Freitag, 8. September
1
Der Friedhof war schwarz von Menschen.
Rachel Cunningham muss sehr beliebt gewesen sein, dachte Janie. Sie fragte sich, ob wohl auch so viele Leute gekommen wären, wenn man sie beerdigt hätte. Ihre Schulklasse bestimmt. Und ihre Lehrer. Vielleicht auch ein paar Nachbarn.
Aber niemals so viele Menschen!
Sie und ihre Mutter standen ganz weit hinten, so dass Janie weder Rachels Eltern und ihre Schwester sah, noch mitbekam, was unmittelbar am Grab passierte. Sie war froh darum. Sie mochte den Sarg nicht sehen und schon gar nicht miterleben, wie er in die Erde gesenkt wurde.
Am Vorabend war Stella noch einmal bei ihnen in der Wohnung erschienen, hatte ihr ein Foto von einem Mann gezeigt und gefragt, ob das vielleicht der nette Herr aus dem Zeitschriftenladen sei. Janie hatte sofort verneint und den Eindruck gehabt, Stella schon wieder zu enttäuschen. Das erschien ihr als das Schrecklichste an der ganzen Geschichte: Immerzu erwarteten die Erwachsenen etwas von ihr, und nie konnte sie sie zufrieden stellen. Sie hörte, wie Doris leise fragte: »Haben Sie den verhaftet?«
Und wie Stella ebenso leise antwortete: »Möglicherweise geht es dabei um eine ganz andere Geschichte.«
Janie wünschte, sie hätte ihn erkannt. Dann hätte sie heute vielleicht nicht auf den Friedhof gemusst. Im Augenblick wäre sie sogar lieber in der Schule. Alles wäre besser, als hier inmitten eines Albtraums zu stehen und sogar eine der Hauptrollen darin zu spielen.
Stella war auch da. Sie war schwarz gekleidet wie alle Menschen hier und stand ein paar Schritte von Janie und Doris entfernt. Sie hatte gesagt, Janie solle sich gründlich umschauen, ob sie vielleicht den Mann aus dem Zeitschriftenladen wiedererkannte, und dann solle sie dies Stella möglichst unauffällig sagen.
Janie schaute und schaute, aber sie konnte ihn nirgends entdecken. Eigentlich war sie darüber ganz froh, denn sie mochte ihn gar nicht wiedersehen. Andererseits wusste sie, dass Stella sich freuen würde, wenn sie ihn plötzlich aus der Menge herausfischte. Janie seufzte tief. Wann würde das alles endlich vorbei sein?
Stella zwinkerte ihr aufmunternd zu. Wenigstens eine, die nicht weinte. Fast allen Leuten ringsum liefen die Tränen über das Gesicht, sie hielten Taschentücher in den Händen oder wischten sich mit den Fingern immer wieder an den Augen entlang. Auch Mummie hatte ein paar Mal leise geschluchzt. Dabei kannte sie das tote Kind doch gar nicht.
Die Menschen gingen alle nacheinander zu dem Grab und warfen Blumen hinein oder legten Kränze ab. Doris und Janie blieben jedoch, wo sie waren.
»Ich möchte Janie nicht überfordern«, sagte Doris zu Stella, und Stella nickte. »Okay.«
Langsam bewegten sich alle zum Ausgang des Friedhofs. Viele blieben auch noch in Gruppen zusammen stehen, unterhielten sich mit gedämpften Stimmen. Eine bleierne Schwere lastete über den Menschen, dem Ort.
»Mum, können wir jetzt bitte gehen?«, flüsterte Janie.
»Du hast ihn wohl nirgends gesehen?«, fragte Stella.
»Nein. Aber vielleicht …« Janie zuckte hilflos mit den Schultern. »Es sind so furchtbar viele Leute hier!«
»Der Kerl wird sich doch denken, dass heute die Polizei da ist«, meinte Doris.
Stella nickte. »Aber der Typ ist krank«, erinnerte sie, »und irgendwann vergisst er jede Vorsicht. Im Übrigen vermutet er wahrscheinlich nicht, dass wir Kontakt zu Janie haben. Und sie ist im Grunde die Einzige, die ihm gefährlich werden kann.«
»Können wir gehen?«, fragte Doris.
»Ich denke, ja«, antwortete Stella.
