Mittwoch, 30. August
1
Liz Alby fragte sich, ob es ein Fehler gewesen war, sich krankschreiben zu lassen. Der Arzt, der ihre Geschichte kannte, hatte ihr keinerlei Schwierigkeiten gemacht.
»Sie brauchen Zeit, dieses furchtbare Geschehen zu verarbeiten«, hatte er gesagt, »und ich denke, es ist in Ordnung, vorläufig nicht zur Arbeit zu gehen. Allerdings sollten Sie auch nicht zu viel daheim herumsitzen und grübeln. Sie brauchen professionellen Beistand.«
Er hatte ihr eine Liste mit Namen und Adressen von Therapeuten gegeben, die sich zum Teil auf die Betreuung von Verbrechensopfern und deren Angehörigen spezialisiert hatten, zum Teil auch auf die Arbeit mit Eltern, die ihre Kinder verloren hatten. Liz' Mutter hatte höhnisch gelacht, als Liz sagte, sie werde vielleicht in eine Therapie gehen.
»Zu den Quacksalbern willst du gehen? Die labern nichts als Scheiße, und hinterher wollen sie 'ne Menge Geld dafür haben! Echt, Liz, ich hätt' nicht gedacht, dass du so blöd bist!«
»Aber vielleicht kann man mir auch helfen, Mum. Ich träume immerzu von Sarah. Und ich kann«, ihr waren schon wieder die Tränen gekommen, »ich kann ständig nur denken, warum ich sie nicht auf das Karussell gelassen habe!«
Betsy Alby hatte theatralisch geseufzt. »Herrgott, hör doch endlich mit dem blöden Karussell auf! Glaubst du, sie wär' jetzt nicht tot, wenn sie drei Runden auf dem dämlichen Ding herumgejuckelt wäre?«
Ich weiß es nicht, hatte Liz antworten wollen, aber sie hatte nicht mehr sprechen können, weil die Tränen sich nicht länger hatten zurückhalten lassen. Sie musste immer weinen, wenn es um das Karussell ging. Darum, dass sie Sarahs letzten Wunsch nicht erfüllt hatte. Seltsamerweise warf sie sich das mehr vor als die Tatsache, zu dem Kiosk gelaufen und ihre Tochter so lange allein gelassen zu haben.
Sie fand keinen Trost bei ihrer Mutter, aber das hatte sie eigentlich auch nicht erwartet. Es war nicht so, dass die grausame Ermordung ihrer Enkelin spurlos an Betsy Alby vorübergegangen wäre. Aber die verbitterte Frau versuchte auf ihre Weise, damit fertigzuwerden: Sie trank noch mehr Alkohol, und der Fernseher lief nun fast rund um die Uhr. Manchmal wurde Liz um drei Uhr morgens wach und hörte, dass ihre Mutter immer noch oder schon wieder vor der Glotze saß. Das war früher nicht der Fall gewesen. Nachts zumindest hatte Betsy, leise schnarchend, tief und fest geschlafen.
Liz und ihre schreckliche Geschichte waren ausführlich durch die Presse gegangen, so dass sie eine gewisse Prominenz erlangt hatte und ohne Probleme bei zweien der Therapeuten auf ihrer Liste sofort einen Termin bekam. Die erste Praxis verließ sie jedoch geradezu fluchtartig, nachdem der Psychologe, ein sehr junger und idealistischer Mann, beharrlich auf ihrer, Liz', gestörten Vater-Beziehung herumritt, obwohl sich Liz an ihren Vater weder erinnern konnte noch den Eindruck hatte, ihre kurze Beziehung zu ihm sei es wert, analysiert zu werden. In der zweiten Praxis sollte sie sich auf ein Sofa setzen, den Therapeuten umklammern und so laut schreien, wie sie nur konnte. Sie hatte damit größte Schwierigkeiten, und der Therapeut schien das ziemlich bedenklich zu finden, aber Liz konnte nicht aus ihrer Haut heraus und hatte keine Lust, von nun an monatelang Woche für Woche den Urschrei zu üben und sich dabei an einem Mann festzuhalten, der säuerlich aus dem Mund roch und ständig unzufrieden mit ihr war.
Sie knüllte die Liste zusammen und warf sie in den Papierkorb.
Aber es trat ein, wovor der Arzt sie gewarnt hatte: Sie saß in der Wohnung und grübelte. Der Anblick ihrer Mutter reichte aus, um sie nachhaltig daran zu hindern, in ihrer Verzweiflung zum Alkohol zu greifen oder sich von der Dauerberieselung durch das Fernsehen verblöden zu lassen, aber es war auch nicht besser, den ganzen Tag aus dem Fenster zu starren und die Bilder aus Sarahs kurzem Leben an sich vorüberziehen zu lassen. Sarah als neugeborenes Baby, so warm und vertrauensvoll in den Arm ihrer ständig weinenden Mutter geschmiegt. Sarah, die ihre ersten wackeligen Schritte machte. Sarah, die ihre ersten Worte sprach. Sarah, die »Mummiiie!« brüllte, wenn sie auf dem Spielplatz beim Toben hinfiel. Und Mummie, die dann … ja, die eigentlich selten getröstet hatte. Die genervt gewesen war, geschimpft hatte. Die im Grunde jede Sekunde gehasst hatte, die ihr das Kind an Zeit für sich selbst gestohlen hatte. Und die dennoch nun begriff, dass es ein Band zwischen ihr und ihrer Tochter gegeben hatte, das stärker und inniger gewesen war, als sie geahnt hatte.
