohen Kirschlorbeerwänden befand; dort ließ sie sich nieder und weinte und weinte, aus Angst und aus Schuld, und als sie fertig war, wusste sie, dass sie trotz allem wieder genauso handeln würde, denn nach einem neuen Leben – dem Leben mit Nathan? – hatte sie so lange schon gesucht.

Aber vorsichtiger, dachte sie, vorsichtiger und behutsamer hätte ich das alles angehen sollen.

Sie lief noch einmal zur Schule zurück, die jetzt sehr still in der Sonne lag. Der Nachmittagsunterricht hatte begonnen. Aus einigen der geöffneten Fenster konnte man Stimmen hören, von irgendwoher wehten Klaviertöne herüber.

Aber keine Antwort. Auch an diesem Ort fand Virginia keine Antwort über den Verbleib ihres Kindes. Keine Ahnung, kein plötzliches Gefühl, kein erwachender Instinkt, der ihr einen Hinweis gegeben hätte.

Und doch meinte sie zu spüren, dass Kim nach ihr rief. Dass sie lebte und nach ihrer Mutter verlangte.

Als sie ihren Wagen daheim in Ferndale vor dem Haus zum Stehen brachte, wurde die Haustür aufgerissen, und Frederic kam heraus. Er schien auf sie gewartet zu haben. Wahrscheinlich hatte er sich Sorgen gemacht. Sie war fast zweieinhalb Stunden fort gewesen.

Sie wappnete sich innerlich gegen seine Vorwürfe und stieg aus dem Auto.

»Frederic«, sagte sie.

Zu ihrer Überraschung kam keine Attacke wegen ihres Verschwindens. Frederic war leichenblass im Gesicht, seine Augen plötzlich ganz dunkel, fast schwarz.

»Kim«, sagte er.

Das Zittern, das Virginias Knie erfasste, kam so jäh und unerwartet, dass sie zu stürzen drohte und Hilfe suchend nach Frederics Arm griff. Er hielt sie fest. Ihre Gesichter waren einander ganz nahe.

»Was ist? Was ist mit ihr?« Virginia brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass die schrille Stimme, die diese Fragen schrie, ihre eigene war,

»Da hat jemand angerufen«, sagte Frederic, »und gesagt, dass er Lösegeld für sie haben will.«

»Lösegeld?«

»Sie ist entführt worden«, sagte Frederic.

 

6

 

»Mit großer Wahrscheinlichkeit«, sagte Superintendent Baker, »handelt es sich um einen Trittbrettfahrer. Oder ganz schlicht um einen Scherzbold – wobei ich dieses Verhalten nicht herunterspielen möchte. Selbst wenn sich jemand nur einen dummen Spaß erlauben wollte, hat er sich natürlich strafbar gemacht. «

»Ein Trittbrettfahrer hingegen …«, sagte Frederic.

»Ein Trittbrettfahrer spielt das Spiel vielleicht noch eine ganze Weile weiter«, erklärte Baker, »möglicherweise bis hin zu einer Lösegeldübergabe. Was nicht heißt, dass er das Kind tatsächlich in seiner Gewalt hat. Er macht sich nur die Situation zunutze, um an Geld zu kommen. Er hört im Radio, dass ein kleines Mädchen vermisst wird, und …«

»Der Name Quentin ist nicht gerade selten«, sagte Frederic, »weshalb würde er dann gerade bei uns anrufen?«

Baker zuckte mit den Schultern. »Sie genießen eine gewisse Prominenz, Mr. Quentin. Als Bankier und noch mehr, seit Sie in der Politik tätig sind. Der Typ versucht es einfach, schon deshalb, weil man bei Ihnen davon ausgehen kann, dass Sie in der Lage wären, eine hohe Summe aufzubringen. Und Bingo! Er hat Glück. Es ist tatsächlich die Tochter des Bankiers und Politikers Frederic Quentin, die verschwunden ist. Das dürfte ihm anhand Ihrer Reaktion sofort klar geworden sein. Andernfalls hätte er einfach aufgelegt. Was hatte er zu verlieren?«