Langsam schoben sie sich in Richtung Ausgang. Es war nicht einfach, in der dichten Menschenmenge voranzukommen. Janie entdeckte einen der Männer, die sie auch auf dem Polizeirevier kennen gelernt hatte –wie hieß er noch gleich? Baker. Er stand mit einem Mann und zwei Frauen zusammen. Der Mann trug einen schwarzen Anzug und sah aus wie ein Lord – Janie hatte Bilder von Lords in den Illustrierten gesehen, die Doris manchmal las –, und die eine Frau hatte eine wilde, dunkle Haarmähne, trug einen ziemlich kurzen Rock und war sehr dünn. Die andere Frau sah so blass aus, als müsste sie jeden Moment umfallen. Janie wusste das, weil ihre Mummie einmal umgefallen war, und da hatte sie kurz vorher genau die gleiche Gesichtsfarbe gehabt.
Stella trat an die kleine Gruppe heran, und Baker fragte: »Nichts?«
Stella schüttelte den Kopf.
»Bei uns auch nicht«, sagte Baker.
»Ich weiß ja leider nicht einmal genau, nach wem ich eigentlich Ausschau halten soll«, meinte die dünne Frau mit dem kurzen Rock.
Baker machte die Erwachsenen miteinander bekannt. »Mrs. Alby.« Das war die Dünne. »Mr. und Mrs. Quentin.« Das waren der Lord und die Frau, die gleich ohnmächtig werden würde. »Mrs. Brown.« Das war Mummie. Jetzt wies Baker auf sie, Janie. »Das ist Janie Brown.«
Mrs. Quentin neigte sich zu ihr und gab ihr die Hand. »Hallo, Janie!«
»Hallo«, erwiderte Janie. Sie hatte nie einen Menschen mit traurigeren Augen gesehen als diese Frau. Ihre Lider waren dick geschwollen. Sie musste heute schon viel geweint haben.
»Tja«, sagte Superintendent Baker, »dann kann ich mich nur bedanken, dass Sie hierher gekommen sind. Ich weiß, dass ich Ihrer aller Nerven sehr damit strapaziert habe. Aber es war eine Chance. Eine geringe natürlich, zugegebenermaßen.«
»Es war doch selbstverständlich, Superintendent«, sagte Mr. Quentin, den Janie insgeheim nur den Lord nannte.
Die Menschen strömten jetzt an ihnen vorbei durch das breite Friedhofstor auf die Straße. Janie versuchte, jedem Einzelnen ins Gesicht zu blicken, was angesichts der großen Menge nicht einfach war. Sie hätte ihn so gern gefunden, so gern. Weil Stella so nett war, aber auch weil sie Mummie so viel Kummer gemacht hatte in den letzten Wochen. Ihretwegen ging Mum nun schon den zweiten Tag nicht zur Arbeit und würde bestimmt Ärger bekommen. Es hätte sie erleichtert, etwas von all dem wieder gutmachen zu können.
Sie fing ein anerkennendes Lächeln von Stella auf. Die Beamtin hatte registriert, dass sie noch nicht abgeschaltet hatte, sondern sich weiterhin Mühe gab. Ihr Lächeln war ein Lob, das Janie sehr freute.
Die letzten Menschen verließen den Friedhof.
»So«, meinte Baker, »das war's dann.«
Die Gruppe wandte sich zum Gehen.
»Schöner Mist«, sagte die Dünne mit dem kurzen Rock, und Janie fragte sich, was genau sie wohl damit meinte. Die Tatsache, dass sie den fremden Mann nicht gesehen hatten? Oder den Umstand, dass überhaupt solche Dinge passierten – dass Kinder entführt und getötet wurden und man sich am Ende auf einem Friedhof wiederfand, wo alle weinten und man schreckliche, beklemmende Gefühle bekam?
Und warum muss ich ein Teil davon sein?, fragte sich Janie verzweifelt. Warum konnte mein Leben nicht ganz normal weitergehen?
Sie hatte das bedrohliche Gefühl, dass ihr Leben nun nie wieder ganz normal sein würde. Sie hätte nicht zu erklären gewusst, weshalb sie das glaubte, aber die Angst war einfach da. Und mehr als Angst: eigentlich eine Gewissheit. Es hing mit Rachel Cunninghams Sarg zusammen.
Sie hatte begriffen, wie dicht daran sie gewesen war, selbst in solch einem Sarg zu liegen.