Sie fehlte ihr. Sarah fehlte ihr, in jedem Moment eines langen, langen Tages.
Könnte ich nur mit irgendjemandem sprechen, dachte Liz, einfach nur sprechen. Über das, was war, und über die vielen Fehler, die ich gemacht habe.
An diesem Morgen nun, an dem sie überlegte, ob sie nicht doch ihren Platz an der Kasse in der Drogerie wieder einnehmen und sich damit ablenken sollte, kam ihr noch ein anderer Einfall. Voller Entsetzen hatte sie am Vortag von der Ermordung der kleinen Rachel Cunningham aus King's Lynn gehört, jetzt am Morgen darüber in den Zeitungen, die sie sich gleich geholt hatte, gelesen. Für den heutigen Nachmittag war eine Pressekonferenz der Polizei angesetzt, aber schon jetzt spekulierte die Presse heftig über Parallelen zum Fall Sarah Alby.
Noch war nicht öffentlich geworden, ob es sich um ein Sexualdelikt handelte, aber die Journalisten schienen das bereits vorauszusetzen.
Wer ist das nächste Opfer?, lautete eine Schlagzeile, und ein anderes Blatt fragte: Sind unsere Kinder noch in Sicherheit?
Überall war das Foto der kleinen Rachel abgebildet. Ein hübsches kleines Mädchen mit langen Haaren und einem offenen Lächeln.
Rachels Mutter, dachte Liz, weiß genau, wie man sich fühlt. Wenn ich mit ihr reden könnte …
Der Gedanke fraß sich fest. Zwar wusste sie, dass es wohl zu früh war, Mrs. Cunningham, die knapp vierundzwanzig Stunden zuvor von der Ermordung ihrer Tochter erfahren hatte, zu kontaktieren, aber sie fürchtete, dass es später nicht mehr so einfach sein würde. Über die Cunninghams würde nun das geballte Medieninteresse hereinbrechen, und über kurz oder lang würde keiner von ihnen mehr ans Telefon gehen, oder sie würden sowieso eine neue Nummer beantragen.
Sie holte das Telefonbuch und verzog sich mit dem Apparat in das kleine Zimmer ihres toten Kindes. Betsy saß vor dem Fernseher und bekam sowieso nichts mit. Liz blätterte im Telefonbuch. Es gab etliche Cunninghams, aber sie wusste aus der Zeitung, dass Rachels Vater Robert hieß. Sie fand einen R. Cunningham und einen Cunningham, Robert und versuchte es bei letzterem. Ihre Hände waren eiskalt.
Ich kann jederzeit einfach auflegen, dachte sie.
Es läutete ziemlich lange, und Liz wollte schon aufgeben, da meldete sich eine Männerstimme.
»Hallo?« Es war eine leise Stimme, vorsichtig und zurückhaltend.
»Mr. Cunningham?«
»Wer ist da?«
»Hier spricht Liz Alby.« Sie wartete, ließ ihm Zeit zu begreifen, mit wem er redete.
»Oh«, sagte er schließlich, »Mrs. Alby …«
Sie nahm ihren Mut zusammen. »Ich spreche doch mit dem Vater von … von Rachel Cunningham?«
Sein Misstrauen war noch nicht besiegt. »Sie sind wirklich Liz Alby? Oder sind Sie von der Presse?«
»Nein, nein. Ich bin wirklich Liz Alby. Ich … wollte Ihnen sagen, wie … wie sehr ich mit Ihnen fühle. Es tut mir so leid um Ihre Tochter.«
»Danke«, sagte er.
»Ich weiß, was Sie empfinden. Das hilft Ihnen nicht, schon klar, aber ich wollte es Ihnen trotzdem sagen.«
Seine Stimme klang unendlich müde. »Es hilft schon, Mrs. Alby. Auf eine bestimmte Weise hilft es.«
»Man ist so fassungslos. Und man kann gar nichts Richtiges mehr tun. Mir geht es jedenfalls so. Ich kann den ganzen Tag über nichts tun.«
»Wir sind auch fassungslos«, sagte Robert Cunningham. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Meine Frau ist krank. Sie muss starke Beruhigungsmittel bekommen. Zeitweise ist sie kaum bei Bewusstsein.«
»Das ist schrecklich.« Liz dachte, dass sie sich das vielleicht auch wünschen würde. Manchmal das Bewusstsein zu verlieren. Es war gnädiger, als Therapeuten abzuklappern und Urschreie auszustoßen. »Ich wollte Ihnen noch sagen … also, falls Sie oder Ihre Frau einmal reden wollen … ich meine, mit jemandem, der das Gleiche erlebt hat … ich würde das jederzeit tun. Sie können mich immer anrufen.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mrs. Alby. Im Moment ist zumindest meine Frau absolut nicht in der Lage zu reden, aber vielleicht später …«
»Möchten Sie sich meine Nummer aufschreiben?«
»Ja. Gern.« Sie hörte ihn rascheln und kramen. »So«, sagte er, »diktieren Sie bitte.«
Sie gab ihm ihre Telefonnummer. Sie sagte ihm noch einmal, wie leid es ihr tat, was ihm zugestoßen war, und hatte den Eindruck, dass seine Stimme brach, als er sich verabschiedete.
Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, starrte sie den Apparat an. Die Cunninghams taten ihr ehrlich leid, aber wenigstens waren sie zu zweit. Sie konnten sich aneinander festhalten. Es war noch schlimmer, wenn man niemanden hatte. Nur eine versoffene Mutter und einen Exfreund, dem das gemeinsame Kind immer nur eine drohende Last gewesen war.
Es gab niemanden, der sie in die Arme nahm. Niemanden, an dessen Schulter sie weinen konnte.
Sie blieb sitzen und betrachtete weiterhin den schweigenden, stummen Telefonapparat, wünschte sich verzweifelt, er würde läuten, und wusste doch, dass er das höchstwahrscheinlich nicht tun würde.
Grau und endlos lag der Tag vor ihr. Grau und ebenso endlos scheinend ihr Leben.
2
Frederic Quentin kehrte am späten Nachmittag in seine Wohnung zurück. Er hatte den Vormittag in der Bank in Terminen mit etlichen wichtigen Kunden verbracht, hatte dann ein Mittagessen mit einem Abgeordneten gehabt und sich anschließend zu einem Vier-Augen-Gespräch mit einem führenden Mitglied der Konservativen Partei getroffen. Er war müde, aber es war alles zu seiner Zufriedenheit verlaufen. Überhaupt schien das Glück derzeit auf seiner Seite zu stehen. Was er auch anfasste, funktionierte, und was seine politischen Bestrebungen anging, kamen ihm immer neue, viel versprechende Menschen und Gelegenheiten entgegen. Er hatte das Gefühl, dass gerade jetzt alles stimmte. Er war mit den richtigen Absichten zu den richtigen Zeiten an den richtigen Orten und traf die richtigen Menschen. Er glaubte eigentlich nicht an schicksalhafte Bestimmungen, doch sollte es so etwas geben, dann schien im Augenblick alles und jeder um ihn herum zugunsten seiner, Frederic Quentins, Bestimmung zu agieren: der Bestimmung, seinen Norfolker Wahlkreis im Unterhaus zu vertreten.
Er sah auf seine Uhr, es war erst halb sechs, und er pflegte nie vor sechs Uhr alkoholische Getränke zu sich zu nehmen, aber er beschloss, am heutigen Tag eine Ausnahme zu machen. Schließlich hatte er etwas zu feiern. Denn so sehr das Glück ihm hold war, so hatte er doch fast nicht zu hoffen gewagt, dass es so weit gehen würde, ihm sogar Virginia nach London zu schicken. Seit sie ihm am gestrigen Morgen telefonisch mitgeteilt hatte, sie werde ihn zu der Party am Freitag begleiten, schwankte er zwischen Euphorie und der bohrenden Sorge, sie könnte es sich anders überlegen.
Er hatte sie am Dienstagabend wieder angerufen und auch heute früh. Er hatte sie nicht bedrängen, sich aber doch vergewissern wollen. Er hatte über das Wetter geredet, über Kim, ein bisschen über Politik. Das Thema Nathan Moor, sosehr es ihm auf der Seele brannte, hatte er ausgelassen, denn er hatte den Eindruck, dass ihn Virginia in diesem Punkt nicht verstand und dass sie sich von ihm in die Enge getrieben fühlte. Er fand es höchst befremdlich und irritierend, dass dieser seltsame Schiffbrüchige seit nunmehr fünf Tagen in Ferndale wohnte, allein mit Virginia, denn offenbar war auch Kim zwei Nächte lang fort gewesen, und die unglückliche Livia hatte man ins Krankenhaus gesteckt. Es war nicht so, dass er gefürchtet hätte, zwischen Nathan Moor und Virginia könnte sich etwas entwickeln, das seine Ehe bedrohte, denn er hatte ein tiefes und gefestigtes Vertrauen in Virginia, und es war absolut unvorstellbar für ihn, sie könnte aus dem Leben mit ihm und Kim ausbrechen. Aber er konnte den Kerl nicht ausstehen, er war ihm auf den ersten Blick zuwider gewesen. Er traute ihm nicht über den Weg, hatte sofort den Eindruck gehabt, ihm höchstens ein Drittel von allem, was er erzählte, abnehmen zu können. Und was nun geschah, schien ihm seine unguten Gefühle nur zu bestätigen. Der Typ klebte wie eine Zecke an Virginia. War ihr sogar nach Norfolk nachgereist, hatte offenbar irgendwie ihre Adresse herausgefunden und sich schon wieder bei ihr eingenistet. Ließ sich vermutlich von ihr bekochen und schnorrte jede Menge Geld. Erzählte ihr sonst etwas von seiner kranken Frau und hatte wahrscheinlich schon wieder jede Menge Ausreden parat, weshalb er keinesfalls nach Deutschland zurückkehren konnte.
Blieb die Frage, weshalb sich die intelligente Virginia derart ausnutzen ließ.