»Aber Sie können nicht ausschließen, dass Kim tatsächlich entführt wurde«, sagte Virginia. Seit ihrer Rückkehr aus der Stadt saß sie in einem Lehnstuhl im Wohnzimmer und konnte nicht mehr aufstehen. Frederic hatte sie zu diesem Sessel geführt, ihr geholfen, sich zu setzen. Sie hatte sich unbeholfen, vorsichtig bewegt wie eine alte Frau. Noch nie zuvor im Leben war sie sich so hinfällig und schwach vorgekommen, so als sei plötzlich alle Kraft, alle Vitalität und Jugend, von ihr gewichen.

Noch vor ihrer Rückkehr hatte Frederic Superintendent Baker angerufen, der schließlich mit zwei Beamten erschien. Sie installierten eine Fangschaltung sowie ein Aufnahmegerät am Telefon. Was die Fangschaltung anging, war Baker natürlich skeptisch. »Die Leute sind heute bestens informiert. So lange, dass wir das Gespräch zurückverfolgen können, sprechen sie im Allgemeinen nicht mehr. Dennoch kann ein Versuch nichts schaden.«

Zum ersten Mal hatte Virginia nun erfahren, was der Anrufer gesagt hatte. Vorher war es ihr gar nicht in den Sinn gekommen, Frederic danach zu fragen.

»Es war ein Mann«, erklärte Frederic, »aber mit einer völlig verzerrten Stimme. Sie erinnerte mich …«

»Ja?«, hatte Baker sofort eingehakt.

Frederic schüttelte den Kopf. »Sie erinnerte mich leider nicht an jemanden, den ich kenne, nein. Ich wollte nur sagen: Die Art, wie diese Stimme verzerrt wurde, erinnerte mich an ein Spielzeug meiner Tochter. Als sie vier war, bekam sie einen Kassettenrekorder für Kinder geschenkt. Es gibt dabei ein integriertes Mikrophon, durch das die Kinder selber singen können. Und durch verschiedene Einstellungen können sie ihre Stimme verzerren – ganz tief, ganz hell, wie auch immer. Kim hatte sehr viel Spaß damit. Und daran erinnerte mich die Stimme des Anrufers. Als ob sie auf eine eigenartige Weise verzerrt würde.«

Baker machte sich Notizen.

»Und weiter?«, fragte er.

»Er fragte, ob er mit Frederic Quentin spreche«, fuhr Frederic fort, »und als ich dies bejahte, sagte er wörtlich: Ich habe Ihre Tochter. Es geht ihr gut. Für hunderttausend Pfund können Sie sie wiederhaben.«

»Ich muss noch einmal fragen«, unterbrach Baker. »Sie konnten diese Stimme absolut niemandem zuordnen? Sie hatten zu keinem Zeitpunkt den Anflug einer Idee?«

»Nicht im Geringsten, nein. Die Stimme war so grotesk verzerrt, dass ich ohnehin Mühe hatte, den Inhalt des Gesagten zu verstehen.«

»Aber dass es sich um einen Mann handelte, da waren Sie sicher?«

Frederic hatte plötzlich gezögert. »Es war eine Männerstimme. Aber die kann natürlich auch technisch hergestellt worden sein. So gesehen, muss ich Ihre Frage verneinen, Superintendent. Ich bin nicht sicher, dass es sich um einen Mann handelte.«

»Verstehe. Wie ging das Gespräch weiter?«

»Ich fragte ihn, wer er sei. Er antwortete, das tue nichts zur Sache. Beschaffen Sie das Geld, sagte er, ich melde mich wieder. Dann legte er auf.«

Virginia stützte den Kopf in die Hände.

Dann sprachen die Männer über die Möglichkeit, dass sich ein Trittbrettfahrer an sie herangemacht hatte, der auf gut Glück die prominente Familie Quentin angerufen hatte.

»Aber Sie können nicht ausschließen, dass Kim tatsächlich entführt wurde«, sagte Virginia.