Wann immer sie bisher Mummie nach dem Tod und dem Sterben gefragt hatte, war die Antwort gewesen: »Das hat noch lange Zeit! Erst wenn du ganz alt bist, musst du darüber nachdenken.«
Sie hatte das als sehr beruhigend empfunden. Etwas, das so weit weg war, fühlte sich nicht gefährlich an. Aber von jetzt an würde sie nie mehr denken können, dass der Tod in unüberschaubarer Ferne stand. Jetzt war er auf einmal ganz nah an sie herangekommen. Die anderen Kinder konnten weiterhin so tun, als gebe es den Tod gar nicht. Sie nicht.
Vielleicht bin ich jetzt gar kein richtiges Kind mehr, dachte sie, und ein seltsamer Schauer ging durch ihren Körper.
Sie standen jetzt draußen. Überall stiegen die Trauernden in ihre Autos. Es herrschte ein undurchdringliches Gewirr von Wagen, die sich langsam aus Parklücken herausschoben und in Richtung Straße rollten. Für den Moment entstand ein richtiges Verkehrschaos, aber anders als es gewöhnlich in solchen Situationen der Fall war, gab es niemanden, der lautstark seine Ungeduld gezeigt oder gar gehupt und geschimpft hätte. Weder quietschten Bremsen noch heulten Motoren. Alles war seltsam lautlos.
Weil es so traurig ist, dachte Janie, und das Gefühl der Trauer legte sich schwer und bleiern über sie.
»Ich darf mich dann verabschieden«, sagte Baker. Zuerst gab er Mrs. Quentin, der traurigen Frau mit den verweinten Augen, die Hand und fügte hinzu: »Ich melde mich nachher noch bei Ihnen.«
Mrs. Quentin nickte. Ihre Trostlosigkeit war herzzerreißend.
»Auf Wiedersehen«, sagte Doris mit jenem nervösen Klang in der Stimme, der Janie stets verriet, dass ihre Mutter dringend eine Zigarette brauchte. Sie würde eine aus ihrer Tasche kramen, kaum dass sie zehn Schritte vom Friedhofstor entfernt wären.
Jetzt lass uns gehen, bettelte sie stumm und wich hastig dem todtraurigen Blick Mrs. Quentins aus. Und da sah sie ihn.
Sie hatte überhaupt nicht mehr damit gerechnet und war so fassungslos, dass sie zunächst nicht fähig war, irgendetwas zu sagen oder zu tun. Sie starrte nur und starrte und hatte dabei den Eindruck, dass ihr Gehirn nicht verarbeiten wollte, was ihre Augen erblickten.
Es war eine Täuschung. Es konnte nur eine Täuschung sein.
»Auf Wiedersehen, Janie«, sagte Baker.
Sie erwiderte nichts.
»Nun gib dem Superintendent schon die Hand«, mahnte Doris ungeduldig. Dann schien ihr etwas aufzufallen, denn sie fragte: »Was ist denn los? Kannst du nicht mehr reden und dich bewegen?«
»Da ist er«, flüsterte Janie. Sie hatte einen großen Ballen Watte im Mund, und ihr Hals war völlig ausgetrocknet. Es gelang ihr einfach nicht, lauter zu sprechen.
Außer ihrer Mutter hatte offenbar niemand sie verstanden.
»Was?«, fragte Doris.
»Da ist er«, wiederholte Janie, »da ist der Mann.«
»Du lieber Himmel«, sagte Doris, »wo denn?«
»Was hast du gesagt?«, fragte Stella.
»Sie sieht den fremden Mann«, erklärte Doris, und plötzlich ging ein Ruck durch die ganze Gruppe. Janie bemerkte, dass Superintendent Bakers Gesicht auf einmal ganz dicht vor ihrem war. »Den Mann, der dich angesprochen hat? Er ist hier? Wo?«
»Dort.« Sie wies in die Richtung, wo sie ihn sah. Es wimmelte von Menschen.
»Welcher?«, fragte Stella wieder. Sie hatte einen völlig veränderten Gesichtsausdruck. Janie fragte sich plötzlich, ob sie wohl eine Pistole hatte, diese ziehen und den Mann hier vor aller Augen erschießen würde.
»Dort«, wiederholte sie, »dort drüben. Neben dem großen, schwarzen Auto.«
Endlich blickten alle Erwachsenen in die richtige Richtung.