Er konnte sich nur vorstellen, dass sie innerlich einsamer war, als sie es je nach außen dringen ließ. Ferndale House in seiner Düsternis war einfach nicht der richtige Ort für eine junge Frau, deren Mann so häufig abwesend sein musste. Aber sie hatte es so haben wollen. Hatte erklärt, nur dort, nirgendwo sonst, leben zu können. Hatte ihn bekniet, mit ihr dorthin zu ziehen. Hatte behauptet, sich in das Haus auf den ersten Blick verliebt zu haben und gerade seine Düsternis so anziehend zu finden.
Was hätte er sagen sollen? Mit welcher Begründung hätte er ihr diesen Wunsch abschlagen sollen?
Und heute ist sie schon froh, wenn sich Schmarotzer bei ihr einnisten, dachte er, nur damit überhaupt jemand da ist.
Insofern konnte jedoch der Freitag ein guter Anfang sein. Wenn sie sich überwand und dann vielleicht doch Gefallen an Aktivitäten dieser Art fand, würde sie vielleicht in Zukunft öfter nach London kommen. Er meinte, dass das nur gut für sie sein konnte.
Sie hatten also am Telefon über dies und das gesprochen, und nur ganz am Ende hatte er jedesmal gesagt: »Ich freue mich so, dass du kommst!«
»Ich freue mich auch«, hatte sie erwidert. Es klang nie überzeugend, aber sie schien guten Willens zu sein, ein wenig Gefallen an dem bevorstehenden Ereignis zu finden.
Dann hatte sie ihm erzählt, dass ein weiteres Kind aus King's Lynn ermordet aufgefunden worden war.
»Das ist schon das zweite, Frederic! Ich frage mich wirklich, ob es gut ist, Kim gerade jetzt alleine zu lassen!«
Ihm war himmelangst geworden. »Virginia, so schrecklich es klingt, aber irgendwo werden immer Kinder umgebracht. Du könntest nie mehr fort, wenn es danach ginge.«
»Es werden nicht immer Kinder genau in unserer Region umgebracht.«
»Du weißt, wie sehr die Walkers unsere Kim mögen. Sie lassen sie bestimmt keinen Moment aus den Augen.«
»Aber sie sind nicht mehr die Jüngsten, und …«
»Aber Tattergreise sind sie auch nicht. Virginia, es ist für Kims Entwicklung nicht gut, wenn ihre Mutter wie ein Schatten an ihr klebt. Willst du einen unselbstständigen, völlig verschüchterten Menschen aus ihr machen, der irgendwann keinen Schritt mehr ohne seine Mum tun kann?«
Er hörte sie seufzen. »Ist es so unverständlich, dass ich mich sorge?«, fragte sie.
»Nein. Aber in diesem Fall sorgst du dich umsonst. Glaube mir.«
»Ich werde kommen, Frederic«, sagte sie leise, »ich habe es dir versprochen.«
Ihm hätte es gut getan, wenn sie ein wenig mehr Enthusiasmus gezeigt hätte, aber wie die Dinge lagen, musste er sich damit begnügen, dass sie wenigstens bereit war, ihm ein Opfer zu bringen.
Er schenkte sich einen Sherry ein und wanderte mit dem Glas in der Hand durch die Wohnung. Morgen um diese Zeit wäre Virginia schon hier. Sie würden gemeinsam auf dem Sofa sitzen, etwas trinken und überlegen, wo und wie sie den Abend verbringen wollten. Sie würde ihm hoffentlich berichten, dass sie Nathan Moor endlich zum Teufel geschickt hatte, und dann würde sie ein wunderschönes Kleid anziehen, und sie würden zum Essen, später zum Tanzen gehen. Er hatte sich den ganzen morgigen Abend freigehalten.
Er betrachtete das gerahmte Foto von ihrer Hochzeit, das in einem der Bücherregale stand. Er selbst strahlte vor Glück auf diesem Bild.
Virginia sah leicht melancholisch aus wie immer, hatte sich jedoch um ein Lächeln bemüht. Es war nicht so, dass sie unglücklich gewirkt hätte. Aber auch nicht so, als hätte die Tatsache, dass sie gerade den Mann geheiratet hatte, den sie liebte, sie für einen Tag zum glücklichsten Menschen gemacht. Virginia bei ihrer Hochzeit war dieselbe wie immer: nicht traurig, nicht fröhlich. Sondern auf eine eigentümliche Art unberührt von allem, was mit ihr passierte, was um sie herum geschah. In sich abgekapselt, nach innen gewandt. Schon oft hatte ihn diese Eigenart mit Besorgnis erfüllt, und doch war es dieser Zug ihres Wesens, der ihn von Anfang an so stark zu ihr hingezogen hatte. Das Stille, Nachdenkliche, Weitabgewandte … Wer ihn kannte, hätte ihn nie als einen schüchternen Mann eingeschätzt, aber er wusste, dass er es Frauen gegenüber war. Traten sie allzu laut, zu lebhaft, zu kokett oder gar sexuell aggressiv auf, zog er sich zurück, überrumpelt und verunsichert. Mit Virginia war das anders gewesen; sie war ihm wie die Antwort erschienen auf seine tiefsten Wünsche, die er an das Leben hatte. Schön, intelligent, gebildet, zurückhaltend, überschattet von einer Melancholie, die ihm das Gefühl gab, ihr Beschützer zu sein, die Kraft, die sie durch ihr Leben geleitete. Es waren altmodische Gefühle, die er mit einer Partnerschaft, einer Ehe verband, aber er fand nicht, dass sie deshalb nicht legitim gewesen wären.