»Ausschließen können wir gar nichts im Moment«, erwiderte Baker.

»Wir stehen nicht im Telefonbuch«, sagte Frederic, »und unser Eintrag ist auch bei der Auskunft gesperrt. Woher hat dieser Typ unsere Nummer?«

»Von Kim!«, rief Virginia. Sie war erstaunt, wie schrill ihre Stimme klang. »Von Kim! Weil sie eben doch entführt worden ist!«

Baker, der ihr gegenüber auf dem Sofa saß, neigte sich ein Stück vor. »Mrs. Quentin, ich weiß, das ist leicht gesagt, aber verlieren Sie jetzt nicht die Nerven. Vielleicht ist Ihre Tochter wirklich entführt worden. Aber das würde zumindest bedeuten, dass sie nicht jenem Triebtäter in die Hände gefallen ist, nach dem wir mit Hochdruck fahnden. Denn dem geht es gewiss nicht um Geld.«

»Es ist ein Albtraum«, sagte Virginia leise, »es ist ein Albtraum. «

»Alles ist möglich«, sagte Baker, »es kann sich bei dem Anrufer sogar um einen Klassenkameraden Ihrer Tochter handeln. Oder um den großen Bruder oder die große Schwester eines Klassenkameraden. Da ist Ihre Nummer bestimmt bekannt, und am Ende haben sich ein paar Teenager einen schrecklichen und grausamen Scherz erlaubt.«

»Was tun Sie als Nächstes, Superintendent?«, fragte Frederic.

Baker ignorierte die Frage, schaute erneut Virginia an. »Wo waren Sie heute Mittag, Mrs. Quentin? Ihr Mann sagte vorhin, Sie seien kurz nach dem Anruf nach Hause gekommen?«

Sie strich sich die Haare aus der Stirn. »Ich war an Kims Schule. Ich kann gar nicht genau sagen, warum. Es war … Irgendwie wollte ich an den Ort, an dem sie zuletzt gesehen wurde. Und ich hatte das Gefühl, als ob …«

Sie sprach nicht weiter.

»Ja?«, fragte Baker. »Welches Gefühl hatten Sie?«

»Als ob sie nach mir ruft. Ich konnte das ganz deutlich hören.« Sie atmete tief. »Meine Tochter lebt, Superintendent«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich bin ganz sicher, dass sie lebt.«

»Davon gehen wir selbstverständlich ebenfalls aus«, stimmte ihr Baker zu, doch sie fragte sich, ob er tatsächlich so überzeugt war, wie er sich den Anschein gab.

Nach einem Augenblick, in dem sie alle schwiegen, fragte Frederic unvermittelt: »Wollten Sie nicht auch mit Nathan Moor sprechen, Superintendent?«

Baker nickte. »Ich bin noch nicht dazu gekommen.« Er wandte sich an Virginia. »Mr. Moor weiß natürlich, dass Ihre Tochter verschwunden ist«, sagte er.

»Natürlich. Aber was wollen Sie damit sagen?«

»Gar nichts«, meinte Baker, »es war lediglich eine Feststellung. «

»Wann werden Sie denn mit Moor sprechen?«, drängte Frederic.

»So bald wie möglich, Mr. Quentin, das kann ich Ihnen versichern. Ich hätte es bereits getan, es kam dann jedoch etwas dazwischen …«

Frederic sah ihn fragend an.

»Heute Mittag war ein achtjähriges Mädchen zusammen mit seiner Mutter bei mir«, erzählte Baker. »Die Kleine ist vor knapp zwei Wochen von einem Mann angesprochen worden, der – getreu dem Muster, das wir inzwischen zu kennen glauben – als Erfüller ihrer größten Wünsche aufgetreten ist. Es ist einem Zufall zu verdanken, dass sie bislang nicht in sein Auto gestiegen ist, und es ist ebenfalls ein Zufall, dass das Kind sich schließlich seiner Mutter anvertraut hat. Wegen des Gesprächs mit dem Mädchen musste ich die Befragung Mr. Moors verschieben.«

»Dann gibt es jetzt eine Beschreibung des Täters?«, fragte Frederic.