»Jack?«, flüsterte Mrs. Quentin entgeistert. »Du meinst doch nicht Jack? Jack Walker?«
Im selben Moment sagte die Dünne mit dem kurzen Rock: »Das ist der Mann, der mir meine Tasche aufgehoben hat! In Hunstanton. Damals.«
Und dann stürmten auch schon Superintendent Baker und Stella los, und ohne dass Janie hätte sagen können, woher, tauchten plötzlich zahlreiche uniformierte Polizisten auf. Wo hatten die vorher gesteckt?
Janie schrie auf, drehte sich um und drückte das Gesicht gegen den Bauch ihrer Mutter, vergrub sich in dem dünnen Baumwollstoff des schwarzen T-Shirts, das Doris trug. Sie hatte entsetzliche Angst, sehen zu müssen, wie der Mann erschossen wurde. Erschossen, weil sie auf ihn gezeigt hatte.
»Was ist denn? Was ist denn?«, hörte sie Doris wie aus weiter Ferne fragen.
»Nicht schießen«, presste sie hervor.
»Sie schießen nicht«, sagte Doris. Ihre Hand strich über das Haar ihrer Tochter. »Sie schießen nicht, keine Angst. Sie verhaften ihn. Sie verhaften ihn doch nur.«
Janie begann haltlos zu weinen.
2
Es war eine jener Situationen, in denen Superintendent Baker sich tief im Innern wünschte, bestimmte Praktiken aus früheren Zeiten, da man die Folter zum Erzwingen von Geständnissen eingesetzt hatte, wären auch heute noch erlaubt.
Natürlich hätte er das niemals laut gesagt. Er wagte nicht einmal, so etwas wirklich zu denken. Eher handelte es sich um bestimmte Impulse, die sich untergründig in ihm abspielten und denen er nachdrücklich verbot, sich allzu weit hervorzuwagen.
Er und Stella waren seit nunmehr drei Stunden damit beschäftigt, Jack Walker zu verhören.
Ein sympathischer älterer Mann. Er erschien zuverlässig, hilfsbereit und nett.
Ein Mann, dachte Baker, dem ich meine Kinder wahrscheinlich ohne jeden Vorbehalt anvertraut hätte.
Janie war sich absolut sicher gewesen. Jack Walker war der Mann, der sie im Zeitschriftenladen angesprochen hatte und mit zu sich nach Hause hatte nehmen wollen. Auch Liz Alby hatte ihn zweifelsfrei als einen Mann erkannt, der am fraglichen Tag in Hunstanton und zudem noch dicht hinter ihr und Sarah gewesen war. Baker hatte innerhalb einer Stunde einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss in den Händen gehalten, der seine Beamten zum Durchsuchen von Jack Walkers Haus berechtigte. Sie hatten nichts Aufsehenerregendes gefunden, hatten aber Walkers Computer beschlagnahmt. Zur Zeit bemühten sich Spezialisten um den Zugang. Baker war fast sicher, dass sie auf Kinderpornografie stoßen würden.
Jack Walker, der die Quentins zum Friedhof gefahren hatte und später wieder erschienen war, um sie abzuholen, da Frederic Quentin in Sorge wegen des Parkplatzmangels gewesen war, stritt alles ab.
Er kenne keine Janie Brown. Er habe nie ein Mädchen in einem Zeitschriftenladen angesprochen und ihm das Veranstalten einer Kinderparty in Aussicht gestellt. Er sei überhaupt in diesem betreffenden Geschäft nie gewesen.
Baker hatte sich drohend vorgeneigt. »Nein? Dann müssen Sie eine Gegenüberstellung mit dem Inhaber des Ladens nicht fürchten, oder? Er könnte ja bestätigen, Sie nie gesehen zu haben!«
Walker war zum ersten Mal eingeknickt. Beschwören könne er es nicht, dort nie gewesen zu sein. Natürlich kaufe er sich auch Zeitungen und Zeitschriften, mal hier, mal dort. Vielleicht auch in jenem Geschäft. Er habe nicht gewusst, dass das verboten sei.
»Wo waren Sie am Montag, den siebten August?«, fragte Baker.
Walker überlegte, hob dann in einer hilflosen Geste beide Arme. »Das weiß ich wirklich nicht mehr. Am siebten August? Meine Güte, wissen Sie noch, was Sie am siebten August getan haben?«
»Um uns geht es hier nicht!«, betonte Stella mit scharfer Stimme.