Er war zu klug, um nicht zu wissen, dass alles seinen Preis hat. Bei Virginia bezahlte er ihre Sanftheit mit ihrer Angst vor der Welt, aus der möglicherweise ihre völlige Unfähigkeit, die perfekte Gattin eines aufstrebenden Politikers zu sein, resultierte. Er wusste, dass es sie unglücklich und angespannt sein ließ, ihn am Freitag zu dem Fest begleiten zu müssen. Sie tat es, weil sie ihn liebte.
Während er ihr Bild ansah, dachte er plötzlich voller Schuldgefühle, dass er sie möglicherweise zu sehr unter Druck gesetzt hatte.
»Ich will, dass es dir gut geht«, sagte er leise zu dem Bild, und diese Worte entsprangen seinem tiefsten und aufrichtigsten Wunsch. »Ich mag dich nicht zu etwas zwingen, was du überhaupt nicht willst!«
Ihr angestrengtes, aufgesetztes Lächeln sagte ihm plötzlich mit grausamer Deutlichkeit, dass es ihm nicht einmal am Tag ihrer Hochzeit gelungen war, sie glücklich zu machen.
3
Livia Moor begriff nicht, wo sie war, und für etliche Momente wusste sie nicht einmal, wer sie war und woran sie sich erinnern könnte. Alles war Nebel, war eine unwirkliche, grau wogende Masse, die sie umschloss, in der sie atmete und existierte, aber nicht wirklich lebte. Über sich sah sie eine schmuddelig weiße Zimmerdecke, neben sich Wände in dem gleichen unangenehmen Farbton. Sie lag auf dem Rücken in einem Bett, ihre Hände fingerten an einem dünnen Laken herum, das sie bedeckte. Der Geruch, der sie umgab, war ihr nicht vertraut, und sie mochte ihn auch nicht. Mühevoll versuchte sie zu ergründen, woraus er sich zusammensetzte. Bohnerwachs. Desinfektionsmittel. Verkochtes Essen.
Ich möchte hier nicht sein, dachte sie.
Dann wandte sie langsam den Kopf zur Seite. Sie sah einen Mann an ihrem Bett sitzen. Braungebrannt, dunkelhaarig. Er trug ein T-Shirt, das ihm zu eng war um die breiten Schultern.
Er musterte sie, kühl und emotionslos. Sie wusste plötzlich, dass es Nathan war, dass er ihr Mann war. »Ich bin Livia Moor«, sagte sie leise.
Er neigte sich nach vorn. »Die ersten Worte seit Tagen«, sagte er.
Livia nahm zwei Frauen wahr, die, in Morgenmäntel und Pantoffeln gekleidet, ein Stück hinter Nathan standen und ihn mit ihren Blicken förmlich verschlangen. Im Übrigen schienen sie entschlossen, sich kein Wort, keinen Moment von der sich vor ihnen abspielenden Szene entgehen zu lassen.
Ganz allmählich begann sich ihr Gehirn mit Bildern zu füllen: Nathan und sie. Ein Haus mit einem Garten. Menschen, die durch alle Räume zogen, sich die besten Stücke aussuchten. Dann das Schiff. Sie warf ihren Koffer über die Reling, hörte ihn auf dem Deck aufprallen. Sie balancierte hinterher, musste die Zähne zusammenbeißen, weil die Tränen in ihre Augen drängten. Nathan, der die Segel hisste. Der Wind spielte in seinen Haaren. Der Tag war klar und kühl. Die Wellen schwappten klatschend gegen die Bordwand.
Die Wellen. Das Meer.
Sie setzte sich ruckartig auf.
»Unser Schiff!« Ihre eigene Stimme kam ihr fremd vor. »Unser Schiff ist untergegangen!« Nathan nickte. »Oben vor den Hebriden.« »Wann?«
»Am siebzehnten August.«
»Welcher Tag ist heute?«
»Der dreißigste August.«
»Dann … ist das gerade erst passiert …«
Er nickte wieder. »Ziemlich genau vor zwei Wochen.«
»Wo bin ich?«, fragte sie.
»In einem Krankenhaus. In King's Lynn.«
»King's Lynn?«
»Norfolk. England.«
»Wir sind immer noch in England?«
»Du warst nicht transportfähig. Es war grauenhaft, dich überhaupt bis hierher zu bringen. Du warst kaum noch bei Bewusstsein. Streckenweise müssen die Menschen um uns herum gedacht haben, ich schleppe eine Halbtote mit mir herum.«
Eine Halbtote … Ihr Blick irrte in dem häßlichen Zimmer umher. Sie fing die frustrierten, feindseligen Blicke der beiden Frauen in den Morgenmänteln auf. Nathan und sie sprachen deutsch miteinander, vermutlich konnten die beiden kein Wort verstehen. Waren sie deshalb so verärgert?
»Was war los mit mir?«
Er lächelte sanft. Sie entsann sich dieses Lächelns. Es war das Lächeln, in das sie sich viele Jahre zuvor verliebt hatte. Inzwischen kannte sie es gut genug, um leise zu schaudern, wenn er es ihr schenkte.