Baker wiegte bedauernd den Kopf. »Leider ist die nicht allzu präzise. Als ich vorhin fortging, wurde gerade versucht, eine Phantomzeichnung anzufertigen, aber das Mädchen ist so aufgeregt, und es ist ja auch schon etwas Zeit vergangen, seitdem es den Mann gesehen hat – die Angaben erscheinen mir ziemlich widersprüchlich und ungenau. Aber immerhin haben wir einen allerersten Ansatzpunkt.«

»Mit unserem Fall hat das jedoch nichts zu tun«, sagte Virginia.

»Ich vermute – nein«, sagte Baker.

»Was tun Sie als Nächstes? Was sollen wir tun?«, fragte Frederic, als Baker seinen Notizblock einsteckte und Anstalten machte, sich zu erheben.

»Ich spreche mit Moor, ich spreche mit den Lehrern und mit den Klassenkameraden«, sagte Baker, »und wir lassen die Suchmannschaften weitersuchen. Sie selbst können im Moment leider gar nicht viel machen – nur die Nerven bewahren. Und es sollte immer jemand daheim sein, falls sich der Anrufer wieder meldet. Wenn das geschieht, informieren Sie mich bitte sofort.«

»Selbstverständlich«, sagte Frederic. Er begleitete Baker und die anderen Beamten zur Tür. Virginia blieb in ihrem Stuhl sitzen, sie konnte noch immer nicht aufstehen.

Als Frederic zurückkehrte, suchte sie in seinem Gesicht nach einem Ausdruck, der ihr etwas über seine Gefühle verraten würde, aber seine Züge waren vollkommen verschlossen. Er schien nicht bereit, seine lähmende Angst um sein einziges Kind mit ihr zu teilen. Sie hatte ihn zu sehr verletzt. Auch die Tragödie, die sie nun zusammen erlitten, brachte ihn ihr nicht näher.

»Ich gehe nach oben«, sagte er, »ich möchte von dort mit der Bank telefonieren.«

»Wegen …«

»Wegen der hunderttausend Pfund. Man soll sie dort bereitstellen. Ich will das Geld hier haben. Ich will sofort bezahlen können, wenn der Erpresser sich wieder meldet.«

»Und wenn er sich nicht mehr meldet?«

»Dann hat Baker Recht, und es gibt ihn womöglich gar nicht. Dann ist Kim nicht entführt worden, sondern …«

»… sondern hat sich verlaufen«, beendete Virginia hastig den Satz.

»Sie wird wieder bei uns sein«, sagte Frederic und verließ das Zimmer.

Bei uns, hatte er gesagt, aber das uns war ein leerer Begriff, und vermutlich wusste er das auch. Es gab kein uns mehr.

Virginia stützte den Kopf in die Hände. Sie wollte weinen, aber sie hatte all ihre Tränen am Mittag in dem kleinen Park neben der Schule geweint.

Nun war sie vollkommen leer.

7

 

»Sie wissen natürlich nicht mehr, wer Ihnen geholfen hat, den Wagen wieder zum Laufen zu kriegen?«, fragte Superintendent Baker.

Nathan Moor hob bedauernd die Schultern. »Nein. Tut mir leid. Es war jemand, der neben mir parkte, zu seinem Wagen zurückkam und merkte, wie ich vergeblich versuchte, mein Auto anzulassen. Er bot an, mir mit seinem Starterkabel zu helfen, und das tat er dann auch. Namen und Adressen haben wir nicht ausgetauscht.«

»Das ist schade«, meinte Baker.

»Ich ahnte nicht, dass ich ein Alibi brauchen würde«, sagte Nathan.

Baker schüttelte den Kopf. »Sie brauchen kein Alibi, Mr. Moor. Aber alles, was die Aussage einer Person untermauern oder gar belegen kann, ist von Nutzen.«

Sie saßen in dem kleinen Frühstücksraum der Pension, in der Nathan wohnte. Drei Holztische mit jeweils vier Stühlen, Kakteen an den Fenstern, weiße Gardinen. Ein Ölgemälde an der Wand, das ein untergehendes Schiff in stürmischer See zeigte.