»Ich will Ihnen ein wenig auf die Sprünge helfen«, sagte Baker. »Der siebte August war ein heißer, sonniger Tag, und ich denke, Sie beschlossen, ihn am Meer zu verbringen. Entweder mit dem Auto oder mit dem Bus fuhren Sie nach Hunstanton hinaus. Ich unterstelle Ihnen nicht, dass Sie irgendetwas Böses im Schilde führten. Wahrscheinlich wollten Sie wirklich nur schwimmen oder einfach in der Sonne liegen.«
»Nein. Ich war seit vielen Jahren nicht mehr in Hunstanton!«
»Am Busparkplatz dort wurden Sie Zeuge einer hitzigen Kontroverse zwischen einer jungen Frau und deren vierjähriger Tochter. Das kleine Mädchen bettelte um eine Karussellfahrt, schrie und tobte, als es diese nicht bewilligt bekam. Es sträubte sich so dagegen, mit der Mutter weiterzugehen, dass dieser schließlich die Tasche herunterfiel. Sie hoben sie ihr auf. Die junge Frau hat sich heute eindeutig an Ihr Gesicht erinnert.«
»Aus einer nur Sekunden dauernden Begegnung glaubt sie mehr als vier Wochen später mein Gesicht zu kennen? Ist das alles, worauf Sie Ihre Beschuldigungen gegen mich gründen, Superintendent? Auf die Behauptung eines kleinen Mädchens, das zweifellos von Ihren Leuten unter Druck gesetzt wurde, einen ominösen fremden Mann wiederentdecken zu müssen, und auf das zweifelhafte Erinnerungsvermögen einer Asozialen, die sich wichtig machen möchte? Deswegen halten Sie mich hier fest und reden seit Stunden auf mich ein?«
»Wissen Sie«, sagte Stella, »wir haben eine Speichelprobe von Ihnen, und in wenigen Stunden werden wir Sie anhand der DNA-Analyse überführt haben. Sowohl bei Sarah Alby als auch bei Rachel Cunningham haben wir genügend Spuren gefunden. Sie kommen aus dieser Geschichte nicht mehr heraus, Mr. Walker. Ein Geständnis zum jetzigen Zeitpunkt kann Ihre Lage nur verbessern und würde später vom Richter positiv bewertet. Vielleicht möchten Sie jetzt doch einen Anwalt hinzuziehen? Er würde Ihnen mit Sicherheit das Gleiche sagen.«
»Ich brauche keinen Anwalt«, sagte Jack Walker störrisch, »denn ich habe nichts verbrochen.«
»Warum haben Sie Rachel Cunningham ausgewählt?«, fragte Baker. »Zufall? Oder war sie Ihr Typ?«
»Ich kenne keine Rachel Cunningham.«
»Was haben Sie Sarah Alby versprochen, wenn sie mit Ihnen kommt? Eine Karussellfahrt?«
»Sarah …? Ich kenne keine Sarah.«
»Wo ist Kim Quentin? Was haben Sie mit Kim Quentin gemacht?«
Zum ersten Mal war ein Flackern in Jack Walkers Augen. »Kim? Ich könnte Kim niemals etwas antun! Nie!«
»Aber den anderen Kindern? Sarah Alby und Rachel Cunningham?«
»Die kenne ich nicht.«
»Wo waren Sie am Sonntag, den siebenundzwanzigsten August?«
»Das weiß ich nicht.«
»Gehen Sie nicht an jedem Sonntagvormittag zu einem Stammtisch?«
Wieder war da ein Flackern in Walkers Augen. »Ja.«
»Dann müssten Sie auch am siebenundzwanzigsten August dort gewesen sein.«
»Wahrscheinlich. Ich weiß es nicht genau. Ich gehe nicht jeden Sonntag dorthin.«
»Nein? Eben sagten Sie noch, Sie tun es jeden Sonntag!«
»Sie sagten das.«
»Sie bestätigten es.«
»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen«, sagte Walker. Er hatte ein paar Schweißtropfen auf der Stirn. Um die Quentins am Friedhof abzuholen, hatte er sich sehr korrekt gekleidet, trug einen Anzug und eine Krawatte. Für einen Spätsommertag war er viel zu warm angezogen. Baker nahm an, dass er gern seine Krawatte gelockert hätte, sich aber nicht traute, und es fiel ihm nicht im Traum ein, ihn dazu aufzufordern.