»Du hast einen Schock erlitten, als das Schiff sank. Es hätte dich fast mit nach unten gezogen. Wir trieben die ganze Nacht auf der Rettungsinsel im Meer. Du bist seither nicht mehr dieselbe.«
Sie versuchte den Sinn seiner Worte zu erfassen. »Willst du sagen, ich bin … ich bin verrückt?«
»Du leidest unter den Nachwirkungen eines Schocks. Das ist nicht das Gleiche wie verrückt. Du hattest aufgehört zu essen und zu trinken. Du warst völlig dehydriert und hast wirres Zeug erzählt. Sie haben dich hier künstlich ernährt.«
Langsam ließ sie sich in das Kissen zurücksinken. »Ich will nach Hause, Nathan.«
Er lächelte abermals sanft. »Wir haben kein Zuhause mehr, Liebes.«
Er sagte das in dem gleichen Ton, in dem andere sagen würden: »Wir haben keine Butter mehr im Kühlschrank, Liebes.« Wie nebenhin, völlig harmlos. Als gebe es keine Tragödie, die hinter seinen Worten lag.
Sie versuchte, die ganze Grausamkeit in seinen Worten nicht zu sich durchdringen zu lassen. »Wo wohnst du?«, fragte sie.
»Bei den Quentins. Sie haben hier in der Nähe ein Haus und waren so freundlich, mir Unterkunft zu gewähren. Du erinnerst dich doch an die Quentins?«
Die Quentins fielen ihr tatsächlich erst in diesem Moment wieder ein. Ihr Verstand, ihr Gedächtnis arbeiteten noch immer sehr langsam.
»Virginia«, sagte sie mühsam, »ja, ich weiß. Virginia Quentin war sehr freundlich zu mir.«
Sie hatte ihr Wäsche und Kleidung gebracht und hatte sie in ihrem Ferienhaus wohnen lassen. Das gemütliche Häuschen mit dem gemauerten Kamin und den hölzernen Möbeln … Und dem großen Garten, über dessen flach gedrücktes, gelbliches Gras der Wind fegte … Livia konnte sich dort am Fenster stehen und über das Meer starren sehen. Dann riss plötzlich der Faden. Zwischen dem kleinen Fenster mit seinem herrlichen Blick und diesem scheußlichen Krankenhauszimmer lag keinerlei Erinnerung.
»Ich kann dort wohnen, bis es dir besser geht und du wieder reisefähig bist«, fuhr Nathan fort.
Livia bemühte sich, den bohrenden Blicken der beiden fremden Frauen auszuweichen. »Ich möchte nicht hier bleiben«, flüsterte sie, obwohl die beiden sie offensichtlich ohnehin nicht verstanden, »es ist furchtbar. Die beiden Frauen können mich nicht ausstehen.«
»Schatz, du bist seit etwa zehn Minuten zum ersten Mal seit fast einer Woche wieder bei vollem Bewusstsein. Du kennst die beiden Frauen überhaupt nicht. Wie willst du wissen, ob sie dich mögen oder nicht?«
»Ich kann das spüren.« Ihr stiegen die Tränen in die Augen. »Und es riecht hier so schrecklich. Bitte, Nathan, ich möchte nicht bleiben!«
Er nahm ihre Hand. »Der Arzt hat mir gerade gesagt, dass er dich frühestens am Freitag entlässt. Danach sollten wir uns schon richten.«
»Am Freitag … Welcher Tag ist heute?«
»Heute ist Mittwoch.«
» Übermorgen …«
»Das ist doch nicht mehr lange. Das kannst du aushalten.«
Sie hatte das Gefühl, es keine zehn Minuten mehr auszuhalten, aber sie konnte Nathans Unerbittlichkeit spüren. Wenn sie etwas ganz genau an ihm kannte, dann war es die stählerne Härte, die hinter seinem Lächeln lag. Nathan würde nicht hingehen und mit dem Arzt verhandeln und debattieren und seine Frau am Ende ein oder zwei Tage eher mitnehmen dürfen. Er würde sie so lange hier liegen lassen, wie es nur ging.
Und dann …
Hoffnungslos dachte sie, dass es kein und dann gab. Sie hatten kein Zuhause mehr. Alles, was sie noch besessen hatten, war das Schiff gewesen, und das lag auf dem Meeresgrund. Sie hatten kein Geld, sie hatten nichts.
Die Tränen quollen ihr nun aus den Augen, sie konnte sie nicht mehr zurückhalten. Sie wusste, dass er es hasste, wenn sie weinte, und er wäre nun sicher sehr barsch geworden, wenn sie allein gewesen wäre. So aber musste er sich zusammennehmen.
»Du leidest unter den Nachwirkungen eines schweren Schocks«, wiederholte er geduldig. »Ein Schock, der zudem noch viel zu spät diagnostiziert und behandelt wurde. Es ist klar, dass du dich jetzt sehr elend fühlst und das ganze Leben in düsteren Farben siehst. Das wird besser, glaube mir.«
»Aber«, ihre Stimme war nur ein Hauch, »wohin sollen wir gehen?«
»Wir können erst einmal bei den Quentins wohnen.« »Aber doch nicht ewig!«
»Nicht ewig, natürlich nicht.« Jetzt schwang Ungeduld in seiner Stimme. Er war verärgert. Er wollte über dieses Thema nicht sprechen. »Wir werden dann schon einen Weg finden.«
»Wie soll denn der Weg aussehen?«, fragte sie.