Wie passend, dachte Baker. War es nicht ein Schiffsuntergang gewesen, der Nathan Moor in das Leben der Familie Quentin hineinkatapultiert hatte?

Draußen wurde es dunkel. Der Septembertag neigte sich seinem Ende zu. Schwach konnte man noch die Dünen erkennen. Dahinter lag das Meer.

Ein schöner Platz zum Wohnen, dachte Baker.

Jenseits seines beruflich begründeten Interesses an Nathan Moor war er neugierig gewesen, zu sehen, welcher Mann es geschafft hatte, in die Ehe der Quentins einzubrechen. Schon bevor die kleine Kim Quentin verschwunden war, hatte Baker Frederic Quentin aus den Medien gekannt, er war häufig in den Zeitungen oder sogar im Fernsehen zu sehen gewesen. Ein gut aussehender, sehr gebildeter und kultivierter Mann, der noch dazu über großes gesellschaftliches Ansehen und einigen Reichtum verfügte. Ein Mann, wie Baker geglaubt hätte, von dem jede Frau träumte und den die Frau, die ihn für sich gewonnen hatte, nicht so leicht wieder hergeben würde. Nun aber schien Virginia Quentin drauf und dran, aus ihrer Beziehung auszubrechen.

Was, wie Baker etwas resigniert dachte, wieder einmal geeignet war, den Unterschied zwischen Sein und Schein deutlich werden zu lassen. Vielleicht hatte hinter der schönen Fassade der Quentins nichts gestimmt.

Nathan Moor war ein Mann, der es leicht hatte bei Frauen, das war Baker auf den ersten Blick klar gewesen. Er sah nicht nur gut aus, er verfügte zudem über eine Menge Charme, den er vermutlich recht gezielt einzusetzen wusste. Auch ging eine gewisse sexuelle Aggressivität von ihm aus, die Frauen sicherlich noch viel stärker wahrnahmen als er, der nüchterne männliche Kriminalbeamte.

Ein hohes Einfühlungsvermögen, ein intuitives Gespür für die Bedürfnisse und möglicherweise die Defizite seines Gegenübers und eine latent spürbare erotische Bereitschaft.

So hätte ihn Baker beschrieben, wenn er ihn in wenigen Worten hätte charakterisieren sollen. Wobei er wusste, dass er sich damit vollkommen an der Oberfläche bewegte. Nathan Moors Tiefen oder Untiefen hatte er damit natürlich nicht im Mindesten erfasst.

»Seit wann kennen Sie Mrs. Virginia Quentin?«, fragte er nun sachlich.

Moor überlegte nicht einen Moment. »Seit dem 19. August diesen Jahres. Seit nunmehr bald drei Wochen also.«

»Vorher haben Sie niemanden von der Familie gekannt?«

»Nicht persönlich. Aber während wir im Hafen von Portree auf Skye ankerten, hat meine Frau für die Quentins gearbeitet. Im Garten und im Haushalt geholfen. Daher waren sie mir auch vorher schon ein Begriff.«

»Kim Quentin kennen Sie ebenfalls seit dem 19. August?«

»Ja.«

»Wie steht das Kind zu Ihnen?«

»Ich glaube, sie mag mich. Wobei ihr im Moment wohl noch nicht klar ist …« Er sprach nicht weiter. Baker sah ihn aufmerksam an.

»Ja? Was ist Kim nicht klar?«

Moor lehnte sich nach vorn. »Superintendent Baker, ich bin nicht sicher, ob …«

Baker wusste, worauf er hinauswollte.