»Worauf ich hinauswill, Mr. Walker? Ich will darauf hinaus, dass Sie zugeben, am Vormittag des siebenundzwanzigsten August die kleine Rachel Cunningham in das abgelegene Gebiet am Chapman's Close gelockt zu haben, wo sie dann in Ihr Auto stieg, von Ihnen irgendwohin verschleppt, dort missbraucht und anschließend getötet wurde. In Sandringham haben Sie die Leiche später abgelegt.«
Baker hatte deutlich gesehen, dass Walker bei der Erwähnung des Chapman's Close zusammengezuckt war. Er hatte offenbar nicht damit gerechnet, dass die Polizei diesen Treffpunkt kannte.
»Sie haben Rachel Cunningham am Sonntag, den sechsten August, zum ersten Mal angesprochen. Vor der Kirche in Gaywood. Ich bin überzeugt, dass sich, wenn wir mit Ihrem Bild an die Öffentlichkeit gehen, Menschen finden werden, die sich erinnern, Sie dort herumlungern gesehen zu haben.«
Walker schwieg. Er schwitzte jetzt heftiger.
Baker, der bis dahin gestanden hatte, zog einen Stuhl heran und setzte sich Jack Walker gegenüber an den Tisch. Er neigte sich vor, sah dem älteren Mann in die Augen. Seine zuvor schneidende Stimme nahm einen weicheren Klang an.
»Mr. Walker, wir vermissen ein Kind. Ein siebenjähriges Mädchen. Kim Quentin. Wir haben bislang keine Leiche gefunden, obwohl Polizeitrupps und Spürhunde praktisch ohne Unterbrechung die ganze Gegend um King's Lynn herum absuchen. Vielleicht bedeutet das, dass Kim Quentin noch am Leben ist. Und vielleicht wissen Sie, wo sie sich aufhält. Wenn Sie darüber schweigen, wird sie sterben. Verhungern. Verdursten. Wissen Sie, Walker«, er sprach jetzt sehr leise, »wir kriegen Sie. Sie stehen schon jetzt mit beiden Füßen im Knast, und Sie wissen das auch. Sie mögen denken, dass es in Ihrer Lage egal ist, ob noch ein Kind draufgeht oder nicht. Aber da täuschen Sie sich. Wenn sich herausstellt, dass Kim Quentin zu retten gewesen wäre und dass sie qualvoll sterben musste, weil Sie das Maul nicht aufgemacht haben, dann hat das nicht nur Konsequenzen für das Strafmaß, das Ihnen zugedacht wird. Es wird sich auch auf die Behandlung auswirken, die Sie später im Gefängnis zu erwarten haben. Ich spreche nicht vom dortigen Personal. Ich spreche von Ihren Mitinsassen.« Er machte eine Pause. Walker drehte an seiner Krawatte. Sein Gesicht glänzte.
»Es gibt Hierarchien im Knast«, fuhr Baker fort, »und die werden peinlich genau eingehalten. Verbrechen an Kindern rangieren ganz unten. Typen, die sich an Kindern vergehen, sind so verhasst, wie Sie sich das wahrscheinlich kaum vorstellen können. Man wird Sie diesen Hass spüren lassen, Walker. Und ich versichere Ihnen, es wird eine Rolle spielen, ob Sie im letzten Moment noch das Leben eines Kindes gerettet haben. Ich kann Ihnen schwören, dass Sie es Tag und Nacht bereuen werden, wenn Sie es nicht tun. Tag und Nacht. Jahr um Jahr. Was Sie erwartet, Walker, ist die Hölle. So oder so. Aber auch die Hölle hat ihre verschiedenen Etagen. Ich an Ihrer Stelle würde versuchen, mich so weit oben wie möglich anzusiedeln.« Er lehnte sich wieder zurück. »Nur ein guter Rat von mir, Walker.«
Walker sprach mit stockender Stimme. »Ich … habe nichts getan.«
»Wo ist Kim Quentin?«, fragte Stella. »Das weiß ich nicht.«
»Am Mittwoch, den sechsten September«, sagte Baker, »vorgestern also, befanden Sie sich auf der Rückfahrt von Plymouth. Sie hatten eine Lieferfahrt dorthin gemacht.«
»Es gibt jede Menge Menschen, die das bezeugen können«, sagte Walker erregt. »Ich kann Ihnen allein in Plymouth mehrere Personen nennen …«