Er erhob sich. Er würde nicht länger mit ihr sprechen. Das Schlimme für sie war, dass er jederzeit gehen konnte. Sie musste hilflos zurückbleiben.
»Nathan, kannst du nicht noch ein bisschen …«
Er tätschelte ihre Hand. Die Geste war alles andere als liebevoll. »Schatz, ich habe mir das Auto von Virginia Quentin geliehen. Sie muss es wieder zurückhaben.«
»Ein paar Minuten nur. Bitte!«
»Außerdem stehe ich im Parkverbot. Wenn ich mich jetzt nicht beeile, riskiere ich einen Strafzettel, und für den …« Er lächelte wieder. Jungenhaft und charmant. Oh, sie wusste, wie Frauen dahinschmolzen unter diesem Lächeln! »Für den fehlt uns jetzt auf jeden Fall das Geld!«, vollendete er seinen Satz.
Sie fand das nicht komisch. Früher hätte sie sich trotzdem ein Lächeln abgerungen, um ihn zufriedenzustellen, jetzt fühlte sie sich zu krank und zu erschöpft.
»Kommst du morgen wieder?«, fragte sie.
»Klar. Und du schläfst jetzt noch ein bisschen, ja? Du musst deine Nerven schonen, und da ist genügend Schlaf sehr wichtig.«
Und Liebe, dachte sie, während sie ihm nachsah. Die Tränen liefen ihr immer noch über das Gesicht, und die beiden Weiber glotzten sie an.
Sie wandte sich ab, starrte wieder zur Decke.
Kein Zuhause, kein Zuhause, hämmerte es in ihrem Kopf, ein grausames, bösartiges Stakkato. Kein Zuhause, keinzuhausekeinzuhausekeinzuhause …
4
Janie hätte am liebsten den ganzen Tag nur geweint. Bis um fünf Uhr hatte sie sich am Montag in dem Schreibwarenladen herumgedrückt, und der fremde Mann hatte sich nicht blicken lassen. Sie war von dem Ladenbesitzer böse angefahren worden, weil sie die Einladungskarten angefasst hatte, dabei war sie ganz vorsichtig gewesen, hatte nichts kaputt gemacht und auch keine Fettflecken hinterlassen. Der Laden war voller Menschen gewesen, die Schutz vor dem Regen gesucht hatten. Es hatte wirklich in Strömen gegossen, und Janies ganze Hoffnung war, dass der Mann bei einem so scheußlichen Wetter einfach nicht hatte vor die Tür gehen wollen. Vielleicht hatte er auch geglaubt, sie, Janie, würde bestimmt nicht kommen. Aber natürlich konnte es auch sein, dass er sauer war, weil sie ihn in der Woche davor versetzt hatte. Schließlich wollte sie etwas von ihm, nicht umgekehrt.
Als sie gegen fünf Uhr noch immer vor den Karten gestanden und mit den Tränen gekämpft hatte, war dem Ladenbesitzer der Kragen geplatzt.
»Hör mal, mein Fräulein, mir reicht's jetzt«, sagte er gereizt. »Ich bin hier kein öffentlicher Wartesaal für Kinder, die nichts mit sich anzufangen wissen. Entweder du kaufst jetzt etwas, oder du verschwindest. Aber ein bisschen plötzlich!«
Sie hatte ihr ganzes Taschengeld mitgebracht. Da sie nicht viel bekam – und nicht regelmäßig, eigentlich nur dann, wenn Mum etwas übrig und zudem gute Laune hatte, und beides war selten der Fall –, besaß sie insgesamt nur ein knappes Pfund, und das reichte gerade für fünf Karten. Sie wollte aber mindestens fünfzehn Freunde einladen. Andererseits war es am Ende überhaupt Unsinn, auch nur eine einzige Karte zu kaufen, denn wie es aussah, ließ sich ihr Wohltäter ja nicht mehr blicken, und sie würde das Fest gar nicht feiern können. Bei dem Gedanken waren ihr schon wieder die Tränen in die Augen geschossen, und der Ladenbesitzer hatte ausgesehen, als werde er sie gleich höchstpersönlich hinaus in den Regen setzen. Ohne länger nachzudenken, hatte sie geflüstert: »Ich möchte fünf Karten, bitte!«
Zu Hause hatte sie die Karten ganz hinten in ihre Schreibtischschublade gelegt, aber sie musste sie immer wieder hervorholen und ansehen. Die Verlockung, die ihr der fremde Mann angeboten hatte, war zu groß, sie konnte die Hoffnung, ihr Traum würde sich erfüllen, noch nicht aufgeben. Sie war auch am Dienstag zu dem Laden gelaufen, denn vielleicht hatte es wirklich am Regen gelegen, dass der Mann nicht gekommen war, und er würde nun einen Tag später erscheinen, aber er ließ sich nicht blicken. Sie hatte diesmal vor dem Geschäft herumgelungert, denn nun hatte der Besitzer sie auf dem Kieker, und sie traute sich nicht wieder hinein. Zumal ohne einen einzigen Penny in der Tasche. Auch heute, an diesem Mittwoch, war sie wieder dort gewesen, aber wiederum vergeblich. Eigentlich konnte sie nur auf den nächsten Montag hoffen. Das war dann schon der vierte September. Knapp zwei Wochen später hatte sie bereits Geburtstag.