»Mr. Moor, es ist mir bekannt, dass Sie intime Beziehungen zu Mrs. Quentin unterhalten. Und dass Sie beide eine gemeinsame Zukunft planen. Es erscheint mir, wie auch den Eltern des Kindes, als eine recht wahrscheinliche Möglichkeit, dass das Verschwinden der Kleinen auf genau diesen Umstand zurückzuführen ist.«

»Dann wissen Sie Bescheid«, sagte Moor, »und ich kann offen reden.«

»Darum würde ich Sie dringend ersuchen«, entgegnete Baker.

»Um auf Ihre Frage nach dem Verhältnis Kims zu mir zurückzukommen«, sagte Moor, »so denke ich, dass Kim nichts von der Affäre zwischen mir und ihrer Mutter weiß. Insofern beeinträchtigt dies nicht ihre Sympathie für mich. Kim fühlt sich von Virginia vernachlässigt, und sie hat sicher den Eindruck einer diffusen Bedrohung, die sich in ihr Leben zu schleichen beginnt. Darum ist sie schon einmal weggelaufen. Und sicher ist es diesmal aus demselben Grund geschehen.«

Baker nickte. Im Geiste machte er sich eine Notiz: Moor hatte das Wort Affäre benutzt, als er über seine Beziehung zu Virginia Quentin sprach. Da er Ausländer war und sich in einer ihm fremden Sprache ausdrückte, mochten ihm gewisse Feinheiten nicht geläufig sein. Es bestand jedoch auch die Möglichkeit, dass die Geschichte mit Virginia für ihn nicht den gleichen Stellenwert besaß wie für sie. Es mochte für den Fall unerheblich sein, aber Baker war daran gewöhnt, sich derlei Details zu merken.

»Ich verstehe«, sagte er.

Er überlegte einen Moment und fuhr dann fort: »Als Sie merkten, dass Ihr Wagen nicht ansprang, dass Sie also Ihren Auftrag, Kim Quentin von der Schule abzuholen, nicht erfüllen konnten, was haben Sie da gemacht?«

»Ich war ja auf dem Strandparkplatz drüben in New Hunstanton«, erklärte Moor, »und da gibt es zum Glück noch eine gute, altmodische Telefonzelle. Ein Handy besitze ich nicht mehr. Das ist zusammen mit meinem Schiff untergegangen.«

»Sie telefonierten?«

»Ja. Zuerst versuchte ich ein paar Mal, Virginia zu erreichen. Aber sowohl bei ihr daheim als auch auf ihrem Handy sprang immer nur der Anrufbeantworter an. Sie hatte an diesem Nachmittag eine Aussprache mit ihrem Mann. Sie wollte nicht gestört werden.«

»Verstehe«, sagte Baker noch einmal.

»Ja, und dann fiel mir nur noch dieses Verwalterehepaar ein, wobei ich ziemlich lange überlegen musste, wie die eigentlich heißen. Walker. Jack und Grace Walker. Ich wusste, dass Jack Walker in Plymouth war und dass Grace die Grippe hatte, aber was blieb mir übrig? Über die Auskunft bekam ich die Nummer. Ich verständigte Grace. Dann ging ich wieder zu meinem Auto und versuchte weiterhin, es zum Anspringen zu bewegen.«

»Wie viel Uhr war es, als Ihr Wagen ansprang? Als Ihnen der fremde Herr mit dem Starterkabel geholfen hatte?«

»Ich schätze, das war kurz vor sechs«, meinte Nathan.

»Sie fuhren dann nicht mehr zu der Schule in King's Lynn?«

»Nein. Natürlich nicht. Ich wäre wohl erst gegen sieben Uhr dort gewesen. Ich hoffte einfach, dass alles geklappt hätte und dass Kim längst daheim sei.«

»Wann erfuhren Sie, dass dem nicht so war?«

»Ziemlich spät am Abend. Von hier aus rief ich noch einmal bei Virginia an. Es war bestimmt schon halb elf. Sie war völlig aufgelöst und zunächst ziemlich aggressiv. Sie gab mir die Schuld an Kims Verschwinden.«

»Hm.« Baker wechselte abrupt das Thema. »Wie lange werden Sie in England bleiben, Mr. Moor?«

»Ist das wichtig?«

»Ich frage nur.«

»Ich weiß es noch nicht. Ich habe noch keine Gelegenheit gehabt, mir über meine Zukunft klar zu werden.«

Drei Wochen, dachte Baker, seit sein Schiff untergegangen ist. Und er hatte noch keine Gelegenheit, sich über seine Zukunft klar zu werden?