Baker hob die Hand. »Sparen Sie sich das. Ihren Trip nach Plymouth haben die Kollegen bereits überprüft. Kein Zweifel, Sie waren dort. Wir wissen aber auch, wann Sie am Mittwoch früh aufbrachen. Sie sind seltsam spät daheim angekommen.«
»Hätte ich rasen sollen wie ein Verrückter? Ich geriet in einige Staus und …«
»Einen wirklich dramatischen Stau gab es am Mittwoch auf der Strecke nicht. Kein Unfall, nichts. Sie aber waren eine halbe Ewigkeit unterwegs.«
»Ich geriet in den Berufsverkehr. Liebe Güte, Sie müssen doch wissen, wie das ist! Man zockelt in einer endlosen Schlange von Autos dahin …« Walker hob hilflos die Arme. »Wird es mir nun zum Verhängnis, dass ich zu lange für den Weg von Plymouth nach King's Lynn gebraucht habe? Dass ich zwischendurch auf einen Parkplatz fuhr und eine oder auch zwei Stunden schlief? Ich war todmüde. Ich versuchte, mich verantwortungsvoll zu verhalten. Ich wollte nicht am Steuer einnicken. Aber offenbar war das ein Fehler. Ich wollte alles richtig machen und habe mich damit ins Verhängnis manövriert.« Seine Stimme hatte einen wehleidigen Klang angenommen.
»Ich sage Ihnen, was ich vermute«, entgegnete Baker, ohne sich die Mühe zu machen, seine Verachtung für das Selbstmitleid seines Gegenübers zu verbergen. »Ich vermute, dass Sie, als Ihre Frau Sie anrief und fragte, ob Sie Kim Quentin von der Schule abholen könnten, schon viel näher an King's Lynn waren, als Sie zugaben. Sie müssten bereits den Stadtrand erreicht gehabt haben. Sie behaupteten jedoch, es auf keinen Fall zur rechten Zeit schaffen zu können. Doch dann überlegten Sie es sich anders. Möglicherweise war es Ihnen sogar schon klar, als Sie Ihre Frau anschwindelten. Sie fuhren geradewegs zu Kims Schule.«
»Nein«, sagte Walker. Er zupfte erneut an seiner Krawatte.
»Sie waren viel eher dort, als das Ihrer Frau von Ferndale aus, noch dazu in ihrem kranken und fiebrigen Zustand, gelingen konnte. Kim stand vor dem Schultor und wartete. Es gibt mehrere Zeugen, die das bestätigen können. Sie hatten leichtes Spiel. Kim kennt Sie und vertraut Ihnen. Sie wunderte sich kein bisschen, dass Sie kamen, um sie abzuholen. Ohne zu zögern, stieg sie in Ihr Auto.«
»Das ist doch absurd«, knurrte Walker. Sein Gesicht war nun stark gerötet. Er lockerte endlich seine Krawatte.
Bakers Stimme wurde sehr leise. Aus den Augenwinkeln konnte er erkennen, dass sich auch Stella anstrengen musste, ihn zu verstehen. »Und was geschah dann, Mr. Walker? Sie saßen in Ihrem Auto. Neben Ihnen dieses kleine Mädchen. Sie fuhren einen Lastwagen. Der hat keinen Rücksitz. Sie konnten Kim nicht nach hinten setzen. Hätte Ihnen die Distanz geholfen? So saß sie gleich neben Ihnen. Sie war nass vom Regen. Verstärkte dies den Geruch ihrer Haut? Ihrer Haare? Sie plapperte. Sie lachte. Was geschah da mit Ihnen, Jack? Sie haben diese Sehnsucht in sich, nicht wahr? Diese Sehnsucht nach kleinen Mädchen. Nach diesen zarten Körpern, den weichen Haaren. Nach dieser Unschuld, die doch schon unverkennbar weiblich ist. Sie saßen da in Ihrem Lastwagen, und auf einmal …«
»Nein!«, sagte Jack scharf. Mit einem plötzlichen, heftigen Ruck zerrte er sich die Krawatte vom Hals.
»Nein!«, schrie er. »Nein! Nicht Kim! Ich habe Kim nicht angerührt! Ich schwöre es bei Gott! Ich habe Kim nicht angerührt! Nein!«
Und dann warf er sich nach vorn über den Tisch, barg das Gesicht in den Händen. Seine breiten Schultern bebten. Jack Walker weinte wie ein kleines Kind.