Selbst ihrer Mutter, die stets in ihre eigenen düsteren Gedanken versunken war, fiel beim Abendessen auf, dass mit ihrer Tochter etwas nicht stimmte.
»Was ist los?«, fragte sie. »Du siehst ja aus wie drei Tage Regenwetter!«
»Ich weiß auch nicht … ich …«
»Bist du krank?« Doris Brown legte ihre Hand auf Janies Stirn. »Fieber hast du nicht«, stellte sie fest.
Janie erschrak; Mum durfte auf keinen Fall glauben, sie sei krank, sonst durfte sie die Wohnung überhaupt nicht mehr verlassen.
»Nein, mir geht's gut«, behauptete sie, »ich bin nur traurig, weil die Ferien nächste Woche vorbei sind.«
»Na, du hast doch jetzt wirklich lange genug herumgegammelt! Es wird Zeit, dass du wieder arbeitest. Sonst kommst du noch auf dumme Ideen!«
»Hm«, machte Janie. Sie kaute auf ihrem Sandwich herum. Mum machte gute Sandwiches, mit Schinken, Gewürzgurken und Mayonnaise, und für gewöhnlich aß Janie sie besonders gern. Aber an diesem Tag war ihr völlig der Appetit vergangen. Sie überlegte, ob sie einen Vorstoß wagen sollte.
»Ich habe ja bald Geburtstag«, sagte sie.
»Ich weiß«, sagte Doris, »und wenn du jetzt mit irgendwelchen überspannten Wünschen kommst, muss ich dir leider gleich sagen: Schlag sie dir aus dem Kopf! Das Geld reicht mal wieder vorn und hinten nicht.«
»Oh – ich habe eigentlich gar keinen Wunsch!«, erwiderte Janie hastig.
Ihre Mutter zog die Augenbrauen hoch. »Das wäre aber mal etwas ganz Neues!«
»Na ja, einen einzigen Wunsch hätte ich schon, aber es ist nicht direkt ein Geschenk … also, keines, das du im Laden kaufen kannst.«
»Da bin ich aber gespannt.«
»Ich würde so gern eine Party feiern, Mum. Meine Freunde einladen und …«
Ihre Mutter ließ sie nicht aussprechen. »Schon wieder! Das Thema hatten wir doch erst letztes Jahr. Und das Jahr davor auch!«
»Ich weiß, aber … Mein Geburtstag ist dieses Jahr an einem Sonntag. Du müsstest dir nicht freinehmen oder so … und wir könnten am Samstagnachmittag, wenn du zu Hause bist, alles vorbereiten, und …«
»Und du meinst, dieses Geschenk kostet kein Geld? Wenn du jede Menge Kinder einlädst und ich sie durchfüttern muss?«
»Wir könnten den Kuchen doch selber backen.«
»Janie!« Doris legte für eine Sekunde den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Janie sah die feinen blauen Adern unter der weißen Haut an Mums Schläfe pochen. Über dem Ohr zogen sich graue Strähnen durch ihre blonden Haare, obwohl Mum noch ziemlich jung war. Sie sah so müde und abgekämpft aus, dass es Janie plötzlich ganz klar wurde: Es nützte nichts. Sie konnte bitten und betteln so viel sie wollte. Mum würde es nicht erlauben. Mum hatte vielleicht wirklich nicht die Kraft dafür.
Doris öffnete die Augen wieder und sah ihre kleine Tochter an. Sie wirkte plötzlich viel weniger gereizt und ungeduldig als sonst. Sie hatte fast etwas Weiches an sich.
»Janie, es tut mir leid, aber ich schaffe das nicht«, sagte sie leise. »Es tut mir wirklich leid. Dein Geburtstag ist ein ganz besonderer Tag, auch für mich. Aber ich schaffe es nicht. Ich bin zu müde.«
Sie sah so traurig und erschöpft aus, dass sich Janie zu versichern beeilte: »Das macht nichts, Mummie. Ehrlich, es ist nicht so schlimm.«
Doris wandte sich wieder ihrem Sandwich zu. Das Gespräch war nicht zu Janies Gunsten verlaufen, und dennoch schöpfte sie Hoffnung. Mum hatte so traurig ausgesehen, dass Janie den Eindruck hatte, sie litt wirklich darunter, ihrer Tochter deren sehnsüchtigen Wunsch nicht erfüllen zu können. Und das wiederum bedeutete, dass sie vielleicht nichts dagegen haben würde, wenn Janie die Party im Garten des fremden Mannes feierte. Sie konnte damit ihr Kind glücklich machen, ohne auf Kräfte zurückgreifen zu müssen, die sie nicht hatte.
Wichtig war es jetzt umso mehr, den geheimnisvollen Fremden wiederzufinden.
Den ganzen Abend über zerbrach sich Janie den Kopf, wie sie es anstellen konnte, ihn noch einmal zu treffen.