Vielleicht war er sich aber durchaus klar geworden. Und hatte auch schon eifrig daran gebastelt, seine Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Er lebte im Augenblick offenbar auf Virginia Quentins Kosten. Er fuhr ihr Auto, und wahrscheinlich bezahlte sie auch seine Unterkunft in dem idyllischen Häuschen am Meer. Darüber hinaus war sie entschlossen, ihr Schicksal mit dem seinen zu verbinden. Kein schlechter Fang, den er da getätigt hatte.

Baker sagte sich jedoch auch, dass er vorsichtig sein musste, was Unterstellungen betraf. Langjährige Berufserfahrung hatte ihn gelehrt, dass die Dinge selten das waren, was sie zu sein schienen. Vielleicht liebte Nathan Moor Virginia Quentin wirklich. Die bloße Tatsache, dass ein Unfall ihn bettelarm gemacht hatte, musste nicht bedeuten, dass er mögliche Beziehungen nur unter dem Aspekt des Geldes sah. Man musste sich vor Klischees hüten. Häufig war alles etwas anders, als man dachte, und häufig war es vor allem ziemlich vielschichtig. Beinhaltete von diesem Aspekt ein wenig und von jenem auch.

Und möglicherweise hatte Nathans und Virginias Liebesgeschichte auch überhaupt nichts mit dem Verschwinden der kleinen Kim zu tun.

»Ihre Frau ist aber schon in Deutschland?«, hakte Baker noch einmal nach.

»Das weiß ich nicht genau. Sie ist jedenfalls abgereist, und ich vermute, dass sie versucht, nach Deutschland zu gelangen. Wo sie sich im Moment genau aufhält, kann ich Ihnen nicht sagen.«

Baker faltete seinen Zettel zusammen, schob ihn und seinen Kugelschreiber in die Innentasche seines Jacketts. Er stand auf.

»Das wäre erst einmal alles, Mr. Moor«, sagte er. »Ich muss Sie sicher nicht darauf hinweisen, dass Sie verpflichtet sind, mir alles zu sagen, was auch nur entfernt in einem Zusammenhang mit Kim Quentins Verschwinden stehen könnte. Also, wenn Ihnen noch etwas einfällt …«

»Dann wende ich mich selbstverständlich sofort an Sie«, sagte Nathan und erhob sich ebenfalls. Die beiden Männer verließen den Raum und gingen zur Haustür. Baker trat hinaus. Er atmete tief. Kam es ihm nur so vor, oder war es eine Tatsache, dass die Nacht stets alle Gerüche intensivierte? Die Mischung aus Salzwasser, Meereswind und süß duftenden Septemberrosen war einmalig schön.

Man sollte wirklich nicht in der Stadt wohnen, dachte er.

Als er in sein Auto stieg, hatte Nathan Moor bereits die Haustür wieder geschlossen. Nur die kleine Lampe am Gartenweg brannte, sonst war alles dunkel und still. Wie üblich fertigte Baker im Kopf eine kurze Zusammenfassung seiner Eindrücke an: Undurchsichtiger Typ. Verständlich das Unbehagen, mit dem Frederic Quentin von Anfang an auf ihn reagiert hat – unabhängig von der Tatsache, dass er womöglich seine Frau an ihn verliert. Moor ist intelligent, höflich, sehr von sich überzeugt. Er lässt niemanden hinter seine Fassade schauen.

Ist er ein Verbrecher?

Dafür wiederum, dachte Baker und startete seinen Wagen, gibt es nun auch wieder nicht den geringsten Anhaltspunkt.

Was den Fall Kim Quentin betraf, hatte ihm das Gespräch, zumindest vorläufig, überhaupt nichts gebracht.